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Produktdetails
  • Collection Folio
  • Verlag: Gallimard / Import
  • Artikelnr. des Verlages: A409846
  • Seitenzahl: 161
  • Erscheinungstermin: Oktober 1999
  • Französisch
  • Abmessung: 179mm x 109mm x 19mm
  • Gewicht: 108g
  • ISBN-13: 9782070409846
  • ISBN-10: 2070409848
  • Artikelnr.: 24077471
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.1999

Hautgefäße
Marie Darrieussecq sieht Gespenster · Von Friedmar Apel

Auch der Schlaf des überwachen Verstand gebiert Ungeheuer, wenn er von der Selbstbeobachtungsgabe einer Marie Darrieussecq angetrieben wird. Die 1969 geborene Autorin kommt aus Bayonne, im Schatten der Pyrenäen, und diese Randständigkeit prägt die dargestellte Wahrnehmung in ihrem zweiten Roman. "Blickt man an den Wellen entlang, erkennt man einen Ort, wo die Abwesenheit ein Bild findet, einen Ort, der ein wenig Erleichterung verschafft, weil er groß und leer ist. Vielleicht sind Abwesenheit und Dauer nur in diesem Moment und gemeinsam existent, während man dort die Wellen betrachtet und den Himmel darüber und sich mit dem Meer bis zum Horizont entfaltet."

Solche Grenzerfahrungen aber beginnen mit einer jener Episoden, die angeblich das Leben schreibt: Der Ehemann geht Brot holen und kommt nicht wieder. Zurück bleibt die Ich-Erzählerin, und während sie wartet, entsteht eine Geschichte, die den ganzen Reichtum zwischen Schreiben und Abwesenheit faszinierend entfaltet. Eine Weile hält sich jedoch der Eindruck, es handle sich hier um ein weiteres Exempel neuerer französischer Desillusionsromantik, in der die großen Erwartungen an der Tücke der Alltagsobjekte scheitern und innerhalb derer man sich Fragen stellt wie: Hilft denn eine Feuchtigkeitsmaske gegen Angst? Kann man in einem Designersessel ertrinken? Wie erträgt man als einsame Einzelne den Anblick eines Tomatenpärchens im Kühlschrank?

In der Abwesenheit des Mannes wird sich die Erzählerin ihrer Abhängigkeit bewusst. Das knüpft nur vordergründig an die oberflächliche Frauenliteratur der Claude Sarraute oder Geneviève Brisac an, in der vernachlässigte Hausfrauen heroisch mit dem Alltag kämpfen. Bei Marie Darrieussecq wird Abwesenheit vielmehr zum Anlass, die Wahrnehmung moderner Wirklichkeit und ihre sprachliche Repräsentation grundsätzlich in Frage zu stellen. Die immer neuen Anläufe aber, einen Satz zu finden, "der etwas Existenz herstellt", scheitern komisch und manchmal beklemmend und landen immer wieder bei einem "wie man so sagt" oder einem "übrigens". Aus einer fortgesetzten Analyse der Depression aber steigt wie silberner Dunst über dem Meer ein Staunen über die Schönheit der Welt auf, ein Zauber, der noch die Konstruktionen der Naturwissenschaften in die Poesie eines ganz anderen Begreifens verwandelt.

Aus kühnen metaphorischen Reflexionen folgt wie eine Erlösung von der "Schinderei der Verständnisarbeit" immer wieder das Einfachste, die Tröstlichkeit des gemeinen Lebens. "Angenommen, unser Körper wäre eine Kombination aus Deichen oder Schutzwällen (Oberhaut, Lederhaut, die Muskeln, die Hülle der Organe, die Immunschranke und jenes Etwas, das auf jeder Ebene die jeweils höhere Ebene stützt, bis hin zum Herzen, dem Knochenmark und dem, was unser Ich bestimmt, winzige Elektronen, die ein unsichtbares Brimborium umkreisen, das jedoch die Quintessenz unseres eigensten Wesens ist), angenommen sogar, die körperliche Liebe durchbräche einige dieser Schutzwälle, bis der Einsiedlerkrebs sich ein kleines Stückchen aus seinem Schneckenhaus hervorbewegt . . .?" Ja, was wäre dann? Flüssigkeit würde plätschern und aus den Augen der Erzählerin sprudeln. Sie würde weinen.

In einem mikroskopierenden Liebes- und Depressionsblick auf die Dinge dieser Welt fällt die Auflösung der vertrauten Persönlichkeit mit einem Sichverlieren in der Beobachtung überein. Am Ende ist die Schinderei des Verstehens zumindest für die Erzählerin überwunden, die Realitätszweifel lösen sich im Akt des Schreibens in poetischen Scharfsinn auf. Das Problem erscheint mit carrollscher Logik so gegenstandslos wie das Grinsen der Ceshire-Katze. Auf so komplexe wie zarte und elegante Weise triumphiert dabei diese Welt gegen die mögliche oder andere, was bleibt, ist der Alltag und die anderen Menschen und Wesen, die Katzen, Vögel, Fische.

Ob oder wie der Ehemann sich wiederfindet, wird selbstverständlich nicht verraten. Nur so viel, dass das Ende ein schönes Rätsel ist. Marie Darrieussecq hat an der Ecole Normal Supérieure Literaturwissenschaft studiert, und ihr Text beweist, dass das kein Schaden sein muss. Er ist ein sprachliches Kunst- und Wunderwerk, das man mit gesteigertem Vergnügen mehrmals lesen kann. Auch auf Deutsch. Schon der erste Roman der Autorin ("Schweinerei") ist von Frank Heibert virtuos in geschmeidige, rhythmisierte deutsche Prosa übertragen worden. Bei "Gespenster sehen" (Naissance des Fantômes) hat er Hand in Hand mit Hinrich Schmidt-Henkel gearbeitet, und herausgekommen ist abermals ein Werk, das an funkelnder Intelligenz und Eleganz in der deutschen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht.

Marie Darrieussecq, "Gespenster sehen". Roman. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1999. 156 S., geb., 29,80 DM.

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