Uwe Johnson
Broschiertes Buch
Jahrestage 1-4
Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Herausgeber: Michael, Rolf
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Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert -...
Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert - eine »Lese-Weltreise« (Reinhard Baumgart) in die bewegte New Yorker Gegenwart des Jahres 1968 und zugleich in die Geschichte einer deutschen Familie seit der Weimarer Republik. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman "Jahrestage" ist unter dem Titel "Kleines Adressbuch für Jerichow und New York" separat erhältlich.
Uwe Johnson wurde am 20. Juli 1934 in Kammin (Pommern), dem heutigen Kamien Pomorski, geboren und starb am 22. oder 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea. 1945 floh er mit seiner Mutter und seiner Schwester zunächst nach Recknitz, dann nach Güstrow in Mecklenburg. Sein Vater wurde von der Roten Armee interniert und 1948 für tot erklärt. 1953 schrieb er sich an der Universität Leipzig als Germanistikstudent ein und legte sein Diplom über Ernst Barlachs Der gestohlene Mond ab. Bereits während des Studiums begann er mit der Niederschrift des Romans Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Er bot ihn 1956 verschiedenen Verlagen der DDR an, die eine Publikation ablehnten. 1957 lehnte auch Peter Suhrkamp die Veröffentlichung ab. Der Roman wurde erst nach dem Tode von Uwe Johnson veröffentlicht. Der erste veröffentlichte Roman von Uwe Johnson ist Mutmassungen über Jakob. Von 1966 - 1968 lebte Uwe Johnson in New York. Das erste Jahr dort arbeitete er als Schulbuch-Lektor, das zweite wurde durch ein Stipendium finanziert. Am 29. Januar 1968 schrieb er in New York die ersten Zeilen der Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl nieder. Deren erste ¿Lieferung¿ erschien 1970. Die Teile zwei und drei schlossen sich 1971 und 1973 an. 1974 zog Uwe Johnson nach Sheerness-on Sea in der englischen Grafschaft Kent an der Themsemündung. Dort begann er unter einer Schreibblockade zu leiden, weshalb der letzte Teil der Jahrestage erst 1983 erscheinen konnte. 1979 war Uwe Johnson Gastdozent für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Ein Jahr später erschienen seine Vorlesungen unter dem Titel Begleitumstände. Sein Nachlass befindet sich im Uwe Johnson-Archiv an der Universität Rostock.
Produktbeschreibung
- suhrkamp taschenbuch 4455
- Verlag: Suhrkamp
- Artikelnr. des Verlages: ST 4455
- 4. Aufl.
- Seitenzahl: 2150
- Erscheinungstermin: 15. Juli 2013
- Deutsch
- Abmessung: 221mm x 137mm x 129mm
- Gewicht: 2078g
- ISBN-13: 9783518464557
- ISBN-10: 3518464558
- Artikelnr.: 36838892
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
Gesines Geist
Amerika entdeckt Uwe Johnsons "Jahrestage"
NEW YORK, im November
Gute Bücher haben immer ihre Zeit. So sollte es jedenfalls sein. Der Markt für sie aber ist weniger unbestimmt. Da ist die Zeit für ein gutes Buch möglicherweise schnell vorbei. Oder noch gar nicht angebrochen. Und so ist es nicht ganz müßig zu fragen, warum Uwe Johnsons "Jahrestage" erstmals jetzt vollständig ins Englische übersetzt wurden, 48 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes, 35 nach Erscheinen des letzten und fünfzig Jahre nach der Zeit, in der dieser Roman spielt (zwischen dem 21. August 1967 und dem 20. August 1968). Was hat es damit auf sich?
Die Amerikaner haben, was Bücher angeht, immer schon einen
Amerika entdeckt Uwe Johnsons "Jahrestage"
NEW YORK, im November
Gute Bücher haben immer ihre Zeit. So sollte es jedenfalls sein. Der Markt für sie aber ist weniger unbestimmt. Da ist die Zeit für ein gutes Buch möglicherweise schnell vorbei. Oder noch gar nicht angebrochen. Und so ist es nicht ganz müßig zu fragen, warum Uwe Johnsons "Jahrestage" erstmals jetzt vollständig ins Englische übersetzt wurden, 48 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes, 35 nach Erscheinen des letzten und fünfzig Jahre nach der Zeit, in der dieser Roman spielt (zwischen dem 21. August 1967 und dem 20. August 1968). Was hat es damit auf sich?
Die Amerikaner haben, was Bücher angeht, immer schon einen
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immensen Exportüberschuss zu verzeichnen, während die Deutschen auf diesem Gebiet eher im unteren Mittelbereich liegen. Aus der aktuellen belletristischen Produktion wird sehr wenig für den englischsprachigen Markt übersetzt. Aus Gründen, die nicht immer durchschaubar sind, entdecken die Amerikaner dann aber plötzlich einen deutschsprachigen Klassiker für sich und sind selbst erstaunt, warum es so lange gedauert hat. Vor einigen Jahren war das Stefan Zweig. Davor Joseph Roth. Davor W. G. Sebald. Jetzt ist es Uwe Johnson.
Seine späte Würdigung durch die Amerikaner ist besonders rätselhaft, spielen doch seine "Jahrestage" in New York. Die "New York Times" hat eine der Hauptrollen. Vermutlich war einiges, wenn nicht vieles - die Schlagzeilen aus der "Times" sicher, die Dialoge wahrscheinlich - ursprünglich Englisch und wurde von Johnson ins Deutsche gebracht. Es nützte offenbar nichts, obwohl sich das Ganze deutlich kurzweiliger liest, als die Länge von mehr als zweitausend deutschen Seiten, die im Englischen auf 1720 schrumpften, vermuten lässt. Es gab Versuche, in den siebziger Jahren, in einer längst vergriffenen Ausgabe. Übersetzer und Verlag gaben damals auf, als Uwe Johnsons Schreibblockade das Erscheinen des letzten Bandes um mehr als ein Jahrzehnt verzögerte. Umso heroischer das Engagement des Verlags der "New York Review of Books" und aller Beteiligten für den neuen Anlauf und die vollständige Fassung. Immerhin neunhundert Seiten, so der Übersetzer Damion Searls, waren bisher nicht übersetzt, der Rest wurde gründlich überarbeitet.
Bei der Buchvorstellung im New Yorker Goethe-Institut wurde die Frage "warum jetzt?" weder gestellt noch beantwortet. Wahrscheinlich gibt es auch keine Antwort außer dieser: Der Verlag hat es eben jetzt gewagt. Damion Searls hat, neben vielen anderen Dingen, die er tat, eben jetzt die Übersetzung des Riesenwerks abgeschlossen, das am Abend in zwei broschierten Bänden im Schuber für dreißig Dollar verkauft wurde. Ein Schnäppchen. Dazu gibt es bis zum Ende des Monats ein Filmprogramm, unter anderem mit Margarethe von Trottas Verfilmung, eine Zeitung, eine Installation, eine Playlist mit Songs der Zeit, eine interaktive Wanderung durch das New York der Gesine Cresspahl, der Hauptfigur, alles produziert, arrangiert, organisiert vom Goethe-Institut. Großer Bahnhof also, aber doch - wer wird das Buch lesen, das hier "Anniversaries" heißt und von einem Autor stammt, den selbst in New York niemand kennt?
Die etwa sechzig Menschen, die ins Goethe-Institut gekommen waren, um den Übersetzer im Gespräch mit der Schriftstellerin Renata Adler und der Literaturwissenschaftlerin Liesl Schillinger zu hören, kauften zurückhaltend, aßen und tranken aber gern, was danach geboten wurde. Auch dafür wird das Goethe-Institut in New York geschätzt: Es gibt immer freie Drinks.
Dass niemand nach Sinn und Zweck, dem öffentlichen Interesse und dem Zeitbezug fragte, sondern sich alle damit zufriedengaben, über ein Buch informiert zu werden, das in seiner Anlage einmalig und seiner Zeit voraus war, das von Deutschland, und zwar von beiden Teilen, ebenso handelt wie von New York in jener Zeit und von seiner stolzesten Zeitung und den Nachrichten dort, immer wieder aus dem Vietnam-Krieg - es spricht nichts dagegen, das für ein Zeichen der Reinheit des literarischen Interesses zu nehmen. "Auf Augenhöhe" mit Tolstoi nannte Searls das Kapitel, das während der Heuernte in Mecklenburg-Vorpommern spielt.
Und dann gab er den Zuhörern doch noch einen Hinweis darauf, was dieses Buch so wertvoll für einen Zeitgenossen macht - dass Gesine Cresspahl eine alleinerziehende Frau ist, eine Immigrantin, berufstätig und ständig aktuell über die Zeitläufte informiert und nachdenkend: Das ist eine großartige Frauenfigur, ein Vorbild, so Searls, umso mehr, als sie von einem Mann erfunden wurde. Das alte New York ersteht dadurch nicht wieder. Aber der Geist der Gesine Cresspahl ist angekommen.
VERENA LUEKEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seine späte Würdigung durch die Amerikaner ist besonders rätselhaft, spielen doch seine "Jahrestage" in New York. Die "New York Times" hat eine der Hauptrollen. Vermutlich war einiges, wenn nicht vieles - die Schlagzeilen aus der "Times" sicher, die Dialoge wahrscheinlich - ursprünglich Englisch und wurde von Johnson ins Deutsche gebracht. Es nützte offenbar nichts, obwohl sich das Ganze deutlich kurzweiliger liest, als die Länge von mehr als zweitausend deutschen Seiten, die im Englischen auf 1720 schrumpften, vermuten lässt. Es gab Versuche, in den siebziger Jahren, in einer längst vergriffenen Ausgabe. Übersetzer und Verlag gaben damals auf, als Uwe Johnsons Schreibblockade das Erscheinen des letzten Bandes um mehr als ein Jahrzehnt verzögerte. Umso heroischer das Engagement des Verlags der "New York Review of Books" und aller Beteiligten für den neuen Anlauf und die vollständige Fassung. Immerhin neunhundert Seiten, so der Übersetzer Damion Searls, waren bisher nicht übersetzt, der Rest wurde gründlich überarbeitet.
Bei der Buchvorstellung im New Yorker Goethe-Institut wurde die Frage "warum jetzt?" weder gestellt noch beantwortet. Wahrscheinlich gibt es auch keine Antwort außer dieser: Der Verlag hat es eben jetzt gewagt. Damion Searls hat, neben vielen anderen Dingen, die er tat, eben jetzt die Übersetzung des Riesenwerks abgeschlossen, das am Abend in zwei broschierten Bänden im Schuber für dreißig Dollar verkauft wurde. Ein Schnäppchen. Dazu gibt es bis zum Ende des Monats ein Filmprogramm, unter anderem mit Margarethe von Trottas Verfilmung, eine Zeitung, eine Installation, eine Playlist mit Songs der Zeit, eine interaktive Wanderung durch das New York der Gesine Cresspahl, der Hauptfigur, alles produziert, arrangiert, organisiert vom Goethe-Institut. Großer Bahnhof also, aber doch - wer wird das Buch lesen, das hier "Anniversaries" heißt und von einem Autor stammt, den selbst in New York niemand kennt?
Die etwa sechzig Menschen, die ins Goethe-Institut gekommen waren, um den Übersetzer im Gespräch mit der Schriftstellerin Renata Adler und der Literaturwissenschaftlerin Liesl Schillinger zu hören, kauften zurückhaltend, aßen und tranken aber gern, was danach geboten wurde. Auch dafür wird das Goethe-Institut in New York geschätzt: Es gibt immer freie Drinks.
Dass niemand nach Sinn und Zweck, dem öffentlichen Interesse und dem Zeitbezug fragte, sondern sich alle damit zufriedengaben, über ein Buch informiert zu werden, das in seiner Anlage einmalig und seiner Zeit voraus war, das von Deutschland, und zwar von beiden Teilen, ebenso handelt wie von New York in jener Zeit und von seiner stolzesten Zeitung und den Nachrichten dort, immer wieder aus dem Vietnam-Krieg - es spricht nichts dagegen, das für ein Zeichen der Reinheit des literarischen Interesses zu nehmen. "Auf Augenhöhe" mit Tolstoi nannte Searls das Kapitel, das während der Heuernte in Mecklenburg-Vorpommern spielt.
Und dann gab er den Zuhörern doch noch einen Hinweis darauf, was dieses Buch so wertvoll für einen Zeitgenossen macht - dass Gesine Cresspahl eine alleinerziehende Frau ist, eine Immigrantin, berufstätig und ständig aktuell über die Zeitläufte informiert und nachdenkend: Das ist eine großartige Frauenfigur, ein Vorbild, so Searls, umso mehr, als sie von einem Mann erfunden wurde. Das alte New York ersteht dadurch nicht wieder. Aber der Geist der Gesine Cresspahl ist angekommen.
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Ein literarischer Triumph - das ist Uwe Johnsons Jahrestage. Nicht nur wegen der Qualität dieses knapp 2000 Seiten umfassenden Romans 'in vier Lieferungen', sondern auch in biografischer Hinsicht: Nachdem die ersten drei Bände von 1970 bis 1973 erschienen waren, dauerte es zehn qualvolle Jahre, bis 1983 der Abschlussband fertig war. Pflichtlektüre für Literaturliebhaber.« Wiener Zeitung 20130810
Einen 2150-Seiten-Roman kurz zu rezensieren und dazu noch ein epochales Ausnahmewerk, ist schon ein schwieriges Unterfangen. Aber hier ist der Versuch.
In „Jahrestage“ beschreibt Uwe Johnson ein Jahr (vom 20. August 1967 bis 20. August 1968) im Leben der Gesine Cresspahl. . Das …
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Einen 2150-Seiten-Roman kurz zu rezensieren und dazu noch ein epochales Ausnahmewerk, ist schon ein schwieriges Unterfangen. Aber hier ist der Versuch.
In „Jahrestage“ beschreibt Uwe Johnson ein Jahr (vom 20. August 1967 bis 20. August 1968) im Leben der Gesine Cresspahl. . Das Geburtsdatum Gesines (3. März 1933) und der letzte Tag im Roman mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag geben den historischen Rahmen der Romantetralogie. Dabei verbindet Johnson Gesines Gegenwart mit ihrer Vergangenheit, indem er sie ihrer 10-jährigen Tochter, ihre Familiengeschichte erzählen lässt. Die aus Jerichow stammende Gesine Cresspahl, die 1953 die DDR in Richtung Westen verließ, fand zunächst in einer NATO-Dienststelle, dann bei einer Bank Arbeit. In der BRD lebte sie in Düsseldorf, wo sie auch ihre Tochter Marie bekam. Der Vater (Jakob Abs) kehrte allerdings in den Osten zurück, wo er bei einem Unfall ums Leben kam.
1961 ist Gesine nach New York gegangen und lebt dort seit sechs Jahren als Fremdsprachenkorrespondentin. Gesines reicher Freund Dietrich Erichson ist selten da, denn in seiner Tätigkeit für die NATO ist er ständig unterwegs. Während ihre inzwischen zehnjährige Tochter New York als neue Heimat angenommen hat, sucht Gesine weiter nach einem Rückhalt.
Jeden Tag holt sich Gesine die "The New York Times" vom Kiosk und liest sie gründlich. So bilden Zitate und Artikel daraus das Gerüst dieser tagebuchartigen Chronik, in der sie sich in Rückblicken an ihre Mecklenburger Familiengeschichte erinnert und diese Erinnerungen mit den New-Yorker-Alltagsproblemen von Mutter und Tochter verbindet. So wird die Vergangenheit der Familie an den politischen Ereignissen der 60er Jahre (Vietnamkrieg, Rassenunruhen, Studentenproteste und Morde an den Kennedy-Brüdern und Martin Luther King) gespiegelt.
Die ersten beiden Bände umfassen jeweils vier Monate (20.8.67-19.12.67 und 20.12.67-19.4.68). Hier erinnert sich Gesine an die Familiengeschichte von den 1920er Jahren bis zum Kriegsende 1945. Der dritte Band (10.4.-19.6.1968) betrachtet die Nachkriegsjahre, während der vierte Band (bis zum 20.8.68) hauptsächlich der DDR-Vergangenheit bis zum Volksaufstand vom 17.6.1953 gewidmet ist.
Uwe Johnson (1934-1984), der in den 60er Jahren selbst in New York arbeitete, sammelte dort vielfältiges Material für seinen Roman, dessen ersten drei Bände 1970-73 erschienen. Danach geriet die Arbeit an dem Werk ins Stocken, sodass der Abschlussband erst 1983 erschien. Der Romanepos „Jahrestage“ ist ein gigantisches Erzählmosaik, das sich bei der ersten Lektüre sicher nicht vollständig erschließt. Sehr hilfreich ist dabei das Inventar „Kleines Adressbuch für Jerichow und New York“ (1983) von Rolf Michaelis, ein Register mit Namen, Orten, Zitaten und Verweisen (ebenfalls bei Suhrkamp neu erschienen).
„Jahrestage“ ist ein facettenreiches und vielfiguriges Zeit-Panorama, das auf ungewöhnliche Weise die mecklenburgische Kleinstadt und Landschaft mit der Metropole New York sowie die deutsche Geschichte mit der nordamerikanischen Gegenwart miteinander verschachtelt - und das alles um die Figuren einer jungen Frau und ihrer Tochter.
Die vorliegende Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe ist in neuer Ausstattung erschienen, wobei alle vier Bände das Original-Cover der Ersterscheinung besitzen und zudem in einem Schuber untergebracht sind.
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Mega-Roman im Intervall
Mit seinem Epos «Jahrestage» hat Uwe Johnson den Versuch unternommen, Realität verlustfrei in Sprache zu transferieren. Wie der Untertitel verrät, dient ihm dabei das Leben seiner Protagonistin Gesine Cresspahl als Spiegel für eine …
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Mega-Roman im Intervall
Mit seinem Epos «Jahrestage» hat Uwe Johnson den Versuch unternommen, Realität verlustfrei in Sprache zu transferieren. Wie der Untertitel verrät, dient ihm dabei das Leben seiner Protagonistin Gesine Cresspahl als Spiegel für eine großangelegte Gesellschaftsstudie, in der er zu dem Ergebnis kommt, dass allen äußeren Widerwärtigkeiten zum Trotz der Mensch letztendlich seine seelische Integrität durchaus zu bewahren vermag. Der erste Teil des vierbändigen Werkes erschien 1970, der letzte 13 Jahre später. Man kann das systemkritische Hauptwerk von Uwe Johnson als engagierte Suche nach dem richtigen Leben deuten.
Der in 366 Tageskapitel eingeteilte Roman stellt eine subjektive Jahreschronik dar, vom 19.8.1967 bis zum 20.8.1968, den Schalttag eingeschlossen, ein Weltjahr also, wie es Siegfried Unselt formuliert hat. Ort der Handlung ist New York, Johnson lässt die 34jährige Gesine, die dort bei einer Bank arbeitet, mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie im Apartment 204, 243 Riverside Drive, Manhattan wohnen, seine eigene Wohnadresse während seines zweijährigen Aufenthalts. Eine zweite Erzählebene bildet die fiktive Kleinstadt Jerichow in Mecklenburg, aus der Gesine 1953 während der DDR-Zeit in den Westen flüchtete, ehe sie dann 1961 nach New York ging. Neben der Hauptfigur und ihrer altklugen Tochter als Zuhörerin fungiert der Autor in Person als Protokollant ihrer Erzählungen. Als zweite Erzählinstanz tritt er zuweilen in Dialogen mit Gesine auf, die nicht immer friedlich verlaufen. «Wir können auch heute noch aufhören mit deinem Buch» hält sie ihm an einer Stelle entgegen. Quasi eine dritte Erzählinstanz ist die für Gesine unentbehrliche New York Times, ihre tägliche Pflichtlektüre, aus der im Roman tagebuchartig in beinahe allen Kapiteln zitiert wird. Nicht nur dass die Zeitung als seriöse Zeitzeugin die politischen und sozialen Themen zur Handlung beisteuert, der Autor vermittelt damit auf raffinierte Weise auch Authentizität.
Häufig unterbrochen durch Fragen der wissbegierigen Marie erzählt Gesine unermüdlich aus ihrem bewegten Leben und aus dem ihrer Vorfahren. Wobei, wie es der Untertitel «Aus dem Leben von Gesine Cresspahl» schon relativiert, all diese Rückblenden nie wirklich vollständig sein können. Der zeitliche Rahmen der Erzählungen reicht von Gesines Geburtsjahr 1933 mit der Machtergreifung der Nazis über das Kriegsende mit der gefürchteten Roten Armee in Mecklenburg, das nachfolgende sozialistische Paradies der DDR, die gefährliche Epoche des Kalten Krieges und den Vietnamkrieg bis hin zum Prager Frühling. Der Roman endet mit dem 20. August 1968, an dem die Russen den Reformen von Alexander Dubček ein Ende setzten. Zum persönlichen Schicksal von Gesine gehört neben dem frühen Tod ihrer Eltern auch der politisch bedingte Tod von Maries Vaters, über den sie untröstlich ist. Sie hat sich in eine Art inneres Exil zurückgezogen und lebt weitgehend in ihren Erinnerungen, die sie nach dem Motto «… für wenn ich tot bin» auch auf Tonband spricht.
In einer Art Collage werden persönliche Erinnerungen mit Zeitungsausschnitten, Briefen und Dialogen zu einer Erzählung zusammengefügt, die geradezu fanatisch nach Wahrheit strebt. Sprachlich ist der Roman durch eine äußerst präzise Beschreibungskunst gekennzeichnet, deren parataktischer Satzbau sich zielgerichtet aufs Wesentliche konzentriert. Neben etlichen Einsprengseln in Platt finden sich darin ganze Passagen in Englisch, Französisch und anderen Sprachen bis hin zu Russisch. Man kann hier mit Recht von einem Sprachkunstwerk reden, dessen schwierige Lektüre allerdings, nicht nur vom schieren Seitenumfang her, einiges an Durchhalte-Vermögen voraussetzt. Dieser collageartig aufgebaute Mega-Roman eignet sich aber auch ideal zum sequentiellen Lesen, immer wieder mal hundert Seiten im Intervall. Es gibt in ihm ja keinen durchlaufenden Erzählfaden, man kann also problemlos jederzeit wieder einsteigen in die Lektüre dieses kanonischen Werkes.
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