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Ein Mann sitzt in seinem australischen Zimmer und ersinnt einen Autor im ungarischen Szolnok, der seinerseits Briefe an seine junge Lektorin in der Prärie South Dakotas schreibt. Dabei ist er sehr darauf bedacht, den Altersunterschied zu bagatellisieren, und er schickt ihr statt eines Autorenfotos ein Bild des Familiengrabs. Irgendwann aber scheint ihre Prärie nicht mehr von der Ödnis vor seinem Fenster unterscheidbar und sie sich auf seinen Briefseiten aufzulösen. Und überhaupt werden sie und die Geschichten aus fernen Ländern bald von schmerzhaften Kindheitserinnerungen an ein Mädchen aus…mehr

Produktbeschreibung
Ein Mann sitzt in seinem australischen Zimmer und ersinnt einen Autor im ungarischen Szolnok, der seinerseits Briefe an seine junge Lektorin in der Prärie South Dakotas schreibt. Dabei ist er sehr darauf bedacht, den Altersunterschied zu bagatellisieren, und er schickt ihr statt eines Autorenfotos ein Bild des Familiengrabs. Irgendwann aber scheint ihre Prärie nicht mehr von der Ödnis vor seinem Fenster unterscheidbar und sie sich auf seinen Briefseiten aufzulösen. Und überhaupt werden sie und die Geschichten aus fernen Ländern bald von schmerzhaften Kindheitserinnerungen an ein Mädchen aus der Nachbarschaft überschrieben.

Gerald Murnane ist der große Solitär der englischsprachigen Literatur und Inland sein murnaneskester Roman. Ein Roman über Sehnsucht und Schuld, über das, was uns allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand gewesen ist - Tastgesten an den beweglichen Grenzverläufen zwischen ausufernder Innenwelt und eingebildeter Außenwelt.
Autorenporträt
Gerald Murnane, geboren 1939 in Melbourne, ist der vielfach ausgezeichnete – und mit u.a. Kafka, Calvino, Borges und Thomas Bernhard verglichene – Autor von zwölf Romanen, Erzählungsbänden und Essays. In den vergangenen Jahren war Murnane immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt worden.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Selbst nach mehrfacher intensiver Lektüre weiß Rezensent Kai Sina nicht recht, wie er an Gerald Murnanes 1988 erschienenes und nun neu übersetztes Mammutwerk, explizit nicht als Roman gelabelt, herantreten soll - so "mäandernd", ausufernd und sich wieder verlaufend gehe es darin zu. Grob fasst er zusammen: in Form von ineinander verschachtelter Erzählperspektiven, die sich quasi gegenseitig ausdenken, geht es um einen Gutsbesitzer in Ungarn, seine Lektorin in South Dakota und um einen Mann in Australien; verbunden werden die Schauplätze dabei durch das ihnen gemeine Grasland, das auch ausführlich beschrieben wird. Ausgehend von dieser groben Struktur entfaltet sich aber ein "kaum zu überblickender" Erzählfluss, seufzt Sina - "Fluss" oder Strom scheint ihm noch die treffendste Beschreibung für Murnanes Erzählweise - was aus heutiger Sicht teilweise etwas "forciert" wirken mag und nach eigenem Bekunden durchaus auch Frustration beim Kritiker hinterlässt. Trotzdem hält er es für unbedingt schätzenswert, wie der Autor an den "ästhetischen und intellektuellen Möglichkeiten der literarischen Moderne" festhalte, gerade angesichts der derzeitigen Dominanz von "populärem Realismus" - daher auch ein großer Verdienst des Suhrkamp-Verlags, schließt er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2022

Lust am Text? Das sagt sich leicht!
Das Leben ist ein langer, stark mäandernder Erzählfluss: Ein Versuch, Gerald Murnanes Mammut-Prosawerk "Inland" zu bewältigen

Mitgenommen sieht das Buch aus, zerlesen, mit abgestoßenen Ecken, Eselsohren, Anstreichungen und fragwürdigen Randnotizen: "Heidelberg in Australien", "Wiederholte Spiegelungen - Goethe-Bezug?", "Heute bin ich tot (paradox!)". Einige Seiten haben offenbar Feuchtigkeit abbekommen und sind nun entsprechend gewellt. Wer Bücher als Objekte schätzt, mag sich zu Recht empören: Wer hat aus Band 1534 der "Bibliothek Suhrkamp" so ein räudiges Papiergebinde werden lassen?

Der Rezensent bekennt sich schuldig. Seit drei Monaten trägt er das Buch mit sich herum, vom Bett ins Büro in die Bahn, sogar ins Schwimmbad hat es ihn begleitet. Gelesen hat er es mittlerweile mehrmals, einmal in Gänze, dann immer wieder zwischen einzelnen Passagen hin- und herspringend. Kürzlich dann die länger schon befürchtete, freundliche Rückfrage der Redaktion: Wann mit der Besprechung denn wohl zu rechnen sei? Hätte er ehrlich geantwortet, hätte er sagen müssen: Mit einer Besprechung im gewohnten Sinne wird diesmal gar nicht zu rechnen sein, sondern allenfalls mit einigen vorbereitenden, versuchsartigen Notizen, die sich zu keiner Gesamtdeutung verbinden.

Aber wie sollte es auch anders sein? Gerald Murnanes 1988 im Original erschienener, 2013 neu aufgelegter und nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegender Prosatext - der auf die Gattungsbezeichnung Roman bewusst verzichtet - lässt sich nur als dezentriert bezeichnen. Für eine Interpretation dessen, was da geschrieben steht, gibt es keinen festen Ankerpunkt. Über sein Schreibprogramm gibt "Inland" aber immerhin selbst Auskunft, und zwar in Gestalt eines Satzes des französischen Dichters Paul Éluard: "Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser hier." Es folgen seitenlange, wiederum eher kreisförmige als zielgerichtete Überlegungen zu dieser Bemerkung, die schließlich auf einen aus der modernen Literaturgeschichte einigermaßen vertrauten Gedanken hinauslaufen: "Die andere Welt ist in anderen Worten ein Ort, der nur von solchen Personen gesehen oder geträumt werden kann, die uns als Erzähler von Büchern oder Figuren in Büchern bekannt sind. Wenn du oder ich, Leser, zufällig flüchtig einen Teil dieser Welt erblicken, die sozusagen vorbeiweht, dann weil wir gesehen oder geträumt haben, für einen Augenblick so zu sehen, wie ein Erzähler oder eine Figur in einem Buch sieht oder zu sehen träumt."

Mit dem Begriff des Traums wird auf den von Éluard vertretenen Surrealismus, konkret auf die angestrebte Überwindung des Dualismus von Phantasie und Wirklichkeit angespielt - auch wenn der Erzähler vielleicht etwas zu ausdrücklich beteuert, sich nie die Mühe gemacht zu haben, Näheres über den französischen Lyriker herausgefunden zu haben. Will er den Verdacht zerstreuen, ein staubiger Poeta philologus zu sein? Zugleich liest sich der zitierte Satz wie eine Paraphrase des sogenannten Möglichkeitsdenkens, das von Robert Musil als die Fähigkeit definiert wurde, "alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist". So betrachtet kann die Literatur buchstäblich alles; die Gesetzmäßigkeiten der empirischen Welt haben für sie keine Verbindlichkeit. Für die Lektüre aber folgt daraus, dass sie weniger einem festlegbaren Sinn, einer übergeordneten Bedeutung des Gelesenen nachjagen sollte, als sich vielmehr der von Roland Barthes beschriebenen "Lust am Text" hinzugeben.

Das aber ist leichter gesagt als getan! Zumal wenn man sehr wohl, und in diesem Fall sogar von einer Literaturredaktion, "geheißen wurde, zu verstehen" - um einen Satz des Erzählers zu übernehmen, mit dem er das kindliche, insofern als naiv ausgewiesene Gefühl beschreibt, während des Gottesdienstes die liturgischen Texte im Messbuch zu studieren. Was also wäre ein Mittelweg zwischen einer falschen Sinnfestlegung und der Schilderung einer rein subjektivistischen Lektürelust?

"Inland" beginnt eigentlich recht handfest. Der Ich-Erzähler beschreibt sich als Gutsbesitzer und Bewohner eines Herrenhauses "nahe der Stadt Kunmadaras, im Komitat Szolnok". Wir befinden uns also in Ungarn. Er wendet sich direkt an seinen Leser und berichtet ihm von seiner Lektorin und Übersetzerin, die einen Langstreckenflug entfernt in der Stadt Ideal in South Dakota lebt und im dortigen "Institute of Prairie Studies" beschäftigt ist. Ausführlich berichtet er von dieser Anne Kristaly Gunnarsen, über ihre Tätigkeit, ihre Ehe, die Geschehnisse im Institut, um fast im selben Atemzug hervorzuheben, dass für ihn zwischen dem Schreiben und dem Träumen, dem vermeintlich Realen und der scheinbaren Fiktion nur fließende Grenzen bestehen. Es mag daher zwar überraschen, aber nicht verwundern, dass sich der Ich-Erzähler wenig später selbst als literarisches Gedankenspiel erweist - genau in dem Moment nämlich, als sich ein weiterer Autor, sein Schöpfer also, aus einem australischen Zimmer zu Wort meldet. Handelt es sich um erzählerische Taschenspielertricks? Murnane scheint es um mehr zu gehen. So bemerkt er im kurzen, eigens für die Neuausgabe von 2013 verfassten Nachwort, dass sein Buch nicht mehrere, sondern nur einen Erzähler habe, der allerdings unterschiedlich in Erscheinung trete - weil nun einmal "jedes Ding mehr ist als ein einziges Ding". Es ist eine schlicht daherkommende Ontologie, deren erzählerische Folgen aber umso verwirrender sind.

Motivisch verbunden werden die geographisch weit entfernten Erzählorte und Schauplätze des Geschehens durch ihre Landschaften. Was die ungarische Tiefebene, das sogenannte Alföld, den Mittleren Westen und Melbourne County im südöstlichen Australien miteinander verbindet, das ist ihr Grasland. "Unbestimmt" wie unbeschriebenes Papier, ja regelrechte "Traum-Prärien" sind diese Gegenden, die als Projektionsfläche für Erdachtes und Vorgestelltes dienen, aber auch selbst innere Bilder hervorzurufen vermögen. Für Murnanes Prosa im Ganzen bilden die "Ebenen" (so der deutsche Titel seines 1982 erschienenen Werks "The Plains") die natürliche Umgebung. Entsprechend ausgiebig und detailliert fallen die Landschaftsschilderungen auch im vorliegenden Werk aus: "Wie kann ich dir, Leser, den Weg von Ideal, South Dakota, zu den wenigen steilen Küstenhügeln zwischen dem Hopkins und Russells Creek zeigen?" Kein Wunder, dass jener Mann in seinem australischen Zimmer der Lektüre von Büchern das Landkartenstudium vorzieht - ohne sich zugleich gehindert zu fühlen, immer wieder auf die Werke der Weltliteratur Bezug zu nehmen, allen voran und besonders entschieden auf Emily Brontës "Wuthering Heights".

Durch Murnanes Ebenen ziehen sich zwei verästelte Erzählstränge, nein, eher -ströme, denn möglicherweise ist die häufige Rede über Flüsse in gerade diesem, also poetologischen Sinne zu verstehen. Da ist zuerst das bereits erwähnte Geschehen um den ungarischen Gutsherrn und seine amerikanische Lektorin, deren Geschichte allerdings bald schon verrinnt. Stattdessen quellen ausführliche Kindheitserinnerungen hervor und bilden einen zweiten, längeren Strom. Erzählt wird eher assoziativ als stringent von der eigenen katholischen Sozialisation (ein weiteres Lebensthema Murnanes), von früher Liebe und Sexualität, vom gewalttätigen Vater, von Kriegsflüchtlingen aus dem Baltikum - und so weiter. Der Erzählfluss breitet sich als Delta aus und ist aus der Normalperspektive kaum zu überblicken.

Ja, es lässt sich nicht einmal klar bestimmen, wo und in welches narrative Gewässer dieser Erzählfluss eigentlich mündet! Die forcierte Komplexität von "Inland", die ausufernde Metafiktionalität, das Zitathafte, das alogische Springen zwischen unterschiedlichen Narrationsebenen, läuft damit buchstäblich ins Leere. Und daraus wiederum ergibt sich für die heutige Lektüre durchaus ein Problem: Was vor dreißig Jahren noch in produktiver Weise verunsichernd gewirkt und neue literarische Türen geöffnet haben mag, mutete nunmehr eher wie eine bemühte Verkomplizierung an, deren Nutzen sich überdies nicht unmittelbar erschließt. Besonders deutlich wird dies am Ende, wo es zweifellos um Tiefstes geht, um Geburt und Tod, um Tränen und Regen - aber so in sich verwickelt, das sich ein Nach- oder Mitempfinden gar nicht erst einstellt. Auf die Dauer hat dieser Leseeffekt auch etwas Frustrierendes: Wie gern möchte der Leser das "Inland" in seiner kargen, reizvollen Schönheit erkunden, wenn der Autor ihn doch nur ließe.

Das ist aber nur die eine, vielleicht etwas bornierte Seite. Murnane beharrt nachdrücklich auf den ästhetischen und intellektuellen Möglichkeiten der literarischen Moderne. Es ist daher nur zu begrüßen, dass sich der Suhrkamp Verlag seit einiger Zeit schon um die Vermittlung seiner Werke im deutschsprachigen Raum bemüht, zumal in Anbetracht der ermüdenden Allgegenwart eines populären Realismus auf dem heutigen internationalen Buchmarkt. Sollte man dem Verfasser von "Inland" tatsächlich den Literaturnobelpreis verleihen, worauf seit einigen Jahren schon spekuliert wird, so wäre dies nicht allein für den heute Dreiundachtzigjährigen unbedingt wünschenswert, sondern auch für die Art von absoluter Literatur, die sich mit seinem Namen verbindet - und für uns Leser ohne Schwierigkeit nun einmal nicht zu haben ist. KAI SINA

Gerald Murnane: "Inland".

Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 272 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Dies ist ein besonderes Buch ... Murnanes mäandernde Prosa ist ein Wiedererkennen im Fremden. Er ist wir.« Anne Hahn neues deutschland 20220720