Sie ist eine elegant gekleidete junge Frau, die in einer westfälischen Mittelstadt lebt. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. manchmal trägt sie eine Sonnenbrille, um ihr zerschlagenes Gesicht zu verbergen. Oder Kleider mit langen Ärmeln, damit an die blauen Flecke nicht sieht. Eines Tages ist ihr Mann verschwunden. Sie hat ihn erschlagen, zerstückelt und beiseitegeschafft. Sie heißt Ellen Rinsche, ist achtunddreißig Jahre alt und wohnt in einer Villa mitten in der Stadt. Bis dahin war sie unbescholten. Jetzt wird sie zur Gattenmörderin und damit zur Inkarnation bürgerlicher Verworfenheit. Es ist ein Schicksal, das zwei Menschen miteinander verbindet, die einander besser nie begegnet wären: Ellen, Tochter aus großbürgerlichem Hause, leichtlebig, kokett und auf der Suche nach der wahren Liebe, und Josef Rinsche, Sohn eines kleinen Beamten, fasziniert von Ellens Welt und gleichzeitig voller Selbstzweifel und Hass. Vielleicht war es am Anfang Liebe. Noch am Ende wird klar, dass Josef ein Hochstapler und Tyrann, ein Schläger und Sadist ist. Ellen beginnt sich zu wehren; sie stolpert und fällt. Sie steht wieder auf. Sie gerät ins Rutschen. Und rutscht immer tiefer. Dem Abgrund entgegen. Der bekannte Journalist Volker Mauersberger zeichnet anhand detaillierter Polizei- und Prozessakten einen Mordfall nach, der sich 1949 ereignete und der tief hineinführt in die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Mit genauem Blick schildert er dieses beklemmende Frauenschicksal, das sich so nur in der ganz eigenen Atmosphäre der ersten Stunden der Republik hat zutragen können. Behutsam werden alle Aspekte dieser schicksalhaften Verbindung zweier Menschen beleuchtet, an deren Ende ein erbrechen steht, das alles übersteigt, was in der Welt der Fiktion erdacht werden kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2009Zwischendurch ein Pils
Deutsche Zeitgeschichte am Beispiel eines Kriminalfalls
Es war zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz war nicht einmal fünf Monate in Kraft, der Bundestag hatte soeben seine konstituierende Sitzung abgehalten, Konrad Adenauer aber war noch nicht zum Bundeskanzler gewählt worden. In Gevelsberg, gelegen zwischen Wuppertal und Hagen, erschlug eine Frau - Ellen Rinsche mit Namen - ihren Mann. Sie tat es mit dem Bügeleisen. Sie zersägte die Leiche und schaffte die Einzelteile - auf Karren, in Taschen und Koffern - beseite. Zwischendurch ein Pils. Nach Wuppertal in die Toilette eines Kinos oder auch in die Ruhr. Ziemlich rasch wurde der Fall aufgeklärt. Die Frau, obwohl aus besseren Verhältnissen stammend und nicht ungebildet, wusste nicht, dass die Todesstrafe in der ganz jungen Bundesrepublik abgeschafft war. In Limburg kam sie ins Zuchthaus - damals gab es das noch. Zwölf Jahre hätte sie absitzen müssen. Sie soll sich erhängt haben.
Volker Mauersberger ist Journalist. Er ist in Gevelsberg aufgewachsen, und er hatte noch im Ohr, wie manche Eltern ihren Kindern, wenn sie frech und ungehorsam waren, damit drohten, wenn sie nicht bald brav und gehorsam seien, würden sie von "der Rinsche" geholt. Mauersberger, der für Radioanstalten und Zeitungen berichtet hatte, aus Madrid und auch aus Bonn, wollte später, nach seiner Pensionierung, einen Kriminalroman, einen Thriller gar, schreiben. Er fuhr nach Gevelsberg. Er wusste, wo "die Rinsche" und ihr brutaler Mann Josef gewohnt hatten. Einen der mit dem Fall befassten Kriminalbeamten, den aus Gevelsberg, hatte Mauersberger noch persönlich gekannt. Als ihm, dem Jugendlichen, sein erstes Fahrrad gestohlen wurde und er damit rechnen musste, nie mehr im Leben von seinen Eltern ein Rad geschenkt zu bekommen, hat es der Beamte wiederbeschafft. Mauersberger kann erzählen, als ob die Leute auf ihn gewartet hätten. Eigentlich hätten die Polizei- und Justizakten zum Mordfall des Jahres 1949 längst vernichtet sein müssen. Sie waren es nicht, und sie bilden die Grundlage für einen - ja was? Roman, Krimi, Sachbuch oder ein zeitgeschichtliches Werk? Der Kölner Verleger Hermann-Josef Emons hat es Roman genannt, vielleicht, weil "Dokumentation" oder auch "Sittengemälde" - was tatsächlich gezeichnet wird - ziemlich langweilig geklungen hätten. Filmreif ist die Geschichte mit Sicherheit - in Schwarz-weiß mit ziemlich vielen Grautönen. Das Gute und das Böse, Schuld und Verantwortung seien heute anders verteilt als damals - vier Jahre nach dem Krieg, nach der Zeit der Nazis.
Es ist eine Geschichte aus vergangenen Zeiten, und es wird geschildert, wie es im Deutschland vor sechzig Jahren gewesen ist. Die Leute gingen, weil es da "halbnackte Mädchen", die auf Pferden geritten sein sollen, zu sehen gab, immer wieder in den gleichen Film: "Große Freiheit Nummer 7". Mädchen mit Dekolleté und Hans Albers mit Schiffermütze. Es geht um "die Rinsche", deren Eltern es mit Sorge sahen, dass das Mädchen sich mit Jungen einließ, die das verhindern wollten, aber nicht konnten, und je mehr sie es versuchten, desto - vermeintlich - inniger wurde die Beziehung zu dem jungen Mann, der erst wohl ganz nett, aber auf Dauer nicht angemessen war. Es kam die Schwangerschaft, und dann musste - so wollten es dann alle - auch die Hochzeit kommen. Die Ehe wurde für die Frau zur Hölle des Geschlagen-, Vergewaltigt- und Betrogenwerdens. Ausführlich wird aus den Protokollen der Justiz zitiert. "Einmal bin ich mit dem Kopf gegen die Türkante geflogen; die Narben habe ich noch heute. Ich hätte zum Arzt gemusst, aber ich hatte Angst, dem Doktor die Wahrheit zu sagen." Freundinnen rieten ihr zur Scheidung oder wenigstens zum Gang zur Polizei, was für sie und ihre Familie nicht in Frage kam - auch wegen des Versorgungsrechts. Die Lösung sah sie im Bügeleisen. Und weil sie im Krieg schon einmal wegen des Diebstahls von "Feldpost" verhaftet worden war und dann im Verfahren "auf Biegen und Brechen" gelogen hatte und weil der Polizist aus Gevelsberg das wusste, wurde ihr nicht geglaubt, dass sie in Notwehr ihren Mann erschlagen habe.
"Kommt die Gattenmörderin frei?" hatten Überschriften gelautet, als das ganze Verfahren bis hin zum Strafsenat des Bundesgerichtshofs gelangt war. Der Fall "Rinsche" war dessen erste Entscheidung, nach der, schreibt Mauersberger, der Fall neu aufgerollt werden musste. Doch es blieb bei zwölf Jahren Zuchthaus. Mildernde Umstände seien nicht zu erkennen, habe der Staatsanwalt dargelegt. Zeitungsberichte werden zitiert: "Wie in der Hauptverhandlung nimmt ein großer Kreis von Zuhörern teil. Wieder spiegelt sich das Entsetzen in den Gesichtern, als die grausame Tat in allen Einzelheiten geschildert wird." Nichts wäre heute so gewesen wie damals: nicht das Urteil, nicht das Verfahren, womöglich nicht einmal die Tat und auch nicht die Form der Öffentlichkeit. Lokalzeitungen hatten den Fall aufgegriffen, das Krawallfernsehen gab es nicht, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung befand sich noch in Gründung.
GÜNTER BANNAS
Volker Mauersberger: Kalte Wut. Der Fall Ellen Rinsche. Emons Verlag, Köln 2009. 240 Seiten, 17,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsche Zeitgeschichte am Beispiel eines Kriminalfalls
Es war zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz war nicht einmal fünf Monate in Kraft, der Bundestag hatte soeben seine konstituierende Sitzung abgehalten, Konrad Adenauer aber war noch nicht zum Bundeskanzler gewählt worden. In Gevelsberg, gelegen zwischen Wuppertal und Hagen, erschlug eine Frau - Ellen Rinsche mit Namen - ihren Mann. Sie tat es mit dem Bügeleisen. Sie zersägte die Leiche und schaffte die Einzelteile - auf Karren, in Taschen und Koffern - beseite. Zwischendurch ein Pils. Nach Wuppertal in die Toilette eines Kinos oder auch in die Ruhr. Ziemlich rasch wurde der Fall aufgeklärt. Die Frau, obwohl aus besseren Verhältnissen stammend und nicht ungebildet, wusste nicht, dass die Todesstrafe in der ganz jungen Bundesrepublik abgeschafft war. In Limburg kam sie ins Zuchthaus - damals gab es das noch. Zwölf Jahre hätte sie absitzen müssen. Sie soll sich erhängt haben.
Volker Mauersberger ist Journalist. Er ist in Gevelsberg aufgewachsen, und er hatte noch im Ohr, wie manche Eltern ihren Kindern, wenn sie frech und ungehorsam waren, damit drohten, wenn sie nicht bald brav und gehorsam seien, würden sie von "der Rinsche" geholt. Mauersberger, der für Radioanstalten und Zeitungen berichtet hatte, aus Madrid und auch aus Bonn, wollte später, nach seiner Pensionierung, einen Kriminalroman, einen Thriller gar, schreiben. Er fuhr nach Gevelsberg. Er wusste, wo "die Rinsche" und ihr brutaler Mann Josef gewohnt hatten. Einen der mit dem Fall befassten Kriminalbeamten, den aus Gevelsberg, hatte Mauersberger noch persönlich gekannt. Als ihm, dem Jugendlichen, sein erstes Fahrrad gestohlen wurde und er damit rechnen musste, nie mehr im Leben von seinen Eltern ein Rad geschenkt zu bekommen, hat es der Beamte wiederbeschafft. Mauersberger kann erzählen, als ob die Leute auf ihn gewartet hätten. Eigentlich hätten die Polizei- und Justizakten zum Mordfall des Jahres 1949 längst vernichtet sein müssen. Sie waren es nicht, und sie bilden die Grundlage für einen - ja was? Roman, Krimi, Sachbuch oder ein zeitgeschichtliches Werk? Der Kölner Verleger Hermann-Josef Emons hat es Roman genannt, vielleicht, weil "Dokumentation" oder auch "Sittengemälde" - was tatsächlich gezeichnet wird - ziemlich langweilig geklungen hätten. Filmreif ist die Geschichte mit Sicherheit - in Schwarz-weiß mit ziemlich vielen Grautönen. Das Gute und das Böse, Schuld und Verantwortung seien heute anders verteilt als damals - vier Jahre nach dem Krieg, nach der Zeit der Nazis.
Es ist eine Geschichte aus vergangenen Zeiten, und es wird geschildert, wie es im Deutschland vor sechzig Jahren gewesen ist. Die Leute gingen, weil es da "halbnackte Mädchen", die auf Pferden geritten sein sollen, zu sehen gab, immer wieder in den gleichen Film: "Große Freiheit Nummer 7". Mädchen mit Dekolleté und Hans Albers mit Schiffermütze. Es geht um "die Rinsche", deren Eltern es mit Sorge sahen, dass das Mädchen sich mit Jungen einließ, die das verhindern wollten, aber nicht konnten, und je mehr sie es versuchten, desto - vermeintlich - inniger wurde die Beziehung zu dem jungen Mann, der erst wohl ganz nett, aber auf Dauer nicht angemessen war. Es kam die Schwangerschaft, und dann musste - so wollten es dann alle - auch die Hochzeit kommen. Die Ehe wurde für die Frau zur Hölle des Geschlagen-, Vergewaltigt- und Betrogenwerdens. Ausführlich wird aus den Protokollen der Justiz zitiert. "Einmal bin ich mit dem Kopf gegen die Türkante geflogen; die Narben habe ich noch heute. Ich hätte zum Arzt gemusst, aber ich hatte Angst, dem Doktor die Wahrheit zu sagen." Freundinnen rieten ihr zur Scheidung oder wenigstens zum Gang zur Polizei, was für sie und ihre Familie nicht in Frage kam - auch wegen des Versorgungsrechts. Die Lösung sah sie im Bügeleisen. Und weil sie im Krieg schon einmal wegen des Diebstahls von "Feldpost" verhaftet worden war und dann im Verfahren "auf Biegen und Brechen" gelogen hatte und weil der Polizist aus Gevelsberg das wusste, wurde ihr nicht geglaubt, dass sie in Notwehr ihren Mann erschlagen habe.
"Kommt die Gattenmörderin frei?" hatten Überschriften gelautet, als das ganze Verfahren bis hin zum Strafsenat des Bundesgerichtshofs gelangt war. Der Fall "Rinsche" war dessen erste Entscheidung, nach der, schreibt Mauersberger, der Fall neu aufgerollt werden musste. Doch es blieb bei zwölf Jahren Zuchthaus. Mildernde Umstände seien nicht zu erkennen, habe der Staatsanwalt dargelegt. Zeitungsberichte werden zitiert: "Wie in der Hauptverhandlung nimmt ein großer Kreis von Zuhörern teil. Wieder spiegelt sich das Entsetzen in den Gesichtern, als die grausame Tat in allen Einzelheiten geschildert wird." Nichts wäre heute so gewesen wie damals: nicht das Urteil, nicht das Verfahren, womöglich nicht einmal die Tat und auch nicht die Form der Öffentlichkeit. Lokalzeitungen hatten den Fall aufgegriffen, das Krawallfernsehen gab es nicht, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung befand sich noch in Gründung.
GÜNTER BANNAS
Volker Mauersberger: Kalte Wut. Der Fall Ellen Rinsche. Emons Verlag, Köln 2009. 240 Seiten, 17,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main