Mireille Zindel nimmt uns mit in den Kopf und die Seele von Noëlle. Noëlle ist Schriftstellerin und flieht vor den Lasten ihres Lebens und um zu schreiben in ein Haus auf dem Land im schweizerischen Jura. Sozialen Kontakten geht sie aus dem Weg. Allein bei der „Hexe“ Muira schaut sie regelmäßig
vorbei und besucht ihre Therapieeinheiten bei ihrem Psychiater. Ängstlich und abergläubisch wirkt sie…mehrMireille Zindel nimmt uns mit in den Kopf und die Seele von Noëlle. Noëlle ist Schriftstellerin und flieht vor den Lasten ihres Lebens und um zu schreiben in ein Haus auf dem Land im schweizerischen Jura. Sozialen Kontakten geht sie aus dem Weg. Allein bei der „Hexe“ Muira schaut sie regelmäßig vorbei und besucht ihre Therapieeinheiten bei ihrem Psychiater. Ängstlich und abergläubisch wirkt sie bei allem, was sie tut und denkt. Ihre Spaziergänge in die nahe Umgebung, über die nassen Felder und Weiden, am Wald entlang halten sie immer in einem engen Radius um das Haus. Ihre Gedanken kreisen ebenso eng und unaufhörlich um David, ihre leidenschaftliche, aber wie es scheint, unerhörte Liebe. David ist wie sie verheiratet und was von jeder ihrer Fasern vor 5 Jahren obsessiv Besitz ergriffen hat, wird von ihm vage gehalten und wurde vielleicht sogar inzwischen beendet. Seine Likes ihrer Beiträge versteht sie als Austausch von Liebesnachrichten, doch reale Kontaktaufnahmen bleiben ohne Antwort.
Soweit Noëlles Blick auf die Geschichte. Doch bald merken wir, dass die Realität eine ganz andere ist und dass sich in Noëlle eine dunkle, emotionale Abhängigkeit entwickelt hat, die nicht zu beherrschen scheint und sie in eine völlig andere Wirklichkeit führt.
Das hat mich umgehauen. Denn Noelle wirkt zunächst durchaus identifikativ. Ihre Obsession für David ist mir von Anfang an etwas fremd, aber ansonsten wirkt sie sehr nahbar und angebunden. Das Setting in der inneren und äußeren Isolation erinnert mich an Marlen Haushofers „Die Wand“. Doch nach und nach offenbart sich uns etwas, das Zweifel sät, nach und nach kommt das Gefühl auf, dass etwas anderes nicht stimmt. Und auch wenn die Handlung sehr langsam und entschleunigt dahinfließt, baut sich aus diesem Gefühl eine intensive Spannung auf. Was ist Wahn und was Realität und worin liegt die größere Freiheit?
„Die größte Freiheit ist, sich freiwillig zu zerstören. Die Freiheit der Selbstmörder, ihr Körper gehört ihnen. Deshalb behält der Mensch tödliche Angewohnheiten wie rauchen, trinken, Drogen nehmen, den falschen Menschen lieben. Für das erhabene Gefühl der Freiheit.“ S.79
Die gut 400 Seiten mit einer überschaubaren Handlung sind ein Kammerspiel. Ein Monolog. Ein Mäandern durch Noëlles innere Wirklichkeit, ihre Gedanken, Empfindungen, literarischen Erfahrungen, ihre Ängste und ihren Wahn. Wir streifen mit ihr durch die Landschaften des Jura. Der Text ist locker, zeitweise wie Lyrik mit nur wenigen Worten in einer Zeile gesetzt, den einzelnen Gedanken Raum gebend, das wirre Abschweifen deutlich machend.
Ich freue mich jedes Mal auf den Sanftmut und die Entschleunigung, die mich beim Lesen erfassen. Das hat ein bisschen gedauert, denn ich bin ja bekanntlich eine ungeduldige Leserin und kann Langsamkeit schwer aushalten. Hier hat sie mich gepackt und geerdet.
Mireille Zindel ist der fünfte Roman der Schweizer Autorin und bestimmt nicht mein letzter.
„Es heißt, man fürchte sich vor den Dingen, die man sich am meisten wünscht. Ließe sie sich los, kehrte sie vielleicht nie wieder. Sie würde weiter und immer weitergehen, ohne zu wissen wohin.“ S.65