Thomas Lehr
Gebundenes Buch
Schlafende Sonne
Roman. Ausgezeichnet mit dem Bremer Literaturpreis 2017 und nominiert für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017
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Rudolf Zacharias reist nach Berlin. Dort will der Dokumentarfilmer die Vernissage seiner früheren Studentin Milena Sonntag besuchen. Thomas Lehrs Roman spielt an einem Sommertag des Jahres 2011 - und zugleich in einem ganzen Jahrhundert. Denn in ihrer Ausstellung zieht Milena nicht nur eine künstlerische Lebensbilanz, sondern die ihrer Zeit. Mit sprachlicher Kraft werden historische Katastrophen neben die privaten Verwicklungen dreier Menschen gestellt, führen die Spuren von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bis ins heutige Berlin. Thomas Lehr entwickelt ein überwältigendes Fresko...
Rudolf Zacharias reist nach Berlin. Dort will der Dokumentarfilmer die Vernissage seiner früheren Studentin Milena Sonntag besuchen. Thomas Lehrs Roman spielt an einem Sommertag des Jahres 2011 - und zugleich in einem ganzen Jahrhundert. Denn in ihrer Ausstellung zieht Milena nicht nur eine künstlerische Lebensbilanz, sondern die ihrer Zeit. Mit sprachlicher Kraft werden historische Katastrophen neben die privaten Verwicklungen dreier Menschen gestellt, führen die Spuren von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bis ins heutige Berlin. Thomas Lehr entwickelt ein überwältigendes Fresko dieses deutschen Jahrhunderts: tragisch, komisch, grotesk, und immer wieder ganz persönlich und intim.
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Thomas Lehr, 1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen u.a. Größenwahn passt in die kleinste Hütte (Kurze Prozesse, 2012), die Novelle Frühling (2019) sowie die Romane September. Fata Morgana (2010), 42 (2013), Zweiwasser (2014), Nabokovs Katze (2016), Schlafende Sonne (2017), Die Erhörung (2021) und Manfred – Bekenntnisse eines Außerirdischen (2023). Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Spycher-Literaturpreis sowie dem Kranichsteiner Literaturpreis.
Produktdetails
- Verlag: Hanser
- Artikelnr. des Verlages: 505/25647
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 640
- Erscheinungstermin: 16. August 2017
- Deutsch
- Abmessung: 217mm x 149mm x 43mm
- Gewicht: 790g
- ISBN-13: 9783446256477
- ISBN-10: 3446256474
- Artikelnr.: 48012368
Herstellerkennzeichnung
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In der Erbse zittert das Nichts
Der Roman als Erkenntnisinstrument: Thomas Lehr erzählt in "Schlafende Sonne" Bilder einer Ausstellung und überschreitet die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Lebenswelt.
Der Physiker C. P. Snow hat 1959 in einem epochemachenden Aufsatz die letztlich nicht mehr aufhebbare Trennung von naturwissenschaftlich-technischer und geisteswissenschaftlich-literarischer Kultur konstatiert. Zwar könne eine Begegnung dieser Kulturen höchst produktiv sein, sie käme aber nicht zustande, weil es keine gemeinsame Sprache mehr gebe. Einen amüsanten Kommentar zu der seitdem anhaltenden Diskussion lieferte 1994 "Sokals Hoax". Dem Physiker Alan Sokal war es gelungen, einen Aufsatz zur "Hermeneutik
Der Roman als Erkenntnisinstrument: Thomas Lehr erzählt in "Schlafende Sonne" Bilder einer Ausstellung und überschreitet die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Lebenswelt.
Der Physiker C. P. Snow hat 1959 in einem epochemachenden Aufsatz die letztlich nicht mehr aufhebbare Trennung von naturwissenschaftlich-technischer und geisteswissenschaftlich-literarischer Kultur konstatiert. Zwar könne eine Begegnung dieser Kulturen höchst produktiv sein, sie käme aber nicht zustande, weil es keine gemeinsame Sprache mehr gebe. Einen amüsanten Kommentar zu der seitdem anhaltenden Diskussion lieferte 1994 "Sokals Hoax". Dem Physiker Alan Sokal war es gelungen, einen Aufsatz zur "Hermeneutik
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der Quantengravitation" in eine jurierte Fachzeitschrift einzuschmuggeln, in dem er als Invektive gegen die postmodernen französischen Denker vorführte, wie man in der Vermischung von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Begrifflichkeit imposanten Unsinn produziert.
Die sich vertiefende Kluft zwischen Literatur und Wissenschaft ging allerdings von vornherein, jedenfalls seit Francis Bacon, in die Dialektik der Aufklärung ein. Einerseits sollte allen Menschen das Weltwissen zugänglich sein, andererseits entzog sich der Fortschritt der Wissenschaft in rasantem Tempo der Sichtbarkeit und damit dem Vorstellungsvermögen der meisten Menschen, womit das Irrationale und Okkulte, der ganze Hokuspokus der Volksverdummung durch die Hintertür der Wissenschaft selbst zurückkehrte.
Dagegen waren sich Goethe und die Romantiker einig in der Wiedervereinigung von Kunst und Wissenschaft in diskursiver Geselligkeit, in der die Vielfalt und Buntheit der Welt vor Augen kommen sollte, ohne die mühsam errungene Vernunft preiszugeben. Die wissenschaftliche Theorie sollte der Anschauung nichts entziehen. Ohne wahnhafte Züge ging das nicht. Da konnte Novalis auf den verwegenen Gedanken eines Romans des Weltalls verfallen. Auch das Universum spreche zum Menschen, wenn er ihm das Gehör nur nicht verweigere.
Thomas Lehrs neuer Roman "Schlafende Sonne" lässt sich als zeitgemäße Fortsetzung der "Progressiven Universalpoesie" der Romantiker lesen, mit allem kosmisch Übersteigerten des gelegentlich nicht nur romantisch, sondern auch surrealistisch inspirierten unzensierten Einfalls, das von je dazugehörte. Mit der fröhlichen Wissenschaft der Postmoderne aber hat Lehr nichts zu verhandeln. Mit Goethe hätte sein Roman auch den Untertitel "Die Taten und Leiden des Lichts" tragen können. Die Motivik des (Sonnen-)Lichts als Urquelle aller schöpferischen Potenz und universale Metapher des Denkens durchzieht die Erzählung von Anfang bis Ende. Bei Lehr ist der Roman ein Erkenntnisinstrument, das die Abstraktionen der Wissenschaft und die Trennungen der Ausdifferenzierungen in Kunst und Wissenschaft in der Moderne aufheben und in die Lebenswelt mit all ihren Trivialitäten zurückversetzen will, ohne die Schwierigkeiten populistisch unter den erkenntnistheoretischen Teppich zu kehren.
Dabei wird freilich die Baconsche Dialektik mitgeschleppt bis hinein in die geschilderten persönlichen Beziehungen. Der Physiker Jonas, der, in seine Tabellen vertieft, weit draußen bei seinen Monster-Sonnen weilt, braucht einen Anker im Irdischen und findet ihn vorübergehend in der Göttinger Buchhändlerin Marlies. In seinem Kopf aber toben Vorstellungen und Abstraktionen: "Verknotete Diagramme, Berechnungs- und Programmierprobleme, Theorie und Praxis der adaptiven Optik, bei der die Lichtwellenamplituden in Echtzeit von den Turbulenzeffekten der Atmosphäre gesäubert werden mussten".
Dergleichen stellt den naturwissenschaftlich unterbelichteten Leser vor die Frage, wie er lesen will oder soll. Soll er je nachschlagen, wovon die Rede ist, was genau es mit dem Higgs-Feld auf sich hat, warum gemäß Olbers Paradox der Himmel nicht hell erleuchtet ist, was die Gaußsche Krümmung besagt und so fort, oder soll er es metaphorisch, als Chiffren der Bewusstseinstätigkeit einer Person zur Kenntnis nehmen? Das ist umso mehr die Frage, als der Leser gelegentlich argwöhnt, von Lehr veräppelt zu werden, wenn persönliche Beziehungen nebst zahlreichen Sexszenen kosmisch aufgedonnert werden. "Es gibt kein regelrechtes Nichts. Also auch kein Nichts vor dem Urknall unserer Begegnung, Jonas. Was ich nicht alles von Dir gelernt habe! Irgendwie zittert das Nichts wie ein ungeheurer Wahnsinn in einer Erbse, und aus dem Quantenschaum der Frühe fluktuieren die merkwürdigsten Geschöpfe hervor." Da soll sich wohl Heidegger im Grabe herumdrehen. In der Erzählung der Begegnungen mit diesen Geschöpfen, unzähligen Nebenfiguren, die je aus verschiedenen Perspektiven geschildert werden, aber auch im Übermaß gelehrter Anspielungen, wird sich der Leser nicht selten verirren. Da hilft keine Hermeneutik der Quantenphysik.
Zum Glück gibt es einen raumzeitlichen Attraktor in dem Roman, auf den alle einzelnen Episoden zulaufen. Ähnlich wie in Joyces "Ulysses" spielt die Handlung in vierundzwanzig Stunden, genauer am 19. August 2011. An dem Tag wird in Berlin unter dem Titel des Romans die Retrospektive der 1970 in der DDR geborenen, inzwischen weltberühmten Künstlerin Milena Sonntag eröffnet. Die Ausstellung bilanziert nicht nur ihre Entwicklung, sondern auch die der deutschen Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts, was sie in der Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Biennale fortsetzen soll. Ihre Exponate werden in "Boxen" präsentiert, deren Öffnung je die Episoden der Erzählung anzieht. Zu der Ausstellung in Berlin reist auch Milenas ehemaliger Lehrer und Liebhaber, der Kulturwissenschaftler Rudolf Zacharias, aus Japan an. Ihm ist wegen zu vieler schlauer Bemerkungen das Fegefeuer bestimmt. Und natürlich kommt auch ihr Mann, der Solarphysiker Jonas, obwohl sie gerade die eheliche Wohnung verlassen hat, nachdem Jonas die Überforderung des Familienlebens mit einer Affäre kompensierte.
Lehr erzählt die Lebensgeschichten der drei Personen und ihre Begegnungen von den Freuden und Schmerzen der Jugend über die Studienzeit in Göttingen und Freiburg nicht als je kontinuierliche Geschichten, sondern, Goethes "Wanderjahren" ähnlich, als "Roman des Nebeneinander", der sich zu einem umfassenden Bild der Zeit fügen soll.
Die Darstellung der Personen folgt einem von Husserls Phänomenologie inspirierten Prinzip der Anschauung, das die ihre Erfahrung realisierenden Subjekte in ihrem Mitsein zeigt. Das Subjekt soll nicht als einsames Individuum noch als bloßer physikalischer Körper erscheinen, sondern als "ein fühlender, geistig aktiver, eine halbe Unendlichkeit einschließender Leib". Solche Phänomenologie öffnet das Fenster der Monade, ermöglicht Einfühlung und gibt den Blick frei auf die Leibhaftigkeit der anderen, die sich in der Sexualität sinnlich bestätigt. Selbst in den Früchten der Erde kann sich der Mensch erblicken, wenngleich nicht immer im Ernst. "Tomaten sind treulos und platzen vor Eitelkeit."
Der Leib des Menschen, zumal der weibliche, wird im phänomenologischen Blick Lehrs lesbar wie ein Buch. In der Häufigkeit der Schilderung sexueller Begegnungen erscheint das Begehren des anderen Leibs als eine Wirkmacht von kosmischer bildproduzierender Dimension der Nähe wie der notwendigen Distanz oder Diskrepanz. Die bildlichen Verknüpfungen und überraschenden Analogiebildungen sind dabei oft erheiternd. So müssen zwei nach dem Sex als einer Reinigung noch "einige Minuten still nebeneinander ruhen und warten, bis das blütenduftende, schaumig knisternde Badewasser des postorgiastischen Zustands abgeflossen war, um sich dann mit einigen fehlplatzierten Sätzen ins Befremden zu frottieren".
Lehrs Methode des Sichtbarmachens löst virtuell die Grenzen zwischen Menschen wie Kulturen auf. Kunst, Wissenschaft, Technik und Politik, die Angleichung der inneren und der äußeren Welt, die der Mensch ständig vollzieht, werden in ihren Ursprung in der Lebenswelt zurückversetzt. Da geht das Intime und Private wie selbstverständlich in die Weltgeschichte über.
Das ergibt eine große metapherngesättigte Hymne auf die Kreativität und Entwicklungsfähigkeit im Guten wie im Bösen, die das Staunen lehrt über das unentwegte Spektakel der Sichtbarkeit, dem der Mensch den Sinn geben kann. Als Urbild aller Kreativität aber erscheint der Körper der Frau, "die gewaltigste Maschine, die mächtigste und die wichtigste, seit Jahrtausenden imstande, Menschenwesen zu fabrizieren, Millionen und Milliarden." Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst als ewiges Wunder der Fortzeugung.
Die Figur, in der das Chaos bewältigt und verständlich werden kann, ist in Lehrs Roman nicht der Kreis, die Wiederkehr des Gleichen, sondern die Spirale als eines der ältesten Symbole der Unendlichkeit des Möglichen. Sich in der Mitte einer Spirale zu imaginieren bedeutet als Aufgeben zwanghafter Kontrolle den Entschluss zum Leben, zu der freien Entscheidung, sich in dieser Welt heimisch zu fühlen trotz aller irdischen Widerwärtigkeiten wie der beängstigenden Unermesslichkeit des Alls. Produktive Galaxien weisen die Form der Spirale auf, sie ist als Kodifizierung der scheinbar widersprüchlichen menschlichen Begehrungen des Menschen auch als Strukturprinzip von Lehrs Schreibart zu begreifen.
Das ist leichter gesagt als getan bei diesem gewaltigen Epos der menschlichen Kreativität, das ja noch zwei ebenso gewichtige Fortsetzungen finden soll. Zwar ist "Schlafende Sonne" über weite Strecken durchaus vergnüglich und unterhaltsam, doch wird auch der sehr gebildete Leser bei Lehrs Überschreitungen der Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft immer wieder an die Grenzen seiner "cerebralen Software" stoßen und das Buch nicht selten erschöpft für eine Weile aus der Hand legen.
FRIEDMAR APEL
Thomas Lehr: "Schlafende Sonne". Roman.
Hanser Verlag, München 2017. 640 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die sich vertiefende Kluft zwischen Literatur und Wissenschaft ging allerdings von vornherein, jedenfalls seit Francis Bacon, in die Dialektik der Aufklärung ein. Einerseits sollte allen Menschen das Weltwissen zugänglich sein, andererseits entzog sich der Fortschritt der Wissenschaft in rasantem Tempo der Sichtbarkeit und damit dem Vorstellungsvermögen der meisten Menschen, womit das Irrationale und Okkulte, der ganze Hokuspokus der Volksverdummung durch die Hintertür der Wissenschaft selbst zurückkehrte.
Dagegen waren sich Goethe und die Romantiker einig in der Wiedervereinigung von Kunst und Wissenschaft in diskursiver Geselligkeit, in der die Vielfalt und Buntheit der Welt vor Augen kommen sollte, ohne die mühsam errungene Vernunft preiszugeben. Die wissenschaftliche Theorie sollte der Anschauung nichts entziehen. Ohne wahnhafte Züge ging das nicht. Da konnte Novalis auf den verwegenen Gedanken eines Romans des Weltalls verfallen. Auch das Universum spreche zum Menschen, wenn er ihm das Gehör nur nicht verweigere.
Thomas Lehrs neuer Roman "Schlafende Sonne" lässt sich als zeitgemäße Fortsetzung der "Progressiven Universalpoesie" der Romantiker lesen, mit allem kosmisch Übersteigerten des gelegentlich nicht nur romantisch, sondern auch surrealistisch inspirierten unzensierten Einfalls, das von je dazugehörte. Mit der fröhlichen Wissenschaft der Postmoderne aber hat Lehr nichts zu verhandeln. Mit Goethe hätte sein Roman auch den Untertitel "Die Taten und Leiden des Lichts" tragen können. Die Motivik des (Sonnen-)Lichts als Urquelle aller schöpferischen Potenz und universale Metapher des Denkens durchzieht die Erzählung von Anfang bis Ende. Bei Lehr ist der Roman ein Erkenntnisinstrument, das die Abstraktionen der Wissenschaft und die Trennungen der Ausdifferenzierungen in Kunst und Wissenschaft in der Moderne aufheben und in die Lebenswelt mit all ihren Trivialitäten zurückversetzen will, ohne die Schwierigkeiten populistisch unter den erkenntnistheoretischen Teppich zu kehren.
Dabei wird freilich die Baconsche Dialektik mitgeschleppt bis hinein in die geschilderten persönlichen Beziehungen. Der Physiker Jonas, der, in seine Tabellen vertieft, weit draußen bei seinen Monster-Sonnen weilt, braucht einen Anker im Irdischen und findet ihn vorübergehend in der Göttinger Buchhändlerin Marlies. In seinem Kopf aber toben Vorstellungen und Abstraktionen: "Verknotete Diagramme, Berechnungs- und Programmierprobleme, Theorie und Praxis der adaptiven Optik, bei der die Lichtwellenamplituden in Echtzeit von den Turbulenzeffekten der Atmosphäre gesäubert werden mussten".
Dergleichen stellt den naturwissenschaftlich unterbelichteten Leser vor die Frage, wie er lesen will oder soll. Soll er je nachschlagen, wovon die Rede ist, was genau es mit dem Higgs-Feld auf sich hat, warum gemäß Olbers Paradox der Himmel nicht hell erleuchtet ist, was die Gaußsche Krümmung besagt und so fort, oder soll er es metaphorisch, als Chiffren der Bewusstseinstätigkeit einer Person zur Kenntnis nehmen? Das ist umso mehr die Frage, als der Leser gelegentlich argwöhnt, von Lehr veräppelt zu werden, wenn persönliche Beziehungen nebst zahlreichen Sexszenen kosmisch aufgedonnert werden. "Es gibt kein regelrechtes Nichts. Also auch kein Nichts vor dem Urknall unserer Begegnung, Jonas. Was ich nicht alles von Dir gelernt habe! Irgendwie zittert das Nichts wie ein ungeheurer Wahnsinn in einer Erbse, und aus dem Quantenschaum der Frühe fluktuieren die merkwürdigsten Geschöpfe hervor." Da soll sich wohl Heidegger im Grabe herumdrehen. In der Erzählung der Begegnungen mit diesen Geschöpfen, unzähligen Nebenfiguren, die je aus verschiedenen Perspektiven geschildert werden, aber auch im Übermaß gelehrter Anspielungen, wird sich der Leser nicht selten verirren. Da hilft keine Hermeneutik der Quantenphysik.
Zum Glück gibt es einen raumzeitlichen Attraktor in dem Roman, auf den alle einzelnen Episoden zulaufen. Ähnlich wie in Joyces "Ulysses" spielt die Handlung in vierundzwanzig Stunden, genauer am 19. August 2011. An dem Tag wird in Berlin unter dem Titel des Romans die Retrospektive der 1970 in der DDR geborenen, inzwischen weltberühmten Künstlerin Milena Sonntag eröffnet. Die Ausstellung bilanziert nicht nur ihre Entwicklung, sondern auch die der deutschen Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts, was sie in der Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Biennale fortsetzen soll. Ihre Exponate werden in "Boxen" präsentiert, deren Öffnung je die Episoden der Erzählung anzieht. Zu der Ausstellung in Berlin reist auch Milenas ehemaliger Lehrer und Liebhaber, der Kulturwissenschaftler Rudolf Zacharias, aus Japan an. Ihm ist wegen zu vieler schlauer Bemerkungen das Fegefeuer bestimmt. Und natürlich kommt auch ihr Mann, der Solarphysiker Jonas, obwohl sie gerade die eheliche Wohnung verlassen hat, nachdem Jonas die Überforderung des Familienlebens mit einer Affäre kompensierte.
Lehr erzählt die Lebensgeschichten der drei Personen und ihre Begegnungen von den Freuden und Schmerzen der Jugend über die Studienzeit in Göttingen und Freiburg nicht als je kontinuierliche Geschichten, sondern, Goethes "Wanderjahren" ähnlich, als "Roman des Nebeneinander", der sich zu einem umfassenden Bild der Zeit fügen soll.
Die Darstellung der Personen folgt einem von Husserls Phänomenologie inspirierten Prinzip der Anschauung, das die ihre Erfahrung realisierenden Subjekte in ihrem Mitsein zeigt. Das Subjekt soll nicht als einsames Individuum noch als bloßer physikalischer Körper erscheinen, sondern als "ein fühlender, geistig aktiver, eine halbe Unendlichkeit einschließender Leib". Solche Phänomenologie öffnet das Fenster der Monade, ermöglicht Einfühlung und gibt den Blick frei auf die Leibhaftigkeit der anderen, die sich in der Sexualität sinnlich bestätigt. Selbst in den Früchten der Erde kann sich der Mensch erblicken, wenngleich nicht immer im Ernst. "Tomaten sind treulos und platzen vor Eitelkeit."
Der Leib des Menschen, zumal der weibliche, wird im phänomenologischen Blick Lehrs lesbar wie ein Buch. In der Häufigkeit der Schilderung sexueller Begegnungen erscheint das Begehren des anderen Leibs als eine Wirkmacht von kosmischer bildproduzierender Dimension der Nähe wie der notwendigen Distanz oder Diskrepanz. Die bildlichen Verknüpfungen und überraschenden Analogiebildungen sind dabei oft erheiternd. So müssen zwei nach dem Sex als einer Reinigung noch "einige Minuten still nebeneinander ruhen und warten, bis das blütenduftende, schaumig knisternde Badewasser des postorgiastischen Zustands abgeflossen war, um sich dann mit einigen fehlplatzierten Sätzen ins Befremden zu frottieren".
Lehrs Methode des Sichtbarmachens löst virtuell die Grenzen zwischen Menschen wie Kulturen auf. Kunst, Wissenschaft, Technik und Politik, die Angleichung der inneren und der äußeren Welt, die der Mensch ständig vollzieht, werden in ihren Ursprung in der Lebenswelt zurückversetzt. Da geht das Intime und Private wie selbstverständlich in die Weltgeschichte über.
Das ergibt eine große metapherngesättigte Hymne auf die Kreativität und Entwicklungsfähigkeit im Guten wie im Bösen, die das Staunen lehrt über das unentwegte Spektakel der Sichtbarkeit, dem der Mensch den Sinn geben kann. Als Urbild aller Kreativität aber erscheint der Körper der Frau, "die gewaltigste Maschine, die mächtigste und die wichtigste, seit Jahrtausenden imstande, Menschenwesen zu fabrizieren, Millionen und Milliarden." Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst als ewiges Wunder der Fortzeugung.
Die Figur, in der das Chaos bewältigt und verständlich werden kann, ist in Lehrs Roman nicht der Kreis, die Wiederkehr des Gleichen, sondern die Spirale als eines der ältesten Symbole der Unendlichkeit des Möglichen. Sich in der Mitte einer Spirale zu imaginieren bedeutet als Aufgeben zwanghafter Kontrolle den Entschluss zum Leben, zu der freien Entscheidung, sich in dieser Welt heimisch zu fühlen trotz aller irdischen Widerwärtigkeiten wie der beängstigenden Unermesslichkeit des Alls. Produktive Galaxien weisen die Form der Spirale auf, sie ist als Kodifizierung der scheinbar widersprüchlichen menschlichen Begehrungen des Menschen auch als Strukturprinzip von Lehrs Schreibart zu begreifen.
Das ist leichter gesagt als getan bei diesem gewaltigen Epos der menschlichen Kreativität, das ja noch zwei ebenso gewichtige Fortsetzungen finden soll. Zwar ist "Schlafende Sonne" über weite Strecken durchaus vergnüglich und unterhaltsam, doch wird auch der sehr gebildete Leser bei Lehrs Überschreitungen der Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft immer wieder an die Grenzen seiner "cerebralen Software" stoßen und das Buch nicht selten erschöpft für eine Weile aus der Hand legen.
FRIEDMAR APEL
Thomas Lehr: "Schlafende Sonne". Roman.
Hanser Verlag, München 2017. 640 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Thomas Lehr hat sich mit seinem "Universalroman" viel vorgenommen, sehr viel, und mit den ersten 640 Seiten ist es noch lange nicht getan - einige Tausend mehr sind noch in Planung, weiß Rezensent Paul Jandl. Dass er seinem Anspruch gerecht wird, lässt sich nur zwischen den Zeilen der Rezension lesen, vielleicht will sich Jandl ein abschließendes Urteil noch nicht und erst nach Abschluss des Großprojekts erlauben. Dass dieses jedoch in seinem hohen Anspruch beeindruckt und reizt und, abgesehen vom etwas befremdlichen "Adjektiv- und Metapherngerammel" in den zahlreichen Beschreibungen erotischer Szenen, von hoher erzählerischer Qualität ist, lässt sich scheinbar bereits feststellen. Es ist ein Zeitpanorama der DDR, ein Porträt, eine Sozialstudie, ein physikalischer Roman, ein "krachendes und knatterndes Ding", so der faszinierte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"'Schlafende Sonne' ist ein himmelschießendes Kunstwerk. Zum Verzweifeln gut." Markus Clauer, Die Rheinpfalz, 09.10.17 "'Schlafende Sonne' ist sprachlich und in seinem Bau ein Wagnis. Eines, das gelingt. ... Wer die Herausforderung dieses Romans annimmt, wird mit einem Text belohnt, der kompromisslos auf die Probe stellt, was Literatur jenseits des Geschichtenerzählens kann." Cornelia Zetzsche, Bayern 2, 30.09.17 "Thomas Lehr hat ein enorm dichtes und virtuos komponiertes Buch geschrieben, in dem Handlungsstränge und Personen auf vielfältige und komplexe Weise miteinander verknüpft sind." Holger Heimann, WDR 3, 29.09.17 "Mit 'Schlafende Sonne' hat Thomas Lehr jetzt den ganz großen Wurf gewagt. Lehrs neues Buch versteht sich als eine Art
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Universalroman und reiht sich ein in die Literatur der Moderne, etwa eines James Joyce, die nach neuen, experimentellen Ausdrucksformen sucht." FOCUS online, 26.09.17 "Der Roman als Erkenntnisinstrument: Thomas Lehr erzählt in 'Schlafende Sonne' Bilder einer Ausstellung und überschreitet die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Lebenswelt." Friedmar Apel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.17 "Wer sich aber einlässt auf dieses Experiment, diese Explosion von Gedanken, Theorien und Erinnerungen, der wird reich belohnt werden durch eine unglaubliche Vielfalt an Ausdrücken und Assoziationen und einen literarischen Wagemut, wie er in der deutschen Gegenwartsliteratur derzeit fast einmalig ist." Jan Ehlert, NDR Kultur, 20.09.17 "Man kann 'Schlafende Sonne' einen Eheroman nennen, einen Künstler-, Epochen- und Wissenschaftsroman, einen Roman über die deutsche Teilung und ihre Vorgeschichte, aber auch ein Energiegeschoss, einen Feuerball, eine Gedankenexplosion ... Ein Epos auf der Höhe der Zeit, sonnentrunken und riskant." Meike Fessmann, Der Tagesspiegel, 14.09.17 "Der Autor verknüpft in seinem Roman ... virtuos Philosophie, Kunsttheorie und Naturwissenschaft. 'Schlafende Sonne' ragt heraus aus der Produktion des Herbstes." Holger Heimann, WDR 5, Bücher, 09.09.17 "Der Blick auf Oberflächen und in die Tiefe hat in Thomas Lehr einen Zeremonienmeister, der Bilder schaffen kann wie kaum ein anderer. Lehr weiss das, und er betreibt einen Aufwand, dem es egal ist, ob er gerade auf den Schlachtfeldern bei Verdun ist oder auf dem Gästesofa einer Buchhändlerin." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.17 "Entscheidend sind aber weniger konkrete Ereignisse als zentrale Motive, die ein Eigenleben bekommen. ... Dabei kommt es zu zum Teil rauschhaften Erzählschüben, die von großer Suggestivität sind. ... Es geht um Lebenswelten, um die konkrete Verankerung in Details und Atmosphären. So entsteht zwischen den Figuren und Zeiten ein eigener poetischer Raum, der sich im zentralen Bild der 'Sonne', des 'Lichts' zeigt." Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Kultur, Studio 9, 26.08.17 "Es wirkt wie eine Provokation, wie wenig sich dieser Autor um landläufige Erzähltheorien und Schreibschultechniken schert. ... Es geht hier um Literatur als Kunst, nicht als Serviceleistung für Gefühle oder als Wiedererkennungs-Akrobatik. Es geht, wie es an einer Stelle ungeschützt heißt, um 'den Abgrund des Glücks'." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 23.08.17 "Es sind kleine, kluge, sensible Beobachtungen, die Thomas Lehrs Schreiben ausmacht, er liefert überzeugende Psychogramme in außergewöhnlicher, kunstvoller Sprache, jenseits von abgegriffenen Adjektiven und Wendungen. Seine menschlichen Skizzen auf Papier werden mit wenigen Worten zu einem ganzen Leben. ... Der letzte Satz dieses Buches jedenfalls wird wohl - wie das ganze Buch selbst - unterschiedliche Emotionen hervorrufen: 'Wird fortgesetzt'. Zwei weitere Teile sind geplant und schon in Arbeit. Wahnsinn. Und Genie. Ein Megaprojekt - für den Autor und die Leser." Anne-Dore Krohn, rbb Kulturradio, 21.08.17
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Normalerweise habe ich eine recht feste Art, Rezensionen zu Büchern zu schreiben. Bei Thoms Lehrs Buch „Schlafende Sonne“ funktioniert dies nicht, mich hat aber auch selten ein Buch so ratlos am Ende zurückgelassen und auch schon beim Lesen verärgert.
Dass man etwas …
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Normalerweise habe ich eine recht feste Art, Rezensionen zu Büchern zu schreiben. Bei Thoms Lehrs Buch „Schlafende Sonne“ funktioniert dies nicht, mich hat aber auch selten ein Buch so ratlos am Ende zurückgelassen und auch schon beim Lesen verärgert.
Dass man etwas Zeit braucht, um sich in ein Buch reinzulesen, ist bei anspruchsvollerer Literatur nicht ungewöhnlich. Manche Bücher muss man sich auch erarbeiten, was ich völlig ok finde, auch wenn ich ein Buch in meiner Freizeit zur Unterhaltung lese. Als ich etwas ein Drittel der 640 Seiten hatte, war mir jedoch immer noch nicht klar, worüber ich eigentlich gerade lese. Also habe ich mir nochmals die Verlagsseite mit der Kurzzusammenfassung angesehen. Aha. Hm. Nun ja. Aufgeben und das Buch weglegen ist nicht so meins, also weiter in der Lektüre.
Bei der Hälfte angekommen und immer noch genauso ratlos und völlig im Inhalt verloren, der mir episodenhaft und unzusammenhängend erscheint, der den Erzähler fröhlich wechselt und den Leser in keiner Weise begleitet oder ihm wenigstens ein kleines rotes Fädchen zur Orientierung bieten würde, also die nächste Strategie: was denken denn andere über das Buch?
Es steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2017 und im Kommentar der Jury wird ein Labyrinth erwähnt – ja, genau so kommt es mir vor, und ich habe mich darin völlig verlaufen. Dann folgt die Erwähnung einer spannenden Erzählung und ästhetischen Wagemutes – nein, hier frage ich mich, ob ich ein anderes Buch lese. In einem kurzen Artikel der Zeit zu den Nominierten wird der Vergleich zu Robert Musil gezogen – ein Hinweis, dass der Roman vielleicht definitiv nichts für mich ist. In zahlreichen weiteren Besprechungen wird die außergewöhnliche Konstruktion des Romans hervorgehoben, die Form des Romans, die immer wieder neue Perspektiven bietet und sich spiralförmig um die Figuren legt. Ok, vermutlich ist mir etwas entgangen und ich sehe das Große Ganze nicht. Allerdings fand ich bei meiner Recherche Anne-Dore Krohns Kommentar auf der Seite des Kulturradios sehr sympathisch in diesem Zusammenhang. Die beginnt ihre Rezension mit dem Verweis auf Pennacs Rechte des Lesers, von denen sicherlich einige Gebrauch machen werden.
Nach der Erkenntnis, dass es keine klassische Handlung gibt, bleiben mir noch immer 300 Seiten, die ich nun aber eher großzügig überfliege, episodenhaft reinlese – manche Geschichten in der Geschichte sind wirklich interessant, toll, überzeugend geschrieben und können mich überzeugen, aber ich versuche nicht mehr weiter, irgendeinen Zusammenhang dazwischen zu konstruieren. Das Buch hat mich verloren und ich sehe mich am Ende nicht einmal in der Lage, in wenigen Sätzen die grobe Rahmenhandlung zusammenzufassen Ja, ich habe es inzwischen mehrfach gelesen und könnte es entsprechend wiedergeben, aber mir hat sich dies in nicht erschlossen.
Man kann in der Literatur experimentieren, soll man auch. Das wird nicht die großen Mengen an Lesern anziehen und begeistern, muss es aber auch nicht, so ist das in der Kunst nun einmal. Mich beschleicht jedoch in der Rezeption des Romans der Verdacht, dass hier einmal mehr ein besonders unlesbarer Roman hochgelobt wird und damit nicht nur zum heißesten Kandidaten für den Buchpreis gemacht wird, sondern auch einmal mehr zur Entfremdung zwischen profaner Leserschaft und hochintellektueller Buchkritik beiträgt. Das Volk versteht’s halt nicht. In meinem Fall ist das ganz sicher so, allerdings habe ich auch die Leseerfahrung gemacht – und ein Literaturwissenschaftsstudium und tausende gelesene Bücher reichen dafür allemal aus – dass wirklich große Literatur beides kann: literarisch innovativ und herausfordernd sein und gleichzeitig unterhalten.
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Poetologische Phänomenologie
Mit «Schlafende Sonne» ist der erste Teil des Opus Magnum von Thomas Lehr erschienen, dem zwei weitere folgen sollen. «Wird fortgesetzt» lesen wir also am Ende, doch so mancher Leser wird spätestens da, wenn er denn überhaupt so …
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Poetologische Phänomenologie
Mit «Schlafende Sonne» ist der erste Teil des Opus Magnum von Thomas Lehr erschienen, dem zwei weitere folgen sollen. «Wird fortgesetzt» lesen wir also am Ende, doch so mancher Leser wird spätestens da, wenn er denn überhaupt so weit gekommen ist, entnervt aufstöhnen: «Aber ohne mich!» Denn indem der Autor schon im Motto mit dem Phänomen der Spirale seinem Roman dessen formales Prinzip voranstellt, weist er auch gleich auf ein narratives Chaos hin, dem er in seinem unkonventionellen Text immer wieder vom Innern einer erzählerischen Spirale her beizukommen sucht. Es wird also nicht linear erzählt, sondern ohne erkennbare Chronologie vom stofflichen Zentrum her in sich drehenden, geradezu verwirbelten Erzählsträngen, die lesend nachzuvollziehen mehr als anstrengend, häufig gar unmöglich ist. Verliert also der arglose Leser in dieser fragmentierten Erzählung die Orientierung, was voraussehbar ist, liegt das ganz gewiss nicht an seinem rezeptiven Unvermögen, soviel vorab.
Dreh- und Angelpunkt der Geschichte mit ihren drei Protagonisten ist ein einziger Tag im August 2011, an dem die Künstlerin Milena Sonntag im Berlin ihre große Werkschau eröffnet. Ihr Ex-Geliebter Rudolf Zacharias, einst ihr Philosophie-Professor, reist extra aus Tokio an, ihr Ehemann Jonas, dessen Statement «Ich bin nur Physiker» ihn in intellektuellen Disputen der Künstlergemeinde stets aus der Schusslinie nimmt, holt ihn am Flughafen ab. Das ist auch schon die eigentliche Handlung, die wegen ihrer eintägigen Dauer unwillkürlich an Joyce erinnert. Aber anders als im «Ulysses» stehen hier nicht die Protagonisten im Zentrum der Erzählung, sondern die Geschichte Deutschlands selbst in politischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher Hinsicht, und zwar über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren hinweg. In den vielen die Seiten füllenden, aus der leitmotivischen «Spirale» heraus sich entwickelnden Erzählkreisen werden intellektuell anspruchsvoll philosophische, physikalische, kunsttheoretische, universitäre, historische, soziologische Themen behandelt. Die so entstehenden erratischen Bilder jedoch sind ohne inneren Zusammenhang, vieldeutig und kaum zu entschlüsseln, auch mit Hilfe des zweiten Leitmotivs «Sonne» nicht.
Muss man also, wie in Feuilleton zu lesen war, den Roman mehrmals lesen, um ihn wirklich zu verstehen? Man könnte den sich radikal außerhalb aller Konventionen stellenden Erzählstil Lehrs, seine eher technisch als poetologisch angelegte Sprache, als provokativ empfinden. Inwieweit der auf diese Art bewerkstelligte Einblick ins deutsche Bewusstsein wirklich Erkenntnis fördernd ist, hängt einzig vom Erfahrungshintergrund des jeweiligen Lesers ab. Der Roman schließt nach meiner Einschätzung aber weite Leserkreise von einer bereichernden Wirkung der Lektüre mit Sicherheit aus, zu akademisch hochgestochen wird hier schwadroniert, quasi nach Bildungsbürgerart. «Ich bin vielfach ungebildet» hat der Autor mit einem Musil-Zitat eine entsprechende Frage abgewiegelt, meinen Nonsens-Verdacht damit erhärtend. Denn ob das akademische Parlando des Romans einer fachlich kritischen Prüfung standhält, vermag ich zwar nicht zu beurteilen, es bleibt aber doch fraglich.
Ohne Zweifel schreibt Thomas Lehr auf höchstem Niveau, virtuos immer wieder die Erzählperspektiven wechselnd. Er erzeugt mühelos hoch assoziative Bilder in seinem breit angelegten deutschen Panorama, in dem Alltagsleben oder ökonomische Aspekte ausgeblendet bleiben und Sex als eine fast schon artistische Zweckübung behandelt wird, bei der Erotik kaum eine Rolle spielt. Die Figuren des Romans sind wenig lebensecht, zudem intellektuell maßlos überzeichnet, und manche der weit ausholenden Erzählbögen führen einfach nur ins Leere. In dem für die Shortlist des diesjährigen Buchpreises nominierten Roman ist der Inhalt der Form derart radikal untergeordnet, dass der Leser größte Mühe hat, auch nur ein Gran Sinn in das Ganze zu bringen. Schade eigentlich!
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Dies ist ein Roman der sowohl durch die Breite der Szenerie als auch durch die Tiefe der Charakterbeschreibungen besticht. Endlich mal wieder ein deutscher Roman mit Qualitäten eines Pageturners.
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