Javier Marías
Gebundenes Buch
Mein Herz so weiß
Roman. Ausgezeichnet mit dem International IMPAC Dublin Literary Award 1997
Übersetzung: Wehr, Elke
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Erbarmungslos und genau untersucht Javier Marías in seinem internationalen Bestseller 'Mein Herz so weiß' die Macht uneingestandener Vergangenheit. Für Juan, der als Dolmetscher ständig zwischen New York, Genf und Madrid pendelt, ist das Leben seines Vaters ein ungelöstes Rätsel. Als er selbst heiratet, stellt er sich dem, was er nicht wissen will: Direkt nach der Hochzeitsreise seines Vaters erhob sich seine erste Frau vom Tisch, nahm eine Pistole und erschoss sich im Badezimmer. Später heiratete der Witwer ihre Schwester, Juans Mutter.Der Roman zeigt Javier Marías als Meisterdetektiv...
Erbarmungslos und genau untersucht Javier Marías in seinem internationalen Bestseller 'Mein Herz so weiß' die Macht uneingestandener Vergangenheit. Für Juan, der als Dolmetscher ständig zwischen New York, Genf und Madrid pendelt, ist das Leben seines Vaters ein ungelöstes Rätsel. Als er selbst heiratet, stellt er sich dem, was er nicht wissen will: Direkt nach der Hochzeitsreise seines Vaters erhob sich seine erste Frau vom Tisch, nahm eine Pistole und erschoss sich im Badezimmer. Später heiratete der Witwer ihre Schwester, Juans Mutter.
Der Roman zeigt Javier Marías als Meisterdetektiv des menschlichen Herzens, seiner dunklen Seiten und verborgenen Winkel. Verschwiegenheit kann bequem sein, aber sie fordert ihren Preis. Die Schärfe seiner Beobachtungen und die Eleganz seines Stils machen den Roman zu einem Klassiker der Moderne.
»Dies ist ein Meisterwerk, ein ganz großes Meisterwerk.«
Marcel Reich-Ranicki
Der Roman zeigt Javier Marías als Meisterdetektiv des menschlichen Herzens, seiner dunklen Seiten und verborgenen Winkel. Verschwiegenheit kann bequem sein, aber sie fordert ihren Preis. Die Schärfe seiner Beobachtungen und die Eleganz seines Stils machen den Roman zu einem Klassiker der Moderne.
»Dies ist ein Meisterwerk, ein ganz großes Meisterwerk.«
Marcel Reich-Ranicki
Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller 'Mein Herz so weiß' gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens. Zuletzt erschien sein Roman »Berta Isla«; im Oktober 2022 erscheint sein letzter Roman »Tomás Nevinson«. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.
Elke Wehr, geboren 1946 in Bautzen, hat sich vor allem als Übersetzerin aus dem Spanischen einen Namen gemacht. Neben Javier Marías übersetzte sie Autoren wie Mario Vargas Llosa, Octavio Paz oder Rafael Chirbes. 2006 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Elke Wehr starb 2008 in Berlin.
Elke Wehr, geboren 1946 in Bautzen, hat sich vor allem als Übersetzerin aus dem Spanischen einen Namen gemacht. Neben Javier Marías übersetzte sie Autoren wie Mario Vargas Llosa, Octavio Paz oder Rafael Chirbes. 2006 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Elke Wehr starb 2008 in Berlin.

Produktdetails
- Fischer Taschenbücher 51275
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- Originaltitel: Corazón tan blanco
- Artikelnr. des Verlages: 1015658
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 480
- Erscheinungstermin: 5. März 2013
- Deutsch
- Abmessung: 146mm x 114mm x 21mm
- Gewicht: 230g
- ISBN-13: 9783596512751
- ISBN-10: 3596512751
- Artikelnr.: 36798534
Herstellerkennzeichnung
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Die Ohren haben keine Lider
Javier Marías schreibt einen großen Roman über Täter und Komplizen / Von Paul Ingendaay
Wenn auf der ersten Seite eines Romans von einem Selbstmord erzählt wird, dann ist das ein ernster Beginn mit Aussicht auf die letzten Dinge des Lebens. Wenn die Selbstmörderin aber jung ist und schön, ihre Haut blaß, der Blick verschattet, dann schrumpft das Grundsätzliche zum romantischen Geheimnis zusammen, von dem jeder zu wissen glaubt, womit es zu tun hat: mit einem Mann. Dem spanischen Schriftsteller Javier Marías war das durchaus bewußt. Trotzdem beginnt sein Roman "Mein Herz so weiß" (Corazón tan blanco) mit folgendem Satz: "Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der
Javier Marías schreibt einen großen Roman über Täter und Komplizen / Von Paul Ingendaay
Wenn auf der ersten Seite eines Romans von einem Selbstmord erzählt wird, dann ist das ein ernster Beginn mit Aussicht auf die letzten Dinge des Lebens. Wenn die Selbstmörderin aber jung ist und schön, ihre Haut blaß, der Blick verschattet, dann schrumpft das Grundsätzliche zum romantischen Geheimnis zusammen, von dem jeder zu wissen glaubt, womit es zu tun hat: mit einem Mann. Dem spanischen Schriftsteller Javier Marías war das durchaus bewußt. Trotzdem beginnt sein Roman "Mein Herz so weiß" (Corazón tan blanco) mit folgendem Satz: "Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der
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Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte."
Man ist gut beraten, die sieben Seiten, die auf den Tod der schönen Teresa folgen, als gezieltes Verschleierungsmanöver des Autors zu lesen. Auf diesen Seiten beschreibt Marías das Durcheinander, das ein Selbstmord in den Räumen einer wohlhabenden Familie anrichtet. Der Vater hat soeben einen Bissen genommen, als der Schuß fällt, und da er ihn weder hinunterschluckt noch auf den Teller spuckt, wankt er mit vollem Mund ins Badezimmer, wo er die grausige Szenerie erblickt, den Wasserhahn abdreht, mit der Serviette den Büstenhalter seiner Tochter bedeckt, den Bissen noch immer im Mund. Die Gäste, darunter ein Arzt, drängen nach. Die Schwester wischt der Toten die Tränen ab. Im Eßzimmer serviert das Dienstmädchen eine Eistorte. Von draußen hört man den Pfiff des Ladenjungen, der seine Kisten ablädt. Das Dienstmädchen ist unschlüssig, weil die Eistorte zu schmelzen droht. Inzwischen hat der Vater sein Mittagessen, darunter den heimtückischen Bissen, im Badezimmer wieder von sich gegeben.
Mit großer Genauigkeit, fast pedantisch leuchtet Marías die Räume des Hauses aus; der Leser soll kein Detail versäumen. Dann, als wir an die verschiedenen Blickwinkel gewöhnt sind, als der Ladenjunge sein Pfeifen eingestellt und das Dienstmädchen sich die Schürze gerichtet hat und alle, selbst die Köchin, ihren Auftritt gehabt haben, dann erst, endlich, kommt Ranz nach Hause, Teresas Ehemann, eine Fahne von Kölnisch Wasser weht ihm voran. Der Schauplatz ist immer noch erleuchtet. So beschäftigt sind wir mit der brillant geschriebenen Szene, daß wir kaum bemerken, wie der Erzähler, der nur im allerersten Satz "ich" gesagt hat, sich nun abermals ins Spiel bringt und im letzten Satz des Kapitels seine Identität enthüllt: "Alle sagten, Ranz, der Schwager, der Ehemann, mein Vater, habe großes Pech gehabt, da er zum zweiten Male Witwer geworden sei."
Mit den Rätseln dieser Eröffnung könnte man einen hübschen Roman bauen, der von verjährter Schuld und später Erkenntnis handelt, von einem Sohn, der die Wahrheit über seinen Vater sucht, und allgemein von den Phantasmen unterdrückter Geschichten. Doch was wäre dann? Wenige Autoren fragen sich ja, was ihre Figuren mit der Wahrheit anfangen, wenn sie einmal zutage liegt, und ob sie überhaupt in ihr Leben paßt. Genau dort setzt Marías an. Ihn interessiert nicht die Enthüllung um ihrer selbst willen, sondern - wie seinen Lehrmeister Joseph Conrad - die moralische Versuchsanordnung, in der sich das Handeln der Figuren zu erkennen gibt und überprüfen läßt. Was die Figuren mit der Erkenntnis dann machen, ist ihre Sache, und meistens geht es nicht gut aus.
Juan, der Erzähler, ist Ranz' Sohn aus dessen dritter Ehe mit Teresas jüngerer Schwester. Die Tante ist für ihn zunächst nur eine Anekdote aus der Zeit vor seiner Geburt; von den Umständen ihres Todes hat er erst vor kurzem erfahren. Die 360 Seiten des Romans erzählen vor allem seine Geschichte, die Geschichte eines fünfunddreißigjährigen Spaniers, der auf internationalen Konferenzen dolmetscht und ein Jahr zuvor geheiratet hat. Leider muß er immer noch viel reisen, nach Brüssel, Genf und New York. Die Ruhe, mit der er seine Erinnerungen sortiert und vor dem Leser ausbreitet, ist trügerisch. Bisher mag er sich mit gerahmten Fotos und geglätteten Familiengeschichten zufriedengegeben haben, doch das ist vorbei.
Denn diesen intelligenten, ironiefähigen Erzähler erfaßt eine merkwürdige Unruhe, als er Luisa heiratet, eine Berufskollegin. Im Grunde beunruhigt ihn, daß Eheleute paarweise auftreten, daß sie dieselben Ziele haben sollen und daß auf dem breiten Bett zwei Kopfkissen liegen statt auf dem schmalen Bett eines. Er braucht nicht von der Tyrannei der Intimität zu reden, denn er meint etwas viel Gefährlicheres: daß dieselbe Geste - der Mund des einen am Ohr des anderen - sowohl Trost als auch Anstiftung bedeuten kann. Und so beginnt Juan, "im Vorgefühl aller möglichen Katastrophen zu leben, ähnlich wie jemand, der sich eine jener ansteckenden Krankheiten zuzieht, von denen man nicht mit Sicherheit weiß, wann man von ihnen geheilt werden kann".
Das medizinische Vokabular von Proust, der Bewußtseinszustände als "inoperabel" bezeichnete, taucht hier nicht zufällig auf. Auch Javier Marías erweist sich als glänzender Psychologe, freilich als einer, der dem Patienten den Befund verschweigt. Spürbar sind für Juan nur die Vorfälle selbst, die ihn immer tiefer in die Krankheit treiben. In Kuba, auf der Hochzeitsreise, belauscht er ein Gespräch im Nebenzimmer: Ein spanischer Geschäftsmann beruhigt seine kubanische Geliebte, daß seine Frau, daheim in Spanien, im Sterben liege und der Weg für ihn und die Geliebte bald frei sei. Die Geliebte glaubt ihm nicht und verlangt von dem Geschäftsmann, seine Frau zu töten.
Der Ohrenzeuge kann die Geschichte nicht vergessen. Als müßte er sie als Radiostück inszenieren, kehrt sie in seiner Vorstellung wieder, überlagert andere Ereignisse und verdichtet sich zu einem konspirativen Zusammenhang. Er glaube nicht an Wiederholungen, versichert der Erzähler immer wieder; überhaupt hat er manche schöne Theorie über den Zufall, das Schicksal und so weiter, die darauf hinauslaufen, daß im großen Einerlei von Geschehenem und Ungeschehenem keine moralischen Unterscheidungen mehr möglich seien. Dennoch legt er im nächsten Moment wieder das Ohr an die Wand, weil er fürchtet, er könnte Entscheidendes verpassen.
Es steckt eine gehörige Ironie darin, daß ausgerechnet ein Dolmetscher vor der Macht "herrenloser Worte" zu zittern beginnt: "Die Ohren haben keine Lider, die sich instinktiv vor dem Ausgesprochenen schließen können." Was Marías hier in der Entstehung vorführt, ist das Bewußtsein von Komplizenschaft. Auch wo es keinen Schaden anrichtet, setzt es voraus, daß Menschen sich einander offenbaren. Juan jedoch - das ist das Defizit, das seine Rhetorik kunstvoll verhüllt - vermutet Komplizenschaft, sogar Verrat und Mord, ohne sich offenbart zu haben. Um seiner ehemaligen Geliebten Berta in New York zu helfen, tut er viel: Er beschattet einen Fremden, der sich auf eine Kontaktanzeige gemeldet hat; er dreht ein intimes Video, das Berta dem Fremden schickt; er schlägt sich eine Nacht um die Ohren, damit Berta den Fremden empfangen kann. All das könnte als achtbarer Freundschaftsdienst durchgehen, wenn es nicht noch etwas anderes wäre: die Teilnahme an fremden Offenbarungen, ohne die Deckung zu verlassen.
Den literarischen Bezug seines Romans, den Elke Wehr in ein leuchtendes Deutsch übertragen hat, legt Javier Marías freimütig offen, schon der Titel zeugt davon. Es ist einerseits die Anstiftung zum Mord durch Lady Macbeth und andererseits die Grenze, die sie zwischen sich und dem Mörder zieht, ihrem Ehemann, als sie nach der Tat zu Macbeth sagt: My hands are of your colour; but I shame / To wear a heart so white. ("Meine Hände sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme mich, daß mein Herz so weiß ist.")
Bei der kalt planenden Lady Macbeth klingt das weiße Herz, wenn es kein makabrer Scherz ist, nach einer Doppelstrategie von Nähe und Distanzierung. Was die literarische Figur bedeutungsvoll offen läßt, bedrängt den Helden von Marías: In schärferen Umrissen taucht das alte Geheimnis seines Vaters wieder auf, aber nicht als Kriminalfall, sondern als Virus, der auf das geschwächte Immunsystem des Sohnes überspringt. Juan erfährt, Ranz habe auch seine erste Frau, eine Kubanerin, durch einen gewaltsamen Tod verloren. Allein im dunklen Schlafzimmer liegend, hört er unbemerkt mit, als Ranz gegenüber Luisa seine Geschichte preisgibt. Tatsächlich handelt sie von unbedacht gesprochenen Worten, die sich verselbständigten, von einem Mord, der leicht zu verbergen war und den Mörder vierzig Jahre beschäftigte, ohne daß sein Gewissen ihn gehindert hätte, sich einen eleganten Mantel zu kaufen und morgens sein Haar zu pudern.
Nur wer den Autor an diesem Punkt nicht begriffen hat, könnte ihm wegen der Weigerung, eine Beichte mit Zerknirschung und Reue zu liefern, moralische Gleichgültigkeit vorwerfen. Wie sollte er das anstellen, wo alle Säulen, auf denen die Konstruktion ruht, am Ende des Buches weggebrochen sind? Ebendarin liegt die Entzauberung, die Javier Marías in seinem grandiosen Roman vornimmt. Er hebt den Mechanismus von Schuld und Bekenntnis auf, weil er nicht daran glaubt, daß Geständnisse die Welt besser machen - nicht den Mörder, aber auch nicht seinen weltlichen Beichtvater.
Javier Marías: "Mein Herz so weiß". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1996. 365 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man ist gut beraten, die sieben Seiten, die auf den Tod der schönen Teresa folgen, als gezieltes Verschleierungsmanöver des Autors zu lesen. Auf diesen Seiten beschreibt Marías das Durcheinander, das ein Selbstmord in den Räumen einer wohlhabenden Familie anrichtet. Der Vater hat soeben einen Bissen genommen, als der Schuß fällt, und da er ihn weder hinunterschluckt noch auf den Teller spuckt, wankt er mit vollem Mund ins Badezimmer, wo er die grausige Szenerie erblickt, den Wasserhahn abdreht, mit der Serviette den Büstenhalter seiner Tochter bedeckt, den Bissen noch immer im Mund. Die Gäste, darunter ein Arzt, drängen nach. Die Schwester wischt der Toten die Tränen ab. Im Eßzimmer serviert das Dienstmädchen eine Eistorte. Von draußen hört man den Pfiff des Ladenjungen, der seine Kisten ablädt. Das Dienstmädchen ist unschlüssig, weil die Eistorte zu schmelzen droht. Inzwischen hat der Vater sein Mittagessen, darunter den heimtückischen Bissen, im Badezimmer wieder von sich gegeben.
Mit großer Genauigkeit, fast pedantisch leuchtet Marías die Räume des Hauses aus; der Leser soll kein Detail versäumen. Dann, als wir an die verschiedenen Blickwinkel gewöhnt sind, als der Ladenjunge sein Pfeifen eingestellt und das Dienstmädchen sich die Schürze gerichtet hat und alle, selbst die Köchin, ihren Auftritt gehabt haben, dann erst, endlich, kommt Ranz nach Hause, Teresas Ehemann, eine Fahne von Kölnisch Wasser weht ihm voran. Der Schauplatz ist immer noch erleuchtet. So beschäftigt sind wir mit der brillant geschriebenen Szene, daß wir kaum bemerken, wie der Erzähler, der nur im allerersten Satz "ich" gesagt hat, sich nun abermals ins Spiel bringt und im letzten Satz des Kapitels seine Identität enthüllt: "Alle sagten, Ranz, der Schwager, der Ehemann, mein Vater, habe großes Pech gehabt, da er zum zweiten Male Witwer geworden sei."
Mit den Rätseln dieser Eröffnung könnte man einen hübschen Roman bauen, der von verjährter Schuld und später Erkenntnis handelt, von einem Sohn, der die Wahrheit über seinen Vater sucht, und allgemein von den Phantasmen unterdrückter Geschichten. Doch was wäre dann? Wenige Autoren fragen sich ja, was ihre Figuren mit der Wahrheit anfangen, wenn sie einmal zutage liegt, und ob sie überhaupt in ihr Leben paßt. Genau dort setzt Marías an. Ihn interessiert nicht die Enthüllung um ihrer selbst willen, sondern - wie seinen Lehrmeister Joseph Conrad - die moralische Versuchsanordnung, in der sich das Handeln der Figuren zu erkennen gibt und überprüfen läßt. Was die Figuren mit der Erkenntnis dann machen, ist ihre Sache, und meistens geht es nicht gut aus.
Juan, der Erzähler, ist Ranz' Sohn aus dessen dritter Ehe mit Teresas jüngerer Schwester. Die Tante ist für ihn zunächst nur eine Anekdote aus der Zeit vor seiner Geburt; von den Umständen ihres Todes hat er erst vor kurzem erfahren. Die 360 Seiten des Romans erzählen vor allem seine Geschichte, die Geschichte eines fünfunddreißigjährigen Spaniers, der auf internationalen Konferenzen dolmetscht und ein Jahr zuvor geheiratet hat. Leider muß er immer noch viel reisen, nach Brüssel, Genf und New York. Die Ruhe, mit der er seine Erinnerungen sortiert und vor dem Leser ausbreitet, ist trügerisch. Bisher mag er sich mit gerahmten Fotos und geglätteten Familiengeschichten zufriedengegeben haben, doch das ist vorbei.
Denn diesen intelligenten, ironiefähigen Erzähler erfaßt eine merkwürdige Unruhe, als er Luisa heiratet, eine Berufskollegin. Im Grunde beunruhigt ihn, daß Eheleute paarweise auftreten, daß sie dieselben Ziele haben sollen und daß auf dem breiten Bett zwei Kopfkissen liegen statt auf dem schmalen Bett eines. Er braucht nicht von der Tyrannei der Intimität zu reden, denn er meint etwas viel Gefährlicheres: daß dieselbe Geste - der Mund des einen am Ohr des anderen - sowohl Trost als auch Anstiftung bedeuten kann. Und so beginnt Juan, "im Vorgefühl aller möglichen Katastrophen zu leben, ähnlich wie jemand, der sich eine jener ansteckenden Krankheiten zuzieht, von denen man nicht mit Sicherheit weiß, wann man von ihnen geheilt werden kann".
Das medizinische Vokabular von Proust, der Bewußtseinszustände als "inoperabel" bezeichnete, taucht hier nicht zufällig auf. Auch Javier Marías erweist sich als glänzender Psychologe, freilich als einer, der dem Patienten den Befund verschweigt. Spürbar sind für Juan nur die Vorfälle selbst, die ihn immer tiefer in die Krankheit treiben. In Kuba, auf der Hochzeitsreise, belauscht er ein Gespräch im Nebenzimmer: Ein spanischer Geschäftsmann beruhigt seine kubanische Geliebte, daß seine Frau, daheim in Spanien, im Sterben liege und der Weg für ihn und die Geliebte bald frei sei. Die Geliebte glaubt ihm nicht und verlangt von dem Geschäftsmann, seine Frau zu töten.
Der Ohrenzeuge kann die Geschichte nicht vergessen. Als müßte er sie als Radiostück inszenieren, kehrt sie in seiner Vorstellung wieder, überlagert andere Ereignisse und verdichtet sich zu einem konspirativen Zusammenhang. Er glaube nicht an Wiederholungen, versichert der Erzähler immer wieder; überhaupt hat er manche schöne Theorie über den Zufall, das Schicksal und so weiter, die darauf hinauslaufen, daß im großen Einerlei von Geschehenem und Ungeschehenem keine moralischen Unterscheidungen mehr möglich seien. Dennoch legt er im nächsten Moment wieder das Ohr an die Wand, weil er fürchtet, er könnte Entscheidendes verpassen.
Es steckt eine gehörige Ironie darin, daß ausgerechnet ein Dolmetscher vor der Macht "herrenloser Worte" zu zittern beginnt: "Die Ohren haben keine Lider, die sich instinktiv vor dem Ausgesprochenen schließen können." Was Marías hier in der Entstehung vorführt, ist das Bewußtsein von Komplizenschaft. Auch wo es keinen Schaden anrichtet, setzt es voraus, daß Menschen sich einander offenbaren. Juan jedoch - das ist das Defizit, das seine Rhetorik kunstvoll verhüllt - vermutet Komplizenschaft, sogar Verrat und Mord, ohne sich offenbart zu haben. Um seiner ehemaligen Geliebten Berta in New York zu helfen, tut er viel: Er beschattet einen Fremden, der sich auf eine Kontaktanzeige gemeldet hat; er dreht ein intimes Video, das Berta dem Fremden schickt; er schlägt sich eine Nacht um die Ohren, damit Berta den Fremden empfangen kann. All das könnte als achtbarer Freundschaftsdienst durchgehen, wenn es nicht noch etwas anderes wäre: die Teilnahme an fremden Offenbarungen, ohne die Deckung zu verlassen.
Den literarischen Bezug seines Romans, den Elke Wehr in ein leuchtendes Deutsch übertragen hat, legt Javier Marías freimütig offen, schon der Titel zeugt davon. Es ist einerseits die Anstiftung zum Mord durch Lady Macbeth und andererseits die Grenze, die sie zwischen sich und dem Mörder zieht, ihrem Ehemann, als sie nach der Tat zu Macbeth sagt: My hands are of your colour; but I shame / To wear a heart so white. ("Meine Hände sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme mich, daß mein Herz so weiß ist.")
Bei der kalt planenden Lady Macbeth klingt das weiße Herz, wenn es kein makabrer Scherz ist, nach einer Doppelstrategie von Nähe und Distanzierung. Was die literarische Figur bedeutungsvoll offen läßt, bedrängt den Helden von Marías: In schärferen Umrissen taucht das alte Geheimnis seines Vaters wieder auf, aber nicht als Kriminalfall, sondern als Virus, der auf das geschwächte Immunsystem des Sohnes überspringt. Juan erfährt, Ranz habe auch seine erste Frau, eine Kubanerin, durch einen gewaltsamen Tod verloren. Allein im dunklen Schlafzimmer liegend, hört er unbemerkt mit, als Ranz gegenüber Luisa seine Geschichte preisgibt. Tatsächlich handelt sie von unbedacht gesprochenen Worten, die sich verselbständigten, von einem Mord, der leicht zu verbergen war und den Mörder vierzig Jahre beschäftigte, ohne daß sein Gewissen ihn gehindert hätte, sich einen eleganten Mantel zu kaufen und morgens sein Haar zu pudern.
Nur wer den Autor an diesem Punkt nicht begriffen hat, könnte ihm wegen der Weigerung, eine Beichte mit Zerknirschung und Reue zu liefern, moralische Gleichgültigkeit vorwerfen. Wie sollte er das anstellen, wo alle Säulen, auf denen die Konstruktion ruht, am Ende des Buches weggebrochen sind? Ebendarin liegt die Entzauberung, die Javier Marías in seinem grandiosen Roman vornimmt. Er hebt den Mechanismus von Schuld und Bekenntnis auf, weil er nicht daran glaubt, daß Geständnisse die Welt besser machen - nicht den Mörder, aber auch nicht seinen weltlichen Beichtvater.
Javier Marías: "Mein Herz so weiß". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1996. 365 S., geb., 36,- DM.
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Der wohl beste Roman eines der wohl besten Stilisten unserer Zeit. Aachener Zeitung 20210731
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Was nun?
Die Halbwertszeiten aktueller Romane sind oft nach Monaten gezählt, allenfalls ein Bruchteil davon interessiert nach Jahren noch die Leser, einer jahrzehntelangen Wertschätzung aber erfreuen sich nur ganz wenige. Zu diesen besonderen Romanen gehört zweifellos «Mein …
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Was nun?
Die Halbwertszeiten aktueller Romane sind oft nach Monaten gezählt, allenfalls ein Bruchteil davon interessiert nach Jahren noch die Leser, einer jahrzehntelangen Wertschätzung aber erfreuen sich nur ganz wenige. Zu diesen besonderen Romanen gehört zweifellos «Mein Herz so weiß» von Javier Marías, einst hoch gelobt vom Feuilleton und seiner damaligen Lichtgestalt Marcel Reich-Ranicki. «Hingehen, kaufen, lesen» hatte Andreas Isenschmid in der «Weltwoche» geschrieben. Auch ich war damals begeistert von diesem Buch, und ich bin es nach erneutem Lesen heute immer noch, soviel sei vorab schon mal gesagt. Lady Macbeth spricht die Worte aus, denen der Titel des Romans entlehnt ist, «I shame to wear a heart so white». Sie hat den Mord an Duncan nicht begangen, ihr Herz ist weiß, aber sie hatte dazu angestiftet, eine Schuld, die sie letztendlich in den Selbstmord treibt. Dies ist auch das Hauptmotiv des vorliegenden Romans, der wie mit einem Paukenschlag beginnt, dem Selbstmord einer jungen Frau unmittelbar nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise. Niemand wird das Buch aus der Hand legen, bevor er nicht erfahren hat, was die Ursache war für diese rätselhafte Verzweiflungstat, der Autor hat seine Leser also fest an der Angel, und das bis zum Schluss.
Es geht um die Macht der Worte in diesem Roman, um die Sprache als Werkzeug, um ihre Auswirkung auf das Geschehen. Ich-Erzähler Juan ist Dolmetscher von Beruf, Worte sind also sein Metier, von ihm überaus virtuos beherrscht. Er arbeitet für internationale Organisationen, ist dauernd unterwegs zwischen seiner Heimatstadt Madrid und New York, Genf, Brüssel. Bei einem seiner Aufträge lernt er Luisa kennen, die ihm als Ko-Dolmetscherin beigestellt ist, seine Übersetzung also überwachen muss. Amüsant zu lesen, wie der Small Talk zwischen zwei drögen Staatslenkern mangels Gesprächsstoff peinlich zu werden droht, wie Juan plötzlich, abweichend von den Politikerworten, eine ganz andere Frage stellt Luisa greift zum Glück nicht ein und damit erst wirklich ein sinnvolles Gespräch in Gang bringt. Als er später Luisa heiratet, nimmt ihn sein Vater bei der Hochzeitsfeier zur Seite und fragt lapidar: «Was nun»? Ehe und Liebe mit allen ihren Gefährdungen sind ein weiteres dominantes Thema dieses Romans, dargestellt an den deprimierenden, zum Scheitern verurteilten, letztendlich rein sexuellen Männerkontakten von Juans New Yorker Kollegin über die drei Ehen seines lebensgierigen Vaters Ranz bis hin zu seiner eigenen, jungen Ehe, die wenig emotional, eher cool dargestellt wird. Ranz ist im berühmten Prado-Museum angestellt, verfasst nebenbei private Gutachten über Gemälde und tätigt mancherlei dubiose, juristisch grenzwertige Geschäfte auf eigene Rechnung. Neben den Details aus der Dolmetscher-Szene erfährt der Leser also auch viel Interessantes aus der Welt der Malerei und der Museen, von Fälschern und von Kunst-Spekulanten.
Der raffiniert aufgebaute Plot ist in einer anspruchsvollen Sprache geschrieben, die mit langen Satzkaskaden und häufig zusätzlich (in Klammern) eingefügten Anmerkungen alles andere als leicht lesbar ist. Das Geschehen ergibt sich zum überwiegenden Teil direkt aus den Schilderungen des Ich-Erzählers, die Geschichte ist auffallend dialogarm aufgebaut. Weite Passagen des Romans werden in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, und oft handelt es sich dabei um ausgesprochen kontemplative Einschübe. Dezidiert leitmotivisch erscheinen mehrmals rätselhafte, nächtliche Beobachter auf der Straße, wartend zu einem Fenster hinaufschauend. Auch das Feuer wird als Leitmotiv verwendet, und das Macbeth-Motiv taucht ebenfalls ein zweites Mal auf, vorspielartig gleich zu Beginn.
«Ich wollte es nicht wissen» beginnt der erste Satz des Romans.Die Wahrheit enthüllt sich weitgehend zufällig durch Gespräche, die unversehens Licht in die düstere Vergangenheit bringen. Auch Juan fragt sich am Ende: «Was nun»? Der Wirkung all dessen kann sich der Leser nur schwer entziehen.
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Broschiertes Buch
Reich-Ranickis Irrtum
Was der frühere Literaturpapst für ein Meisterwerk hielt, konnte mich keinesfalls überzeugen.
Ausgesprochen lange Sätze und so ausführliche Beschreibungen, dass die Handlung kaum voran kommt, erzeugten bei mir eine solche Langeweile, dass ich das …
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Reich-Ranickis Irrtum
Was der frühere Literaturpapst für ein Meisterwerk hielt, konnte mich keinesfalls überzeugen.
Ausgesprochen lange Sätze und so ausführliche Beschreibungen, dass die Handlung kaum voran kommt, erzeugten bei mir eine solche Langeweile, dass ich das Buch nach nur 66 Seiten aus der Hand legte.
Nach meinen Kriterien heißt das 1 Stern für das Buch eines Autors, der im letzten Jahr starb und wegen Reich-Ranickis Kritik erst in Deutschland und dann in der ganzen Welt berühmt wurde.
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„Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, es ist nicht möglich, das zu wissen.“ (Zitat Seite …
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Anspruchsvoll, aber es lohnt sich
„Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, es ist nicht möglich, das zu wissen.“ (Zitat Seite 217)
Inhalt
„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe es erfahren …“ so beginnt dieser Roman. Juan, der nun erwachsene, seit weniger als einem Jahr selbst verheiratete Ich-Erzähler, wächst mit Andeutungen auf, die Ehefrauen seines Vaters Ranz betreffend. Es geht um Teresa, die kurz nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise gestorben ist. Teresa war Juans Tante, denn sein Vater hat später deren jüngere Schwester Juana geheiratet, Juans Mutter. Nach Juans Heirat mit Luisa mehren sich in Juans Bekanntenkreis Andeutungen an die Geschehnisse in der Vergangenheit und vor allem Luisa möchte wissen, was damals wirklich passiert ist. „Vielleicht hat er all diese Jahre darauf gewartet, dass in deinem Leben jemand wie ich auftaucht, jemand, der zwischen ihm und dir vermitteln kann, ihr Väter und Söhne seid sehr ungeschickt miteinander.“ (Zitat Seite 169)
Thema und Genre
In diesem Roman, heute ein moderner Klassiker, geht es um die Möglichkeiten der Sprache als Ausdrucksmittel und Kommunikationsform, um Beziehungen, Familie, um Geheimnisse der Vergangenheit, die auch in der Gegenwart präsent sind und diese prägen und um die Frage, ob Verschweigen bereits eine Lüge ist. Wird eine Schuld durch ein Geständnis geringer, oder aber, indem man darüber schweigt und sie eines Tages dann weit zurück in der nicht mehr veränderbaren Vergangenheit liegt?
Charaktere
Juan arbeitet als Dolmetscher und Übersetzer, wie auch Luisa, mit der er seit knapp einem Jahr verheiratet ist. Sogar seine Gedanken sind von der Kraft der Sprache und der Worte durchdrungen. Am Tag seiner Hochzeit fragt ihn sein Vater: „was nun?“ und genau diese Frage stellt sich auch Juan bereits während der Hochzeitsreise und immer wieder in den Monaten danach.
Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt innerhalb einer Gegenwart, die nicht ganz ein Jahr umfasst, und einer erinnerten nahen und ferneren Vergangenheit. Die Handlung besteht aus einzelnen Episoden, deren Zusammenhänge man erst gegen Ende der Geschichte erfährt, oder auch nicht. Juan schildert seine Geschichte als Ich-Erzähler, wobei seine Gedanken, Überlegungen, Befindlichkeiten und Ängste den größten Raum dieses Romans einnehmen. Es ist bekannt, dass bei Javier Marías die Sprache im Vordergrund steht, die genauen, sehr ausführlichen Beschreibungen der Gedanken seiner Hauptfiguren in langen Satzgebilden. Auch die Konflikte hinterfragen das Verhalten der Menschen in familiären Beziehungen und beobachten es aus unterschiedlichen psychologischen Blickwinkeln und Fragenstellungen.
Fazit
Sowohl die Problematik, die Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt, als auch die kraftvolle Sprache mit langen Sätzen und Satzfolgen, noch ergänzt durch weitere Gedankensprünge und Einschübe in Klammern, machen aus diesem Roman keine Lektüre, die man eben mal so zwischendurch liest, dieses Buch verlangt die Aufmerksamkeit der Lesenden von der ersten bis zur letzten Seite. Diese Zeit sollte man sich nehmen.
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