Serhij Zhadan
Broschiertes Buch
Internat
Roman. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022
Übersetzung: Durkot, Juri; Stöhr, Sabine
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In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert der ukrainische Autor Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein Kriegsfeld verwandelt. Und er erzählt von unbeirrbaren Menschen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung entgegensetzen.Ein junger Lehrer will seinen Neffen aus der Schule, die unter Beschuss geraten ist und keine Sicherheit mehr bietet, nach Hause holen. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag. Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr s...
In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert der ukrainische Autor Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein Kriegsfeld verwandelt. Und er erzählt von unbeirrbaren Menschen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung entgegensetzen.
Ein junger Lehrer will seinen Neffen aus der Schule, die unter Beschuss geraten ist und keine Sicherheit mehr bietet, nach Hause holen. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag. Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf und apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.
»Auf diesen Roman haben wir Ukrainer gewartet.« Katja Petrowskaja
Ein junger Lehrer will seinen Neffen aus der Schule, die unter Beschuss geraten ist und keine Sicherheit mehr bietet, nach Hause holen. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag. Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf und apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.
»Auf diesen Roman haben wir Ukrainer gewartet.« Katja Petrowskaja
Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum 'Buch des Jahrzehnts'. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw und ist seit Mai 2024 Soldat.
Produktdetails
- suhrkamp taschenbuch 5233
- Verlag: Suhrkamp
- Originaltitel: Angabe fehlt
- Artikelnr. des Verlages: ST 5233
- Seitenzahl: 300
- Erscheinungstermin: 11. Januar 2023
- Deutsch
- Abmessung: 190mm x 117mm x 24mm
- Gewicht: 282g
- ISBN-13: 9783518472330
- ISBN-10: 351847233X
- Artikelnr.: 63709939
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
»Große Sprachkunst.« Susanne Mayer DIE ZEIT 20221117
Wenn die Handys der Toten klingeln
Es ist sein erster Kriegsroman. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan lässt einen Lehrer drei Tage zwischen den Frontlinien irren und seine Leser wissen, dass alles wahr ist: das Blut, die toten Jungs und die Ruinen
Vier Jahre sind seit der russischen Annexion der Krim vergangen. Auch der Krieg im Osten der Ukraine dauert - wie sogar meine Facebook-Freunde melden - länger an als die deutsche Okkupation während des Zweiten Weltkriegs. Darin besteht gewiss keine Analogie, aber der Vergleich lässt uns den Zeitraum nachspüren. Der Krieg ist längst von kopfverdrehender absurder Tragik in dramatischen Alltag übergegangen, man hat sich an diesen Krieg beinahe gewöhnt. Er hat
Es ist sein erster Kriegsroman. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan lässt einen Lehrer drei Tage zwischen den Frontlinien irren und seine Leser wissen, dass alles wahr ist: das Blut, die toten Jungs und die Ruinen
Vier Jahre sind seit der russischen Annexion der Krim vergangen. Auch der Krieg im Osten der Ukraine dauert - wie sogar meine Facebook-Freunde melden - länger an als die deutsche Okkupation während des Zweiten Weltkriegs. Darin besteht gewiss keine Analogie, aber der Vergleich lässt uns den Zeitraum nachspüren. Der Krieg ist längst von kopfverdrehender absurder Tragik in dramatischen Alltag übergegangen, man hat sich an diesen Krieg beinahe gewöhnt. Er hat
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bereits Millionen Menschen geprägt und wird Generationen im Gedächtnis bleiben. Über eine Million Menschen sind auf der Flucht, die anderen leben in der Ungewissheit der sich bewegenden Frontlinie, oder der Grauzone, es sterben Soldaten, der Krieg führt zu einer Radikalisierung der Gesellschaft, aber niemand bringt die Kraft auf, dies alles zu beenden. Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat, aber: das Schlimmste am Krieg ist der Krieg selbst.
Wer einmal in einer gotischen Kirche in Czernowitz Serhij Zhadan seine Kriegsgedichte und Rilke-Übersetzungen hat vortragen hören (er könnte vielleicht auch eine Messe lesen), der ahnt, dass dieser wie ein rebellischer Teenager aussehende Mann mit seinen ewigen Chucks und in Jeans und schwarzem T-Shirt ein lebender Klassiker ist. Er macht es weder sich noch seinem Publikum einfach. Eine gefährliche Art von Talent - aktuell, hautnah, akut. Es ist spannend, ihn zu beobachten, und sehr aufwühlend.
Zhadan stammt aus dem berühmt-berüchtigten Gebiet Lugansk, jener Region nordöstlich von Donezk, direkt an der russischen Grenze, die zum großen Teil von Separatisten und russischen Militärs beherrscht wird. Zhadan hat zahlreiche Romane geschrieben, er ist Dichter, Übersetzer und Rock-Musiker und zieht mit seinen Lesungen oder mit seiner Band "Hunde im Kosmos" kreuz und quer durch das Land, im Frieden wie im Krieg. Der Donbass ist nicht nur seine große Heimat, er ist auch die Region seiner ukrainischen Utopien, in der seine Werke spielen. Dort stellt er sich bewusst und mutig dem "sowjetischen Erbe". Auch in seinem neuen Buch scheinen die unsichtbaren Chimären eines bekannten Imperiums durch die realen Ruinen einer namenlosen Stadt hindurch.
Auf diesen Roman haben wir Ukrainer gewartet. Und wir haben einen sehr ungewöhnlichen Text bekommen. Im Zentrum dieses Kriegsromans stehen keine Soldaten, keine Helden oder Märtyrer, keine bösen Separatisten oder politischen Aktivisten, es gibt auch keine patriotischen Slogans. Der Roman "Internat" handelt von einem verlorenen und zerstreuten Zivilisten, einem unpolitischen, etwas willenlosen Lehrer. Mit einem Ruck reißt Zhadan sein Werk ebenso aus der heroisch-tragischen Tradition der sowjetischen Kriegsliteratur heraus wie aus den patriotischen Erwartungen vieler seiner Leser.
Pascha ist Ukrainisch-Lehrer in einer Schule an einer namenlosen Bahnstation, er ist russischsprachig, schon in den Pausen spricht er Russisch. Er ist jemand, der es nicht gewohnt ist, zu agieren, und sogar seine Berufswahl erscheint zufällig. Pascha ist Mitte dreißig, und seine Welt ist brüchig, seine Mutter ist früh gestorben, sein Vater versteht ihn nicht, seine Schwester ist verschwunden, seine Schüler respektieren ihn nicht mehr, weil er sie im Chaos der Zeit nicht unterstützt, und auch seine Freundin hat ihn verlassen, als er sich am Anfang des Krieges politisch nicht positionieren konnte. Auf wessen Seite steht er?
",Fahr und hol ihn', brüllt der Alte." Mit diesem Satz fängt das Buch an. Pascha soll seinen dreizehnjährigen Neffen, der von seiner Schwester ins Internat abgegeben wurde, abholen und nach Hause bringen (viele Märchen fangen mit einem ähnlichen Auftrag an). Der Junge hatte merkwürdige Anfälle, und niemand wusste, was zu tun sei, und so war es das Einfachste gewesen, ihn loszuwerden, ihn auf ein Internat zu schicken. Niemand hatte für den Kleinen gekämpft, für ihn gesorgt und ihn verteidigt, weder sein Onkel Pascha noch sein Großvater, der Alte. Der lebt mit seinem Sohn in einer verkrüppelten Welt: Pascha hat unbewegliche Finger an der rechten Hand; beide wohnen in einem Haus, das wie ein halber Brotlaib aussieht. Es brannte irgendwann zur Hälfte ab, und die Nachbarn sind weggezogen. Etwas von ihrem Leben wurde abgeschnitten, und sie hausen in der übriggebliebenen Hälfte.
Als Pascha seine Wohnung verlässt, geschieht im Fernseher etwas Entsetzliches, "etwas, das alle angeht". Er sieht einen blutüberströmten Mann, der ihn direkt anschreit und ihm etwas erklären will. Der Fernseher läuft ohne Ton, so dass Pascha nichts hört. Es wird aber klar, dass der Krieg nicht mehr im Fernseher ist, sondern vor Ort. Deswegen muss er auch den Neffen abholen. Pascha geht nach draußen und erlebt den Krieg "live". Der Fernseher, dieser Haupt-Held oder -Schuldige des Informationskrieges, ist die offene Wunde des kollektiven Gedächtnisses, "das Ewige Feuer": es "leuchtet weniger zur Freude der Lebendigen als zur Erinnerung an die Toten". Wir werden aus der warmen Stube in die Mitte des militärischen Chaos katapultiert, auf Paschas dreitägigen Road-Trip durch den Krieg.
Der Roman ist wie ein Drehbuch geschrieben. Das ganze "Sehen" erfolgt durch den kurzsichtigen Pascha: Die Kamera läuft, und Pascha bewegt sich im Nebel auf schmutzigem Schnee. Das Kriegsgelände ist eine unbegreifliche "Zone" mit kaputten Straßen und rätselhaften Menschen, was dem exsowjetischen Leser sofort die Zone aus dem Film "Stalker" von Andrej Tarkowski vor Augen führt. Zhadan selbst sieht sich jedoch von einem ganz anderen Film inspiriert: In dem Western-Klassiker "Zwei glorreiche Halunken" ("The Good, the Bad and the Ugly") mit Clint Eastwood verfolgen die Helden ihr eigenes Ziel, ohne das historische Ausmaß des amerikanischen Bürgerkriegs auch nur wahrzunehmen.
Dem Leser werden viele Seiten begegnen, die in albtraumhaftem Tempo den Weg Paschas verfolgen. Es wird selten reflektiert, nur registriert, als wäre der Lehrer ein Meldesoldat, der unter Maschinengewehrfeuer rennt, man hört das Rattern des Erzählens, und es klingt so, als würde er gebückt rennen, hetzen, von einem Schutzpunkt zu einem anderen. Dort kann der Leser, dessen Herz schon rast, dann einmal durchatmen. In diesen Atempausen gibt es Rückblenden in die Zeit vor dem Krieg, in die Kindheit von Pascha, und eine Frage kehrt immer wieder: Warum ist plötzlich alles, was man hat, unter Beschuss?
Ukrainische Truppen ziehen sich aus der Stadt zurück, und die Separatisten ziehen ein (ukrainische Leser werden sich an die erbitterte Schlacht um den mehrmals eingekesselten Eisenbahnknotenpunkt von Debalzewe erinnern). Zwischen den Kämpfen bewegen sich Menschenmassen - Frauen und Kinder auf dem Bahnhof, die fliehen wollen, aber weder Züge noch Busse fahren, und sie laufen im Kreis mit ihren Kindern und ihren Koffern, einzelne Personen, die sogar trotz Artilleriebeschusses nach Hause möchten, aber gar kein Zuhause mehr haben, Einheimische, die seit Monaten in Kellern sitzen. Hier fährt man über die Frontlinien mit dem Taxi, manchmal mit einem Sarg auf dem Dach, Pascha trifft einen seiner Schüler, der an einem Wachposten der Separatisten aufgestellt ist. Es klingeln die Handys der Toten, wie das von einem Minensucher, zehn vor acht Uhr rufen seine Kinder an, vor der Schule, wie vereinbart, aber ihr Vater liegt zerrissen da, und ein verlassener Mantel, der wie der gekreuzigte Jesus aussieht, gibt einen Vorgeschmack auf das weitere Geschehen. Auch der verlorene Pascha läuft rastlos umher, aber er hat noch ein Zuhause und auch ein Ziel: Er muss seinen Neffen nach Hause bringen.
Häufig versteht er gar nicht, wen genau er gerade vor sich hat: Separatisten? Ukrainische Soldaten? Paramilitärische Gruppen, die auf der einen oder der anderen Seite stehen? Alle fürchten alle. Pascha meint, er sei auf keiner Seite. Im Buch gibt es "diese" und "jene", es gibt "sie" und die anderen "sie", "unsere" und "uns". "Er müsste eigentlich die Staatssprache sprechen", denkt Pascha bei einer Kontrolle. Aber auch die Sprache ist kein Merkmal mehr. Ein durch ein Knalltrauma ertaubter Separatist nennt Pascha einen "Landsmann", aber er hört kaum noch die Antwort. Das Nicht-Hören oder Nicht-genau-hören-Wollen führt dann zu so einem Gespräch: "Die Station gehört uns" - sagt der Soldat, "uns, natürlich" - erwidert Pascha. Das Buch ist voll von erstaunlichen Beobachtungen über dieses "wir", über die zersplitterte wackelige Zugehörigkeit in diesem Krieg. "Wir" schafft Vertrauen, "wir" flackert und hat gegensätzliche Bedeutungen, manchmal ist dieses "wir" auch eine Fälschung und Vortäuschung: Wenn Pascha einem Einheimischen mit Axt, der jetzt wie Pascha um sein Leben fürchtet, "Freund, alles in Ordnung!" zuruft.
Die Welt in diesem Roman ist so unbegreiflich und flimmerig, dass Paschas Auge sich ständig an Vergleichen und Metaphern aus dem friedlichen Leben festhält: Die Wunden eines Soldaten sehen aus, "als hätte man eine Honigmelone aufgeschnitten", am Straßenrand liegt eine tote Kuh, "wie Anna Karenina". Auch dieses Bild ist keine groteske Idee eines gebildeten Menschen, sondern spiegelt den erschütternden Zerfall der Realität.
Durch Ruinen hindurch und nach zahlreichen Begegnungen erreicht Pascha das Internat, das seit einem Monat schon zerbombt ist, und im Keller trifft er auf Kinder, die mit zwei Lehrern dort hausen. Spätestens hier muss er sein Mantra "Ich habe niemanden gerufen, ich habe niemanden vertrieben" überdenken. "Und wenn jemand auf Ihren Neffen schießt - sind Sie dann auch auf niemandes Seite?", fragt ihn die Lehrerin.
Das Paradox dieses Kriegstextes besteht darin, dass er ein Bildungsroman ist, in dem nicht ein Jugendlicher, sondern ein Lehrer gebildet wird. Pascha hat einen Pass, einen Beruf und einen Neffen, aber er lebt in einem infantilen Halbschlaf. Er befindet sich bereits auf der einen Seite, es ist ihm aber nicht bewusst. Auf dem Weg zum Internat (ein epischer Abstieg in die Hölle) erwacht in ihm langsam eine Verantwortlichkeit, weil das Kriegsschicksal ihn dazu zwingt, einen Willen zu entwickeln. Es muss geholfen werden. So verhandelt er mit Separatisten, um Frauen am Bahnhof mit Essen zu versorgen, weil er der einzige zivile Mann dort ist. Er ist auch der Einzige, der im Internat Wasser für die Kinder holen kann. Er ist zufällig in der ersten Reihe, als ein Wagen mit verletzten und sterbenden Soldaten ankommt, und plötzlich steht auch er in der Mitte des Kampfes für das Leben und muss einen Soldaten festhalten, der am Hals operiert wird (eine der stärksten Stellen des Buches). Der Schmerz der Anderen erzieht ihn, er teilt diesen Schmerz, und dadurch wird er erwachsen.
Auf dem Rückweg nach Hause trifft Pascha einen Separatisten, der ihm aus einer Art Respekt ein Stück Kohle schenkt, mit einem Abdruck eines Farns, der eine Million Jahre alt ist, aus dem zerstörten Heimatmuseum. Das müsse irgendwann zur Schule gebracht und aufbewahrt werden, da es Geschichte sei. Denn auch für diesen Krieger ist letztlich ein Lehrer jemand, der bleibt und das Gedächtnis bewahrt. Für die Kinder.
Zugleich steht Pascha für den unbekannten Menschen aus der "Zivilbevölkerung", er repräsentiert, vermittelt das Gefühl der Verlassenheit der Menschen im Osten der Ukraine. Der Titel "Internat"ist darum auch eine - fast schon bedrohliche - Metapher für die ganze Region, vielleicht für ein ganzes Land, dessen Bürger den entmündigten Bewohnern eines wirklichen Internats gleichen. Über solche Menschen wie Pascha wird viel im friedlichen Teil der Ukraine geredet, es heißt, dass sie selbst für den Krieg verantwortlich seien, weil sie keine Meinung hätten - oder eine "falsche", oder weil sie nicht wüssten, zu wem sie gehörten und dass sie den Zerfall und die russische Okkupation selbst zugelassen hätten und nun verantworten müssten.
Und das ist das Erstaunliche an diesem Buch - wie dieser etwas Tschechowsche Lehrer sich selbst aus der Routine des verlassenen und vergessenen Zustands befreit. Am Ende wird die optische Schärfe des Romans nochmals neu ausgerichtet: Für ein paar Seiten wechselt die Erzählperspektive, nun ist es der Neffe, Sascha, der "sieht". Onkel Pascha wird von ihm gesehen, wie er nun liebt und geliebt wird. Und damit wissen wir, dass alles wahr ist: das Blut, die Ruinen, die toten Jungs und das Erwachsenwerden. Oder, wie Zhadan sagt: "Ich interpretiere es nicht als Literatur, sondern als einen Versuch, über die wichtigen Dinge zu reden."
KATJA PETROWSKAJA
Serhij Zhadan: "Internat". Suhrkamp, 300 Seiten, 22 Euro. Die Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer einmal in einer gotischen Kirche in Czernowitz Serhij Zhadan seine Kriegsgedichte und Rilke-Übersetzungen hat vortragen hören (er könnte vielleicht auch eine Messe lesen), der ahnt, dass dieser wie ein rebellischer Teenager aussehende Mann mit seinen ewigen Chucks und in Jeans und schwarzem T-Shirt ein lebender Klassiker ist. Er macht es weder sich noch seinem Publikum einfach. Eine gefährliche Art von Talent - aktuell, hautnah, akut. Es ist spannend, ihn zu beobachten, und sehr aufwühlend.
Zhadan stammt aus dem berühmt-berüchtigten Gebiet Lugansk, jener Region nordöstlich von Donezk, direkt an der russischen Grenze, die zum großen Teil von Separatisten und russischen Militärs beherrscht wird. Zhadan hat zahlreiche Romane geschrieben, er ist Dichter, Übersetzer und Rock-Musiker und zieht mit seinen Lesungen oder mit seiner Band "Hunde im Kosmos" kreuz und quer durch das Land, im Frieden wie im Krieg. Der Donbass ist nicht nur seine große Heimat, er ist auch die Region seiner ukrainischen Utopien, in der seine Werke spielen. Dort stellt er sich bewusst und mutig dem "sowjetischen Erbe". Auch in seinem neuen Buch scheinen die unsichtbaren Chimären eines bekannten Imperiums durch die realen Ruinen einer namenlosen Stadt hindurch.
Auf diesen Roman haben wir Ukrainer gewartet. Und wir haben einen sehr ungewöhnlichen Text bekommen. Im Zentrum dieses Kriegsromans stehen keine Soldaten, keine Helden oder Märtyrer, keine bösen Separatisten oder politischen Aktivisten, es gibt auch keine patriotischen Slogans. Der Roman "Internat" handelt von einem verlorenen und zerstreuten Zivilisten, einem unpolitischen, etwas willenlosen Lehrer. Mit einem Ruck reißt Zhadan sein Werk ebenso aus der heroisch-tragischen Tradition der sowjetischen Kriegsliteratur heraus wie aus den patriotischen Erwartungen vieler seiner Leser.
Pascha ist Ukrainisch-Lehrer in einer Schule an einer namenlosen Bahnstation, er ist russischsprachig, schon in den Pausen spricht er Russisch. Er ist jemand, der es nicht gewohnt ist, zu agieren, und sogar seine Berufswahl erscheint zufällig. Pascha ist Mitte dreißig, und seine Welt ist brüchig, seine Mutter ist früh gestorben, sein Vater versteht ihn nicht, seine Schwester ist verschwunden, seine Schüler respektieren ihn nicht mehr, weil er sie im Chaos der Zeit nicht unterstützt, und auch seine Freundin hat ihn verlassen, als er sich am Anfang des Krieges politisch nicht positionieren konnte. Auf wessen Seite steht er?
",Fahr und hol ihn', brüllt der Alte." Mit diesem Satz fängt das Buch an. Pascha soll seinen dreizehnjährigen Neffen, der von seiner Schwester ins Internat abgegeben wurde, abholen und nach Hause bringen (viele Märchen fangen mit einem ähnlichen Auftrag an). Der Junge hatte merkwürdige Anfälle, und niemand wusste, was zu tun sei, und so war es das Einfachste gewesen, ihn loszuwerden, ihn auf ein Internat zu schicken. Niemand hatte für den Kleinen gekämpft, für ihn gesorgt und ihn verteidigt, weder sein Onkel Pascha noch sein Großvater, der Alte. Der lebt mit seinem Sohn in einer verkrüppelten Welt: Pascha hat unbewegliche Finger an der rechten Hand; beide wohnen in einem Haus, das wie ein halber Brotlaib aussieht. Es brannte irgendwann zur Hälfte ab, und die Nachbarn sind weggezogen. Etwas von ihrem Leben wurde abgeschnitten, und sie hausen in der übriggebliebenen Hälfte.
Als Pascha seine Wohnung verlässt, geschieht im Fernseher etwas Entsetzliches, "etwas, das alle angeht". Er sieht einen blutüberströmten Mann, der ihn direkt anschreit und ihm etwas erklären will. Der Fernseher läuft ohne Ton, so dass Pascha nichts hört. Es wird aber klar, dass der Krieg nicht mehr im Fernseher ist, sondern vor Ort. Deswegen muss er auch den Neffen abholen. Pascha geht nach draußen und erlebt den Krieg "live". Der Fernseher, dieser Haupt-Held oder -Schuldige des Informationskrieges, ist die offene Wunde des kollektiven Gedächtnisses, "das Ewige Feuer": es "leuchtet weniger zur Freude der Lebendigen als zur Erinnerung an die Toten". Wir werden aus der warmen Stube in die Mitte des militärischen Chaos katapultiert, auf Paschas dreitägigen Road-Trip durch den Krieg.
Der Roman ist wie ein Drehbuch geschrieben. Das ganze "Sehen" erfolgt durch den kurzsichtigen Pascha: Die Kamera läuft, und Pascha bewegt sich im Nebel auf schmutzigem Schnee. Das Kriegsgelände ist eine unbegreifliche "Zone" mit kaputten Straßen und rätselhaften Menschen, was dem exsowjetischen Leser sofort die Zone aus dem Film "Stalker" von Andrej Tarkowski vor Augen führt. Zhadan selbst sieht sich jedoch von einem ganz anderen Film inspiriert: In dem Western-Klassiker "Zwei glorreiche Halunken" ("The Good, the Bad and the Ugly") mit Clint Eastwood verfolgen die Helden ihr eigenes Ziel, ohne das historische Ausmaß des amerikanischen Bürgerkriegs auch nur wahrzunehmen.
Dem Leser werden viele Seiten begegnen, die in albtraumhaftem Tempo den Weg Paschas verfolgen. Es wird selten reflektiert, nur registriert, als wäre der Lehrer ein Meldesoldat, der unter Maschinengewehrfeuer rennt, man hört das Rattern des Erzählens, und es klingt so, als würde er gebückt rennen, hetzen, von einem Schutzpunkt zu einem anderen. Dort kann der Leser, dessen Herz schon rast, dann einmal durchatmen. In diesen Atempausen gibt es Rückblenden in die Zeit vor dem Krieg, in die Kindheit von Pascha, und eine Frage kehrt immer wieder: Warum ist plötzlich alles, was man hat, unter Beschuss?
Ukrainische Truppen ziehen sich aus der Stadt zurück, und die Separatisten ziehen ein (ukrainische Leser werden sich an die erbitterte Schlacht um den mehrmals eingekesselten Eisenbahnknotenpunkt von Debalzewe erinnern). Zwischen den Kämpfen bewegen sich Menschenmassen - Frauen und Kinder auf dem Bahnhof, die fliehen wollen, aber weder Züge noch Busse fahren, und sie laufen im Kreis mit ihren Kindern und ihren Koffern, einzelne Personen, die sogar trotz Artilleriebeschusses nach Hause möchten, aber gar kein Zuhause mehr haben, Einheimische, die seit Monaten in Kellern sitzen. Hier fährt man über die Frontlinien mit dem Taxi, manchmal mit einem Sarg auf dem Dach, Pascha trifft einen seiner Schüler, der an einem Wachposten der Separatisten aufgestellt ist. Es klingeln die Handys der Toten, wie das von einem Minensucher, zehn vor acht Uhr rufen seine Kinder an, vor der Schule, wie vereinbart, aber ihr Vater liegt zerrissen da, und ein verlassener Mantel, der wie der gekreuzigte Jesus aussieht, gibt einen Vorgeschmack auf das weitere Geschehen. Auch der verlorene Pascha läuft rastlos umher, aber er hat noch ein Zuhause und auch ein Ziel: Er muss seinen Neffen nach Hause bringen.
Häufig versteht er gar nicht, wen genau er gerade vor sich hat: Separatisten? Ukrainische Soldaten? Paramilitärische Gruppen, die auf der einen oder der anderen Seite stehen? Alle fürchten alle. Pascha meint, er sei auf keiner Seite. Im Buch gibt es "diese" und "jene", es gibt "sie" und die anderen "sie", "unsere" und "uns". "Er müsste eigentlich die Staatssprache sprechen", denkt Pascha bei einer Kontrolle. Aber auch die Sprache ist kein Merkmal mehr. Ein durch ein Knalltrauma ertaubter Separatist nennt Pascha einen "Landsmann", aber er hört kaum noch die Antwort. Das Nicht-Hören oder Nicht-genau-hören-Wollen führt dann zu so einem Gespräch: "Die Station gehört uns" - sagt der Soldat, "uns, natürlich" - erwidert Pascha. Das Buch ist voll von erstaunlichen Beobachtungen über dieses "wir", über die zersplitterte wackelige Zugehörigkeit in diesem Krieg. "Wir" schafft Vertrauen, "wir" flackert und hat gegensätzliche Bedeutungen, manchmal ist dieses "wir" auch eine Fälschung und Vortäuschung: Wenn Pascha einem Einheimischen mit Axt, der jetzt wie Pascha um sein Leben fürchtet, "Freund, alles in Ordnung!" zuruft.
Die Welt in diesem Roman ist so unbegreiflich und flimmerig, dass Paschas Auge sich ständig an Vergleichen und Metaphern aus dem friedlichen Leben festhält: Die Wunden eines Soldaten sehen aus, "als hätte man eine Honigmelone aufgeschnitten", am Straßenrand liegt eine tote Kuh, "wie Anna Karenina". Auch dieses Bild ist keine groteske Idee eines gebildeten Menschen, sondern spiegelt den erschütternden Zerfall der Realität.
Durch Ruinen hindurch und nach zahlreichen Begegnungen erreicht Pascha das Internat, das seit einem Monat schon zerbombt ist, und im Keller trifft er auf Kinder, die mit zwei Lehrern dort hausen. Spätestens hier muss er sein Mantra "Ich habe niemanden gerufen, ich habe niemanden vertrieben" überdenken. "Und wenn jemand auf Ihren Neffen schießt - sind Sie dann auch auf niemandes Seite?", fragt ihn die Lehrerin.
Das Paradox dieses Kriegstextes besteht darin, dass er ein Bildungsroman ist, in dem nicht ein Jugendlicher, sondern ein Lehrer gebildet wird. Pascha hat einen Pass, einen Beruf und einen Neffen, aber er lebt in einem infantilen Halbschlaf. Er befindet sich bereits auf der einen Seite, es ist ihm aber nicht bewusst. Auf dem Weg zum Internat (ein epischer Abstieg in die Hölle) erwacht in ihm langsam eine Verantwortlichkeit, weil das Kriegsschicksal ihn dazu zwingt, einen Willen zu entwickeln. Es muss geholfen werden. So verhandelt er mit Separatisten, um Frauen am Bahnhof mit Essen zu versorgen, weil er der einzige zivile Mann dort ist. Er ist auch der Einzige, der im Internat Wasser für die Kinder holen kann. Er ist zufällig in der ersten Reihe, als ein Wagen mit verletzten und sterbenden Soldaten ankommt, und plötzlich steht auch er in der Mitte des Kampfes für das Leben und muss einen Soldaten festhalten, der am Hals operiert wird (eine der stärksten Stellen des Buches). Der Schmerz der Anderen erzieht ihn, er teilt diesen Schmerz, und dadurch wird er erwachsen.
Auf dem Rückweg nach Hause trifft Pascha einen Separatisten, der ihm aus einer Art Respekt ein Stück Kohle schenkt, mit einem Abdruck eines Farns, der eine Million Jahre alt ist, aus dem zerstörten Heimatmuseum. Das müsse irgendwann zur Schule gebracht und aufbewahrt werden, da es Geschichte sei. Denn auch für diesen Krieger ist letztlich ein Lehrer jemand, der bleibt und das Gedächtnis bewahrt. Für die Kinder.
Zugleich steht Pascha für den unbekannten Menschen aus der "Zivilbevölkerung", er repräsentiert, vermittelt das Gefühl der Verlassenheit der Menschen im Osten der Ukraine. Der Titel "Internat"ist darum auch eine - fast schon bedrohliche - Metapher für die ganze Region, vielleicht für ein ganzes Land, dessen Bürger den entmündigten Bewohnern eines wirklichen Internats gleichen. Über solche Menschen wie Pascha wird viel im friedlichen Teil der Ukraine geredet, es heißt, dass sie selbst für den Krieg verantwortlich seien, weil sie keine Meinung hätten - oder eine "falsche", oder weil sie nicht wüssten, zu wem sie gehörten und dass sie den Zerfall und die russische Okkupation selbst zugelassen hätten und nun verantworten müssten.
Und das ist das Erstaunliche an diesem Buch - wie dieser etwas Tschechowsche Lehrer sich selbst aus der Routine des verlassenen und vergessenen Zustands befreit. Am Ende wird die optische Schärfe des Romans nochmals neu ausgerichtet: Für ein paar Seiten wechselt die Erzählperspektive, nun ist es der Neffe, Sascha, der "sieht". Onkel Pascha wird von ihm gesehen, wie er nun liebt und geliebt wird. Und damit wissen wir, dass alles wahr ist: das Blut, die Ruinen, die toten Jungs und das Erwachsenwerden. Oder, wie Zhadan sagt: "Ich interpretiere es nicht als Literatur, sondern als einen Versuch, über die wichtigen Dinge zu reden."
KATJA PETROWSKAJA
Serhij Zhadan: "Internat". Suhrkamp, 300 Seiten, 22 Euro. Die Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Anlässlich des andauernden Krieges in der Ukraine Rezensent Christian Thomas in seiner Reihe "Kleine Ukraine-Bibliothek" noch einmal Serhij Zhadans bereits 2018 erschienenen Roman "Internat" vor. Mit vielen Zitaten lernen wir Pascha kennen, der seinen Neffen Sascha im Angesicht der sich anbahnenden Katastrophe aus dem Internat im Donbass bergen will. Die dramatische Geschichte einer Rettungsaktion, die von Zhadan, so Thomas, bewusst unemotionalisiert vorgetragen wird und somit ihre erschreckende Wirkung entfaltet. Der Autor wird am 23. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten - zurecht, wie der Rezensent mit Bezug auf die poetische Kraft seines Werkes betont. Von dem Panorama des Krieges und der Angst in der Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr zeigt er sich nachhaltig beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Hörbuch-Download MP3
Pascha will seinen Neffen aus dessen Internat nach Hause holen. Zu unsicher ist die Situation geworden, der Junge soll Zuhause bei seiner Familie sein. Weit hat Pascha es nicht, das Internat liegt in der nächsten größeren Stadt, unweit seines Dorfes. Aber als er losfährt, merkt …
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Pascha will seinen Neffen aus dessen Internat nach Hause holen. Zu unsicher ist die Situation geworden, der Junge soll Zuhause bei seiner Familie sein. Weit hat Pascha es nicht, das Internat liegt in der nächsten größeren Stadt, unweit seines Dorfes. Aber als er losfährt, merkt er schnell, dass sich das Kampfgeschehen verlagert hat, die Situation viel brenzliger ist, als er ahnte. Mitten durch die Front geht seine Reise und der Rückweg mit dem Jungen wird zu einer Odyssee, die mehrere Tage dauern und beide in Gefahr bringen wird.
Bevor ich mir „Internat“ angehört habe, war mir der Name Serhij Zhadan unbekannt. Dabei sind schon mehrere seiner Romane, von denen einige mit diversen Preisen ausgezeichnet wurden, ins Deutsche übersetzt worden. Aber er ist nicht nur als Autor bekannt, sondern auch für seinen politischen und humanitären Einsatz in der und für die Ukraine. Wohl in Verbindung dieser beiden Tatsachen erhielt er erst vor wenigen Tagen den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Zhadan, der selbst in Starobilk in Luhansk geboren und in Charkiw aufgewachsen ist, geht auffallend sparsam mit der Nennung von Orten, Namen und Nationalitäten um. So ist fast immer nur die Rede von „unsere“ und „die anderen“, wobei vage bleibt, wer jetzt wer ist und wer zu wem gehört. Oder auch nicht. Dadurch entsteht eine Unklarheit, die mich auf der einen Seite verwirrt hat und etwas verloren zurückließ, auf der anderen Seite wurde es aber gerade dadurch möglich, besser zu begreifen, welchem Chaos die Zivilisten in einem Krieg ausgeliefert sind. Wie nicht nur die ganze eigene Welt aus den Fugen gerät, sondern man nicht mal mehr weiß, mit wem man über was sprechen darf, was offenbaren, wem vertrauen. Sprache wird zu einer Methode der Verschleierung, zu einer potenziellen Gefahrenquelle, zum Ausdruck eines Abstandes. So antwortet auch Pascha auf die Frage, was er als Lehrer unterrichten würde, immer nur mit „die Sprache“. Obwohl allen klar ist, welche Sprache damit gemeint ist, wird sie nicht genannt.
Auf der Gefühlsebene hat mich der Roman ein wenig an einen düsteren Roadmovie erinnert. Für mich haben sich die verschiedenen Orte, an denen Pascha und sein Neffe stranden, irgendwann angefangen zu überlagern. Wenn ich jetzt zurückdenke, habe ich eher ein großes Durcheinander und nur wenige individuelle Szenen vor Augen. Vielleicht ist genau das etwas, was dieses Buch ausmacht, die Wirren des Krieges nicht nur zu erzählen, sondern spürbar zu machen, aber mich hat es ein wenig unbefriedigt zurückgelassen.
Viel zu selten erwähnt, aber in diesem Fall unumgänglich sind die beiden Übersetzer Juri Durkot und Sabine Stöhr, die gemeinsam das Romanwerk von Zhadan übersetzt haben und für ihre Leistungen gleich mehrere Preise erhielten, unter anderem für die Übertragung von „Internat“ ins Deutsche den Preis der Leipziger Buchmesse.
Die Hörbuchversion wird gelesen von Frank Arnold. Er hat mich mit seiner angenehmen Stimme und passenden Modulation auch durch die Passagen getragen, die für mich zu unüberschaubar und damit weniger interessant wurden.
Alles in allem fällt es mir schwer, eine Rezension zu verfassen, die meinen Gefühlen für dieses Hörbuch gerecht werden. Etwas Konkretes, greifbares hat sich bei mir nicht rauskristallisiert. „Internat“ ist für mich ein weiteres neues Puzzleteil des Rätsels „Ukraine“. Eins, von dem ich noch nicht weiß, wo es hingehört, aber immerhin ein neues.
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Gebundenes Buch
Der Plot ist eigentlich schnell erzählt: Pascha, ein Lehrer in den Dreißigern, holt seinen Neffen Sascha aus einer umkämpften Stadt zu sich nach Hause.
Ort und Zeit werden nur marginal erwähnt: wir hören einmal den Namen der Stadt Charkiw, es ist Januar – man kann …
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Der Plot ist eigentlich schnell erzählt: Pascha, ein Lehrer in den Dreißigern, holt seinen Neffen Sascha aus einer umkämpften Stadt zu sich nach Hause.
Ort und Zeit werden nur marginal erwähnt: wir hören einmal den Namen der Stadt Charkiw, es ist Januar – man kann also davon ausgehen, dass der Roman im umkämpften Donbecken spielt. Es geht jedoch nicht um die Ukraine, es geht nicht um einen konkreten Krieg. Der Autor ergreift nicht Partei, er nimmt keine Schuldzuweisungen vor. Es geht in einem weiteren Sinn allgemein um die Schrecklichkeiten des Krieges, wie sie überall stattfinden können.
Pascha, der Protagonist, ist ein völlig unpolitischer Mensch. Er ist Lehrer, Zivilist, hört keine Nachrichten, vermeidet eine politische Positionierung und mischt sich nirgendwo ein. Der Weg zu seinem Neffen und der Weg zurück nach Hause macht aus ihm einen anderen Menschen. Er durchläuft apokalyptische Szenerien, die an die Gedichte Georg Trakls erinnern. Dabei begegnet er Menschen, meistens Frauen und Kindern, und er erkennt, dass er handeln muss. Als Lehrer kommt ihm offensichtlich eine besondere Rolle zu; von ihm wird erwartet, dass er die richtigen und wichtigen Informationen hat, dass er Hilfe leistet und Sorge für die anderen trägt. In diese Rolle - eine Rolle, die Pascha bisher vermieden hat – wächst er jetzt Schritt für Schritt tatsächlich hinein.
Der Roman führt uns eindringlich vor, was der Krieg mit Menschen macht. Hier gelingen dem Autor verhaltene und zugleich ausdrucksstarke Bilder, die sich dem Leser einprägen; ob das der durchschossene Mantel des tapferen Sportlehrers ist oder das klingelnde Handy eines Toten, der jeden Tag um 8 Uhr von seinen Kindern angerufen wird. Pascha begegnet auf seiner „Winterreise“ Menschen, die sich in Endzeit-Landschaften bewegen, die alles aufgegeben haben und nur das Notwendigste mit sich führen. Sie wissen nicht wohin, die Infrastruktur ist zusammengebrochen. Die Realität dieser Menschen besteht aus gegenseitigem Misstrauen, aus ständiger Angst, aus Sorge um die nächste Mahlzeit, aus dem dringenden Bedürfnis nach Wärme, aus Desinformation seitens der Regierung, Alarm und Beschuss, Verlust der Wohnung und der Lebensgrundlage, aus Begegnungen mit Soldaten, deren Zugehörigkeit nicht immer zu erkennen ist. Solidarität und Hilfe trifft er selten. „Kein Mitleid mit niemandem“ wird zum Mantra Paschas. Ein bitteres Fazit!
Der Roman wird eingelesen von Frank Arnold. Seine klare, teilweise metallische Stimme passt zu den Schrecken, die der Roman erzählt. Frank Arnolds Vorlesekunst zeigt sich besonders in den Dialogpassagen, die er mit wechselnder Lautstärke und vor allem wechselnder Stimmfärbung perfekt gestaltet.
Absolute Lese- und Hör-Empfehlung!
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