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Nadeschda Mandelstam blickt auf Jahrzehnte zurück, von denen ihr Mann, der große Lyriker Ossip Mandelstam, in einem seiner Gedichte als Jahrhundert der Wölfe spricht. Ihr Erinnerungsbuch - erstmals neu und vollständig übersetzt - ist eine nachgetragene Liebesgeschichte und das eindringliche Porträt einer Epoche, in der 1938 ihr Mann in den Lagern verschwand und umkam.Als Nadeschda Mandelstams Erinnerungsbuch 1970 in einem russischen Verlag in den USA erschien und fast zeitgleich in englischer, französischer und deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde, kam das einer Sensation gleich. Mit der…mehr

Produktbeschreibung
Nadeschda Mandelstam blickt auf Jahrzehnte zurück, von denen ihr Mann, der große Lyriker Ossip Mandelstam, in einem seiner Gedichte als Jahrhundert der Wölfe spricht. Ihr Erinnerungsbuch - erstmals neu und vollständig übersetzt - ist eine nachgetragene Liebesgeschichte und das eindringliche Porträt einer Epoche, in der 1938 ihr Mann in den Lagern verschwand und umkam.Als Nadeschda Mandelstams Erinnerungsbuch 1970 in einem russischen Verlag in den USA erschien und fast zeitgleich in englischer, französischer und deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde, kam das einer Sensation gleich. Mit der Publikation des aus der Sowjetunion ins westliche Ausland geschmuggelten Manuskripts begann die Wiederentdeckung von Ossip Mandelstam.Nadeschda Mandelstams autobiographische Prosa gehört zu den Höhepunkten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Anders als Wassili Grossman oder Alexander Solschenizyn, die ihre Berichte aus den Abgründen der Sowjetunion im Hinblick auf eine Publikation dort verfassten, schrieb die Dichterwitwe ihre Erinnerungen für sich selbst und spätere Generationen, ohne die Möglichkeit einer Veröffentlichung auch nur in Erwägung zu ziehen. Das Erbe ihres Mannes, sein lyrisches Werk, bewahrte Nadeschda Mandelstam lange Jahre nur im Gedächtnis, ehe sie es Freunden diktieren konnte. Ihre Erinnerungen erschienen in Russland erst 1986 - während der Perestroika.In ihrem Memoirenwerk erzählt Nadeschda Mandelstam mit mutiger Offenheit und in unzähligen Geschichten aus dem alltäglichen Leben jener Jahre: von Freunden, die Verrat üben, von Pasternak, von Stalin und vielen anderen - die Wahrheit über diese gewaltsame Epoche ist wohl nie wieder so berührend geschildert worden.Mit Ursula Kellers Neuübersetzung des ersten Bandes von Nadeschda Mandelstams Autobiographie wird eine den heutigen Ansprüchen genügende Fassung vorgelegt, die auf willkürliche Kürzungen und stilistische Glättungen verzichtet. In umfangreichen Kommentaren werden die zeithistorischen Ereignisse erläutert, auf die Mandelstam in ihrem Text Bezug nimmt.
Autorenporträt
Nadeschda Mandelstam (1899¿1980) hat sich auch als Schriftstellerin der Erinnerung an das Werk ihres Mannes Ossip Mandelstam (1891¿1938) und das Leben der Künstler und Intellektuellen während des Stalinismus verschrieben.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2020

Geschenke für den Kopf (Fortsetzung Seite 20)
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Das Buch des Jahres, diese Nachkriegsgeschichte des Geistes: Andersch, Heidegger, Adorno, Holthusen, Guggenheimer, Schelsky, Enzensberger, Ortega y Gasset und der eitle Sieburg, der seine Titelgeschichte im Spiegel gleich selber schreiben will. Spoiler: Man (Frau eher nicht) konnte damals vom Feuilleton leben!
Axel Schildt: Medienintellektuelle in der Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen 2020. 896 Seiten, 46 Euro.
EINE HILFE
Ein Reigen wie damals bei Schnitzler: Paula, Ludger, Detlev, Jorinde und die anderen. Als Dreingabe: „West und Ost waren Zeichen einer richtigen und einer falschen Lebensweise geworden.“
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Roman. Diogenes, Zürich 2019, jetzt als Taschenbuch: 288 Seiten, 13 Euro.
EIN GENUSS
Als Begleitprogramm zu „Babylon Berlin“: Pflanzenarchitektur, Fotomalerei, Zeitungskunst und dazwischen Oskar Maria Graf, den Daumen im Hosenträger und zwei Bleistifte in der Jackentasche.
Kathrin Baumstark, Ulrich Pohlmann: Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre. Hirmer, München 2019. 264 S., 39,90 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Die Geschichte des Guiness-Erben Tara Browne, der im Beatles-Song „A Day In the Life“ stirbt.
Paul Howard: I read the news today, oh boy. Picador, London 2016. 376 S., 18 Euro.
Reinhard J. Brembeck
EINE HILFE
...fürs Leben ist Michel Houellebecq immer, auch in dieser Textsammlung, in der er sich als sympathisch witziger Konservativer (nicht Reaktionär) feiert – gerade wenn er den französischen Staat und ein Krankenhaus anklagt, einen Wachkomapatienten letztlich umgebracht zu haben.
Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen. Essays. Dumont, Köln, 2020, 23 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
In diesem verpfuschten Beethoven-Jahr: die Live-Einspielung sämtlicher Streichquartette, weltumspannend aufgenommen auf allen fünf Kontinenten, und so gut wie von noch niemanden gespielt. Visionär, wild, zart, tyrannenmörderisch.
Beethoven Around the World. The Complete Stringquartets. Quatuor Ébène. Erato.
EIN GENUSS
Dieser witzige Roman von Mieko Kawakami liefert viel mehr, als sein verkaufsfördernder Machotitel verspricht: alles zwischen Hartz IV, Kapitalismus und Baby.
Mieko Kawakami: Brüste und Eier. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont, Köln, 2020. 494 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
...sind die 10370 Scholien, mit denen der radikal reaktionäre Privatgelehrte und Modernefeind Gómez Dávila (1913-1994) die ganze Welt in Aphorismen erklärt.
Nicolás Gómez Dávila: Sämtliche Scholien zu einem inbegriffenen Text. Aus dem Spanischen von Thomas Knefeli u.a. Karolinger, Wien 2020. 920 Seiten, 48 Euro.
Susan Vahabzadeh
EIN GENUSS
Es ist nur ein schmales Bändchen, und doch öffnet Kristen Roupenian in ihrem Buch „Milkwishes“ die Fenster in drei Seelen. Es sind drei Kurzgeschichten, in denen es um Wahrnehmung und Erinnerung geht.
Kristen Roupenian: Milkwishes. Aus dem Englischen von Nella Beljan. Aufbau, Berlin 2020. 80 Seiten, 12 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor dem wahren Genie liegt die Zukunft wie ein offenes Buch. Umberto Eco hatte solch seherische Fähigkeiten – das wird einem klar, liest man die Essays, die er in den Neunzigern geschrieben hat, beispielsweise jenes darüber, woran man einen wiederauferstehenden Faschismus erkennen wird. Er ahnte sogar, dass eine gewisse Verwirrtheit dabei im Spiel sein würde.
Umberto Eco: Der ewige Faschismus.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Hanser 2020, 80 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Filmstar Fabienne (Cathérine Deneuve) hat ihre Memoiren geschrieben, und dabei ist sie so großzügig mit den Tatsachen umgegangen, dass es ihre Tochter (Juliette Binoche) auf die Palme bringt. Hirokazu Kore-edas „La Vérité – Leben und lügen lassen“ ist komisch, rührend – und ein traumhaftes Spielfeld für zwei der ganz großen Damen des französischen Kinos.
La Vérité, mit Ethan Hawke und Ludivine Sagnier. Prokino, DVD oder Blue-ray.
Marie Schmidt
EIN LIEBESBEWEIS
Nancy Cunard, britisches Intello-It-Girl und Verlegerin der literarischen Moderne, verliebte sich 1926 in den schwarzen Pianisten Henry Crowder, war beeindruckt, was sie mit ihm erlebte und ruinierte sich nahezu durch diese Anthologie afroamerikanischer Kunst und Kultur. Hier stilvoll aktualisiert, übersetzt, bebildert.
Karl Bruckmaier (Hg.): Nancy Cunards Negro. Mit einem Fotoessay von Olaf Unverzart.Kursbuch.edition, Hamburg 2020.227 Seiten, 24 Euro.
EIN VERMÖGEN
Eines ganzen, glamourösen, träumerischen, tragischen Lebens Geschichten, von gefühlvoll verstiegen bis parabelhaft präzise. Die kurze ist Clarice Lispectors größte Form: Diese famose Übersetzung neben Kafka ins Regal ordnen.
Clarice Lispector: Sämtliche Erzählungen. I: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. II: Aber es wird regnen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Penguin, München 2019/20. 415 und 281 Seiten, je 24 Euro.
EINE HILFE
Für jeden Klassiker, den jeder schon gelesen hat, kommt der Moment, ihn auch selber zu lesen. Dieses Jahr ist es leider Zeit für Susan Sontags Gedanken, dass auch Viren keinen Sinn haben, aber trotzdem dauernd welchen produzieren.
Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Aus dem Englischen von Karin Kersten, Caroline Neubaur, Holger Fliessbach. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003. 148 Seiten, 9,90 Euro.
Tobias Kniebe
EIN GROSSER SPASS
Die Lacher des Jahres steckten in dieser Verfilmung des halb autobiografischen Romans „How To Build A Girl“ von Caitlin Moran. Ein 16-jähriges Arbeiterklasse-Mädchen auf dem holprigen Weg zur scharfzüngigsten und lustigsten Feministin Englands. Mit Rock’n’Roll, Klassenkampf, Sex und Selbsterkenntnis. Da will man dann auch gleich die Vorlage lesen.
Johanna – Eine (un)gewöhliche Heldin. Regie Coky Giedroyc, mit Beanie Feldstein. Amazon Prime, iTunes etc., 4,99 Euro.
Caitlin Moran: All About A Girl. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson. Carl’s Books, 2015. 299 Seiten, 18,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mit diesem Buch von Ibrahim X. Kendi ergaben die ganzen wütenden Debatten über Rassismus und Cancel Culture auf einmal eine tieferen Sinn. Fast eine Autobiografie, aber nebenbei versteht man die philosophischen Grundlagen der neuen Anti-Rassismus-Diskurse, ihre Vorstellung von Macht – und warum sie aus Gründen der Kohärenz mit einem Fundamentalangriff auf das bisherige wissenschaftliche Denken einhergehen.
Ibrahim X. Kendi: How To Be An Anti-Racist. Aus dem Engl. von Alina Schmidt, btb Verlag 2020. 416 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Das Sortieren von Dingen in die wunderschönen, nachhaltig produzierten Ordner und Folder der Mappenmanufaktur hat im Lockdown für jene innere Klarheit gesorgt, die man sich von Kunst oft wünscht. Mappenmanufaktur.com
Andrian Kreye
EIN GENUSS
In einem normalen Jahr wäre der südafrikanische Jazz-Pianist Nduduzo Makhathini live mit seinen Band-Ritualen, hymnischen Harmonien und frenetischen Improvisationen ein Star geworden. Sein erstes internationales Album ist der Beweis.
Nduduzo Makhathini: Modes of Communication. Blue Note, CD ca. 15 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Ella Fitzgeralds Grundeinstellung war bis ins Alter „frisch verliebt“. Nicht im Backfischmodus des Pop in Jungs. Ins Leben, in die Musik. Und in Berlin. Das Live-Album, das die Sängerin dort 1960 aufnahm war ein Höhepunkt. Zwei Jahre später kam sie wieder. Die Aufnahme, die nun von diesem Abend herauskam gehört zum Bestgelaunten in der Geschichte des Jazz.
Ella Fitzgerald: The Lost Berlin Tapes. Verve, CD ca. 16, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Liebreiz und Streichersätze sind im Jazz eine Zumutung. Auch Gitarrist Pat Metheny hat damit Schindluder getrieben. Doch diesmal gelingt ihm damit Ultra-Ästhetik.
Pat Metheny: From This Place. Nonesuch, CD ca. 14, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Fünfzig Jahre vor Black Lives Matter inspirierte Martin Luther King Herbie Hancock zu einem „politischen Statement aus Musik“ mit coolem Jazz-Nonett. Das gibt es nun als audiophile Neuauflage in der wunderbaren „Tone Poet“-Serie auf Vinyl.
Herbie Hancock: The Prisoner. Blue Note, Vinyl ca. 35 Euro.
Alex Rühle
EINE HERAUSFORDERUNG
Romane, die versuchen, den Klimawandel zu thematisieren, läppern sich meist zu Parsprotode – wie soll eine einzige Geschichte ein derart globales Problemkonglomerat veranschaulichen? John Freeman hat stattdessen 43 Autorinnen und Autoren gebeten, Essays, Erzählungen, Reportagen aus ihren jeweiligen Weltgegenden zu schreiben. Margaret Atwood schickt ein dystopisches Gedicht aus Kanada, in dem plötzlich extrem trockene Sommer die Ernten zu Staub verwandeln. Burundi, Island, Haiti, Nigeria. Laurent Goff, Sjón, Gaël Faye. Alle spüren sie längst den Wandel, und die kondensierten, jeweils lokal verortbaren Texte ergeben das Mosaik eines riesigen, winzigen blauen Tropfens Erde, der viel zu fragil für die Pandemie namens Mensch ist.
Tales of two Planets, hg. v. John Freeman. Penguin, London. 320 Seiten, 11,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Eine Kulturgeschichte der DDR, kundig und witzig, immer auf Seiten der Verdrängten, Verstummten, mit Blick fürs Skurrile (der Starindianer Gojko Mitić) wie Tragische. Selten so viele Namen notiert, die man jetzt aber unbedingt mal lesen muss: Erich Arendt. Chaim Noll. Oh, und die Gedichte von Inge Müller! Schatzkarte und Reiseführer in eine untergegangene Welt, zugleich ein Antidot gegen Ostalgie und die „Täternähe der deutschen Innerlichkeit“ (Hans Sahl).
Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens. Tropen, Berlin 2020. 426 Seiten, 24 Euro.
Felix Stephan
EIN LIEBESBEWEIS
Von Europa als Idee ist oft die Rede, von Europa als ménage à trois aber nur hier: Orlando Figes erzählt anhand dreier Biografien vom Urknall der Moderne als genuin europäischer Angelegenheit. Die Opernsängerin Pauline Viardot, ihren Ehemann Louis Viardot und Turgeniew gründen Europa gewissermaßen nebenbei.
Orlando Figes: Die Europäer. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin, Berlin 2020. 640 Seiten, 34 Euro.
EIN GENUSS
War Flaubert der größte Romancier aller Zeiten? Die Antwort ist womöglich hier zu finden, in Elisabeth Edls Neuübersetzung der „Éducation sentimentale“.
Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2020, 800 Seiten, 42 Euro.
EINE HILFE
Apropos „Lehrjahre der Männlichkeit“: Niemand schreibt derzeit so erhellend über sein Leben als Mann wie der amerikanische Schriftsteller Ben Lerner.
Ben Lerner: Die Topeka Schule. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Suhrkamp, Berlin 2020. 395 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
An den Skandal, dass die Gedichte von Elke Erb jahrelang praktisch vergriffen waren, hatte man sich fast gewöhnt. Jetzt gibt es endlich eine neue Sammlung.
Elke Erb: Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2020. 210 Seiten, 20 Euro.
Claudia Tieschky
EIN LIEBESBEWEIS
Keiner kann ständig kochen. Gegen den Entzug hilft lesen. Bill Buford, früher Redakteur beim New Yorker, der 2006 seine Abenteuer als Küchen-Picaro in Italien („Hitze“) niederschrieb, zieht nun in „Dreck“ aus, um die französische Küche zu verstehen. Man könnte natürlich auch Alexandre Dumas’ irres „Wörterbuch der Kochkunst“ von 1873 lesen. Aber Bufords Mischung aus Erfahrungsgier und Snobismus ist amüsanter – und perfekt wiedergegeben übrigens in der Stimme von Wiglaf Droste, der „Hitze“ als Hörbuch einsprach.
Bill Buford: Dreck. Übersetzung von Sabine Hübner, Hanser. München 2020. 511 Seiten, 26 Euro. und Bill Buford: Hitze, gekürzte Lesung mit Wiglaf Droste, Hörverlag, München 2008. 4h 5min, 13,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses elegante, kalte Leben schreibender Großstädter der vordigitalen Zeit, erzählt im Jahr 1976 in umwerfend lakonischen Skizzen und Fragmenten. Dazwischen eine erinnerte Emigranten-Vergangenheit. Kann man bei klarstem Verstand irrlichtern, sich in ein anderes Foto von sich selbst denken? Aber ja.
Renata Adler: Rennboot. Aus dem Englischen von Marianne Frisch. Suhrkamp, Berlin 2014. 241 Seiten, 19,95 Euro.
EIN GENUSS
Glenn Gould: So you want to write a fugue? Sozusagen eine Anleitung zum Selbermachen. Weihnachtsmusik für dysfunktionale Zeiten: https://www.youtube.com/watch?v=HkxU6LdSGdY
Alexander Gorkow
EINE WIEDERENTDECKUNG
19 Jahre währte die Liebe zwischen Nadeschda und Ossip Mandelstam unter dem Terror Stalins, bis der Dichter in Sibirien starb. Die neue Übersetzung der „Erinnerungen“ Nadeschda Mandelstams durch Ursula Keller ist ein Schatz; er zeigt die Autorin in der Beobachtung der Schergen und Schleimer als große Reporterin. Nichts bleibt verborgen, auch nicht die mitunter im Schrecken zuckende Komik.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 785 S., 44 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.“ Schmerzhaft, schön und klar erklärt Annie Ernaux in „Die Jahre“ das Wesen des Memoirs. Im nun nachgereichten Band „Die Scham“ glänzt Ernaux erneut in großer, genauer Lakonie.
Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 111 Seiten, 18 Euro.
EIN GENUSS
50 grandiose Miniaturen zur deutschen Dichtkunst; luzide, respektlos, immer wieder auch schwer zum Piepen. Die Zielgruppe ist gewaltig: Wer meint, nicht nur gerne zu lesen, sondern auch gut zu schreiben, sollte sich in dieses Buch versenken. #supportyourlocalbookstore
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz – Das Geheimnis großer Literatur, Rowohlt, 650 Seiten, 34 Euro.
Sonja Zekri
EINE WIEDERENTDECKUNG
Burhan Qurbani verlegt den Fall des Franz Biberkopf als Flüchtlingsdrama in den Drogenkiez der Hasenheide. Drei Stunden dauert der Trip aus Farben, Musik und Männerliebe. Über allem: Albrecht Schuch als Reinhold, ein Psychopath mit Laktoseintoleranz.
„Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani, DVD (Universal).
EIN AUFREGER
Zwanglos über Kannibalismus schreiben? Geht, die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata macht es vor. „Das Seidenraupenzimmer“ ist eine entgleiste Reise in die Kindheit und die Suche nach dem utopischen Ort Pohapipinpopopia.
Sayaka Murata: Das Seidenraupenzimmer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau, Berlin 2020, 256 Seiten, 20 Euro.
EIN GENUSS
Ein Buch über Lotto, Südsee, Zucker, kurz, über das Begehren. Dorothee Elmiger fügt Literatur, Kino und Geschichte zu einem sinnlichen Tagtraum zusammen.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser, München 2020. 272 S., 23 Euro.
EINE HILFE:
So hängt das also alles zusammen: globales Geld und Häuserkampf, Rendite und Entmietungsschikane. Wolfgang Schorlaus Ermittler trifft in Berlin unter anderem auf eindrucksvolle Kleinsäugetiere.
Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 416 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2021

Höllenbeförderer und Höllenbeförderte
Neu übersetzt, aber nicht in jeder Hinsicht: Nadeschda Mandelstams Erinnerungen an das Leben mit ihrem berühmten Mann im Stalinismus

Die vermutlich nachhaltigste Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Lager: als Vernichtungslager, Arbeitslager, Übergangslager, Flüchtlingslager. In einem Übergangslager in der Nähe von Wladiwostok ist der russische Dichter Ossip Mandelstam an Typhus gestorben, vermutlich am 27. Dezember 1938. Seine Witwe Nadeschda floh dann, um es mit Joseph Brodsky zu sagen, "ein Sechstel der Erdoberfläche durchmessend, von einem Schlupfwinkel zum nächsten ..., den Kochtopf fest an sich gedrückt, in dem zusammengerollt seine Gedichte lagen, die sie sich nachts immer wieder hersagte für den Fall, dass sie von Furien mit einem Durchsuchungsbefehl gefunden würden".

Mit solchen Furien, die 1934 nicht nur mit einem Durchsuchungs-, sondern zugleich auch einem Haftbefehl für Ossip Mandelstam vor der Wohnungstür stehen, beginnen die "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe", die seine Witwe erstmals 1970 in den Vereinigten Staaten veröffentlichen konnte und die ein Jahr danach in der ersten deutschen Übersetzung erschienen. Dass nun eine Neuübersetzung von Ursula Keller vorliegt, ist zum einen sehr verdienstvoll. Über die Qualität der Übersetzung kann ich mangels Kenntnis des Russischen nichts sagen, sie liest sich jedoch sehr flüssig und elegant. Dass weder im umfangreichen Anmerkungsapparat noch sonst irgendwo auch nur ein einziger Hinweis auf Ralph Dutli zu finden ist, der Mandelstams Gesamtwerk ins Deutsche übertragen und herausgegeben und zudem eine Biographie des Dichters veröffentlicht hat, ist jedoch mehr als ein schmerzliches Versäumnis, es ist eine Unverschämtheit.

Nadeschda Mandelstams Erinnerungen, das gleich vorweg, haben mit "Künstlerwitwenmemoiren" nicht das Geringste zu tun, auch wenn es fast nur um ihren Mann zu gehen scheint, der im gesamten Text "O. M." genannt wird, sondern liefert den vielleicht aufschlussreichsten Bericht darüber, wie nicht nur der stalinistische Terror, sondern das System ingesamt funktionierte und tiefe Spuren hinterließ, die Jahrzehnte über Stalins Tod hinaus und sogar bis heute wirken. Schließlich kommt der heutige Herrscher Russlands aus dem Geheimdienst.

"Isolieren, aber erhalten", heißt die Anweisung, als Mandelstam nach der Untersuchungshaft in der berüchtigten Moskauer Lubjanka nach Tscherdyn im Uralvorland verbannt wird. Nadeschda, gegen die keine Anklage erhoben wird, darf mitkommen. Anlass ist das später berühmte "Epigramm gegen Stalin", in dem unter anderem vom "Verderber der Seelen und Bauernschlächter" sowie von Stalins Fingern gesprochen wird, "wie Maden so fett und so grau". Selbstverständlich war das Gedicht nirgendwo veröffentlicht, sondern nur einem ausgewählten kleinen Kreis bekannt, darunter Anna Achmatowa, die "O.M." als Dichterin am nächsten stand, und Boris Pasternak. Keiner von beiden kommt aber als "der Verräter" in Frage. Dass das Epigramm zu Stalin selbst durchdringt, ist unvermeidlich in einer Atmosphäre, die Nadeschda Mandelstam so beschreibt: "Wir lebten inmitten von Menschen, die ins Jenseits befördert wurden, in die Verbannung, ins Lager, in die Hölle, und denen, die andere ins Jenseits, in die Verbannung, ins Lager, in die Hölle beförderten." Und: "Jede Familie ging auf der Suche nach Provokateuren, Denunzianten und Verrätern sorgsam ihren Bekanntenkreis durch. Nach 37 hörten die Menschen auf, einander zu treffen. Und damit hatten die Organisationen des Geheimdienstes ihre hochgesteckten Ziele erreicht. Zum einen hatten sie erreicht, dass ununterbrochen Informationen erfasst wurden, zum anderen wurden die Verbindungen der Menschen untereinander geringer, die Gesellschaft fiel auseinander."

Es versteht sich, dass in einer solchen Gesellschaft jeder potentiell schuldig ist. Denn natürlich gilt die Regel: Wer "abgeholt" oder "einbestellt" wird, muss schuldig sein, sonst würde er nicht abgeholt. "Wir alle gingen den Weg des geringsten Widerstands. Wir schwiegen, in der Hoffnung, man möge nicht uns, sondern unseren Nachbarn töten. Wir wussten nicht einmal, wer unter uns ein Mörder war und wer einfach nur sein Leben durch Schweigen rettete."

Bis 1937 hält noch Bucharin seine schützende Hand über Mandelstam; ihm ist es auch zu verdanken, dass dieser sich nach seinem Selbstmordversuch in Tscherdyn für einen anderen Verbannungsort freier Wahl entscheiden kann - ausgenommen selbstverständlich die verbotenen Städte Moskau und Leningrad und die zwölf Landkreise, die innerhalb einer Hundert-Werst-Zone, also zu nahe an den verbotenen Städten, liegen. Die Mandelstams ziehen nach Woronesch im südlichen Zentralrussland: "Wie schwierig das Leben in dieser sogenannten Phase des Wohlergehens auch gewesen sein mag, war die Atempause, die wir in Woronesch hatten, doch ein unerhörtes Glück." Mandelstam darf zwar den Landkreis nicht verlassen, bereist ihn aber "einige Male im Auftrag der Zeitung, für die er arbeitete". Sogar sechs Wochen auf dem Land können sich die Mandelstams leisten, weil Anna Achmatowa ihnen 500 Rubel schickt, die sie von Pasternak bekommen hat, und noch 500 Rubel drauflegt. "Wir fühlten uns reich und verbrachten sechs Wochen in der Sommerfrische."

Als die Sommerfrische vorbei ist, erfahren sie jedoch im Radio von den bevorstehenden Prozessen, denen dann auch Bucharin zum Opfer fallen wird. Mandelstam ist zu dieser Zeit bereits sehr krank. "Er bekam schwer Luft, aber er arbeitete weiterhin. Er rieb sich auf, brannte aus, und er tat gut daran. Wie viel Leid hätte er noch aushalten müssen, wäre er körperlich gesund gewesen. Ein schlimmer Weg stand ihm bevor, und heute wissen wir, dass der Tod sein einziger Ausweg war." Adornos Satz, nach Auschwitz gebe es Schlimmeres zu fürchten als den Tod, gilt gewiss auch für den stalinistischen Terror.

Dessen Entwicklung und verschiedene Phasen analysiert Nadeschda Mandelstam an einer Stelle sehr klarsichtig. "Die Tschekisten", schreibt sie, "waren in der Tat eine avantgardistische Stoßtruppe des ,neuen Menschen' und brachen vom Standpunkt des Übermenschen aus radikal mit allen allgemeinen Überzeugungen. Sie wurden ersetzt durch Menschen vollkommen anderen Typs, die absolut frei waren von irgendwelchen Überzeugungen ..." Der Terror wird gewissermaßen ideologiefrei und bürokratisiert, und die Maschine läuft umso reibungsloser.

Allerdings ist die Autorin weit davon entfernt, den Blick für die Ereignisse auf Stalin und den Stalinismus zu verengen. Sie geht mit der eigenen Klasse, der Intelligenzija, und der Verklärung der zwanziger Jahre, die angeblich eine Zeit des Aufbruchs waren, "eine unerhörte Blütezeit", hart ins Gericht. "Die idealisierenden Stoßseufzer, mit denen die zwanziger Jahre beschworen werden, basieren auf einer Legende, die von den damals dreißigjährigen Kapitulanten, die durch einen Zufall am Leben geblieben sind, und ihren jüngeren Brüdern erschaffen wurden. Tatsächlich aber waren die zwanziger Jahre jene Zeit, in der alle Vorbereitungen für unsere Zukunft getroffen wurden - die kasuistische Dialektik, das Außerkraftsetzen aller Werte, der Wille zu Gleichgesinntheit und Unterordnung ..." Mit anderen Worten: Stalin war ebenso die logische Konsequenz der russischen Revolution wie Robespierre und Saint-Just diejenige der französischen.

Nadeschda Mandelstam verfährt nicht linear, sondern greift immer wieder auf die Anfänge ihrer Beziehung zu Mandelstam zurück. Ihre große Erzählung enthält Beschreibungen von Mandelstams Arbeitsweise, eine ganze Reihe äußerst prägnanter Porträts von Zeitgenossen und eine Fülle von absurden Geschichten, die sich in einem System wie dem stalinistischen zwangsläufig ereignen. Bemerkenswert ist die lapidare, zuweilen bis zum Sarkasmus sich steigernde Ironie, die im Buch immer wieder durchscheint und die nötige Distanz schafft, die es braucht, um von der Hölle überhaupt erzählen zu können. Dieses Buch ist Zeitzeugnis und zugleich große Literatur.

JOCHEN SCHIMMANG

Nadeschda Mandelstam: "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe".

Aus dem Russischen, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Ursula Keller. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 785 S., geb., 44,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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