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Glitzernde Pools, kunstvolle Skulpturen und imposante Tore: Sehnsüchtig blickt Chilves auf die luxuriösen Wohnanlagen von São Paulo. Sein eigenes Leben könnte nicht weiter davon entfernt sein: Er findet Unterschlupf auf der Praça da Matriz, ein Ort, wo jene zusammenkommen, die keinen Ort mehr haben.Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner. Zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Ölt...
Glitzernde Pools, kunstvolle Skulpturen und imposante Tore: Sehnsüchtig blickt Chilves auf die luxuriösen Wohnanlagen von São Paulo. Sein eigenes Leben könnte nicht weiter davon entfernt sein: Er findet Unterschlupf auf der Praça da Matriz, ein Ort, wo jene zusammenkommen, die keinen Ort mehr haben.
Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner. Zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Öltonnen, in einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, entsteht eine unerwartete Gemeinschaft.
Patrícia Melo reißt uns mit in eine schmutzig schillernde Metropole und fragt, was uns als Menschen ausmacht.
Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner. Zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Öltonnen, in einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, entsteht eine unerwartete Gemeinschaft.
Patrícia Melo reißt uns mit in eine schmutzig schillernde Metropole und fragt, was uns als Menschen ausmacht.
Patrícia Melo (*1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur 'führenden Schriftstellerin des Millenniums' in Lateinamerika. Sie lebt in Lissabon.
Produktdetails
- Verlag: Unionsverlag
- Originaltitel: Menos que um
- Seitenzahl: 397
- Erscheinungstermin: 12. Februar 2024
- Deutsch
- Abmessung: 206mm x 130mm x 37mm
- Gewicht: 535g
- ISBN-13: 9783293006027
- ISBN-10: 3293006027
- Artikelnr.: 69245786
Herstellerkennzeichnung
Nördlinger Verlagsauslfg
Augsburger Str. 67a
86720 Nördlingen
Kundenservice@beck.de
»Melos literarische Verarbeitung der Realität ist meisterhaft und entspricht dem Wesen von São Paulo - hart, dynamisch, schmutzig, verwirrend. Und trotz des bedrückenden Themas ist Die Stadt der Anderen eine hinreißende Lektüre, nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung von Barbara Mesquita.« Buchkultur
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Ganz glücklich wird Rezensent Dirk Fuhrig nicht mit Patricia Melos neuem Buch, das während Jair Bolsonaros Amtszeit in Brasilien spielt, genauer gesagt in den Armenvierteln São Paulos. Eine Villa der Reichen kommt zwar auch vor, erfahren wir, deren Bewohner jedoch kaum, vielmehr will das Buch den Ausgestoßenen der Gesellschaft, wie etwa Prostituierten und Tagelöhnern, eine Stimme geben. Das steht in der Tradition des Sozialromans, wie sie etwa von Victor Hugo vertreten wurde, erläutert Fuhrig, wobei der zentrale soziale Gegensatz für den Rezensent zu eindimensional daherkommt. Schließlich gibt es auch eine brasilianische Mittelschicht, kritisiert Fuhrig, die kommt bei Melo aber nicht vor, dafür aber ein Elendsdichter, der eine fehlgeleitete literarische Ambition in das Buch hinein trägt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die Elenden von São Paulo
Gravitationszentrum der Revolte: Patrícia Melos Roman "Die Stadt der Anderen" führt uns zu den Obdachlosen im heutigen Brasilien
Seit der Rezeption des literarischen Naturalismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gibt es in Brasilien eine Tradition des Romans, die sich der Darstellung ethnisch oder sozial marginalisierter Gruppen der Gesellschaft annimmt. Nicht immer waren solche sozialkritisch motivierten Werke auch literarisch bedeutsam, sie hat aber durchaus einige einflussreiche Werke hervorgebracht, von Jorge Amados "Herren des Strandes" (1937), einen Roman über verwaiste Straßenkinder, bis zu Paulo Lins' "Die Stadt Gottes" (1997) über die Gewalt in den Favelas von Rio de
Gravitationszentrum der Revolte: Patrícia Melos Roman "Die Stadt der Anderen" führt uns zu den Obdachlosen im heutigen Brasilien
Seit der Rezeption des literarischen Naturalismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gibt es in Brasilien eine Tradition des Romans, die sich der Darstellung ethnisch oder sozial marginalisierter Gruppen der Gesellschaft annimmt. Nicht immer waren solche sozialkritisch motivierten Werke auch literarisch bedeutsam, sie hat aber durchaus einige einflussreiche Werke hervorgebracht, von Jorge Amados "Herren des Strandes" (1937), einen Roman über verwaiste Straßenkinder, bis zu Paulo Lins' "Die Stadt Gottes" (1997) über die Gewalt in den Favelas von Rio de
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Janeiro.
An diese Tradition knüpft also Patrícia Melo an, wenn sie sich in ihrem neuen Roman "Die Stadt der Anderen" den Obdachlosen São Paulos zuwendet, einer Bevölkerungsgruppe, die in den Großstädten Brasiliens seit vielen Jahren nicht mehr zu übersehen ist und die zugleich die Widersprüche, Fehlentwicklungen und gewaltvollen Spannungen der Gesellschaft verkörpert. Seit jeher bedient die seit einigen Jahren in der Schweiz lebende Autorin das Genre des literarisch anspruchsvollen Krimis oder Thrillers, und ihre Werke (seit ihrem frühen Erfolg "O Matador", 1995, ins Deutsche übersetzt von Barbara Mesquita) beleuchten immer wieder unterschiedliche Facetten der urbanen Gewalt Brasiliens. Für ihren neuen Roman hat sie nun zu den Obdachlosen in der Zwölfmillionenstadt São Paulo recherchiert und nennt in einer Danksagung die Journalistin Emily Sasson Cohen, auf deren Interviews mit Angehörigen dieses Milieus sie sich unter anderem gestützt habe.
Der Roman präsentiert einen Reigen lose miteinander verknüpfter Figuren, die auf der Straße gelandet sind oder in prekären Verhältnissen ums Überleben kämpfen: Arbeitslose, Bettler, Kriminelle, Prostituierte, Drogensüchtige. Da ist Seno Chacoy, der wie viele andere die trostlosen Zustände in Venezuela verließ und nach Brasilien migriert ist, um nun festzustellen, dass dieses noch vor Kurzem hoffnungsvoll erscheinende Land nunmehr "tief gesunken" ist. Da sind der von familiärem Verlust traumatisierte Chilves und seine Partnerin Jéssica, die unter unwürdigen Bedingungen ein Kind zur Welt bringt. Da ist der Totengräber Douglas, der angesichts der vielen an Covid gestorbenen Menschen den Glauben an Gott verliert und sich einer auf einem Grabstein schlafenden Frau namens Zelia annimmt, deren Sohn von der Polizei getötet worden ist. Als er sie zusammen mit seiner Frau Regiana in ein psychosoziales Behandlungszentrum bringt, klärt uns die Erzählstimme über die Situation im Bolsonaro-Brasilien auf: "Das Zentrum war einer der wenigen Orte, die nach der Zerschlagung der gesamten psychiatrischen Behandlungsstrukturen in den letzten Jahren übrig geblieben waren, während von der Regierung unterstützte religiöse Einrichtungen die alten Methoden der Irrenanstalten wieder aufleben ließen."
Und da ist der obdachlose Schriftsteller Iraquitan, dessen "anarchistische" Prosa schließlich durch einen Verlag entdeckt und gehypt wird, was als Satire einer skrupellosen Medienwelt angelegt ist, aber letztlich sehr erwartbare Stereotypen bedient. Iraquitan selbst ist wohl die unglaubwürdigste Figur des Romans; Melo dient sie auch zur Bannung der Gefahr eines literarischen Elends-Voyeurismus.
Der "Megaverlag" wird unmittelbar eingeführt als "Überschallflugzeug ohne Fahrwerk oder Treibstoff", und über den windigen, phrasendreschenden Verleger und dessen skrupellose Vermarktung des Buchprojekts heißt es: "'Du hast den Titel schon gefunden, Marcinha', bat er die Assistentin, mit der er eine Affäre hatte und deren Körper wie der einer Venus aus dem Schaum ihrer leuchtenden Haarmähne erblühte." Die vorgeblich satirische Sicht auf die routinierte Verwertung sozialen Elends verpufft durch eine Sprache, die selbst allzu oft aus Klischees besteht.
Einen Mittelpunkt der in verschiedene Erzählstränge aufgefächerten Handlung bildet ein besetztes Haus, das Makan-Gebäude, das von Räumung bedroht wird, aber so etwas wie eine kollektive Hoffnung, das Gravitationszentrum eines Willens zur Revolte darstellt, etwa für die (später auf horrende Weise ermordete) Trans-Person Glenda: "Etwas aber gab es, das sie an diesem Ort besonders mochte: die Einsatzbereitschaft der Leute. Außerdem hatte sie durch den Alltag hier gelernt, dass Selbstverwaltung ein wichtiger Teil des Kampfes für Wohnraum war." Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem des Romans: Erzählt wird sowohl aus objektiver Perspektive als auch aus der Perspektive der Figuren selbst - allerdings verwischen die Grenzen dazwischen immer wieder, da ständig die sozialkritische Agenda der Autorin durchschlägt, indem stets explizit und in aktivistischem Duktus die endemischen Probleme der brasilianischen Gesellschaft angeklagt werden. So etwa eine gewalttätige Polizei, Rassismus, korrupte Verwaltung und Justiz, kriminelle Immobilienspekulation.
Der Roman, dessen Titel im Original "Weniger als eins" (Menos que um) lautet und der mit einem Zitat aus Victor Hugos "Die Elenden" (1862) beginnt, ist ersichtlich darum bemüht, die Sehnsucht nach Glück und menschenwürdigem Dasein derjenigen zu zeigen und literaturfähig zu machen, die am äußersten Rand der Gesellschaft und der allgemeinen Wahrnehmung stehen - und Melo gelingen dabei starke, eindrückliche Szenen. Sie ist zweifellos eine versierte Erzählerin, die gekonnt die verschiedenen Erzählstränge verwebt und die für diesen ruppigen Metropolenroman auch unterschiedliche sprachliche Register benutzt, von vulgärer Umgangssprache zu rhapsodischen Passagen und elliptischen Aufzählungen. Was aber eigentlich als ein mehrstimmiger Text über eine (un-)sichtbare "Realität" angelegt ist, wird letztlich einer allzu routinierten Erzählmaschinerie und einer zwar berechtigten, aber zu erwartbaren und vorgefertigten Gesellschaftskritik untergeordnet. JOBST WELGE
Patrícia Melo: "Die Stadt der Anderen". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Unionsverlag, Zürich 2024. 400 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An diese Tradition knüpft also Patrícia Melo an, wenn sie sich in ihrem neuen Roman "Die Stadt der Anderen" den Obdachlosen São Paulos zuwendet, einer Bevölkerungsgruppe, die in den Großstädten Brasiliens seit vielen Jahren nicht mehr zu übersehen ist und die zugleich die Widersprüche, Fehlentwicklungen und gewaltvollen Spannungen der Gesellschaft verkörpert. Seit jeher bedient die seit einigen Jahren in der Schweiz lebende Autorin das Genre des literarisch anspruchsvollen Krimis oder Thrillers, und ihre Werke (seit ihrem frühen Erfolg "O Matador", 1995, ins Deutsche übersetzt von Barbara Mesquita) beleuchten immer wieder unterschiedliche Facetten der urbanen Gewalt Brasiliens. Für ihren neuen Roman hat sie nun zu den Obdachlosen in der Zwölfmillionenstadt São Paulo recherchiert und nennt in einer Danksagung die Journalistin Emily Sasson Cohen, auf deren Interviews mit Angehörigen dieses Milieus sie sich unter anderem gestützt habe.
Der Roman präsentiert einen Reigen lose miteinander verknüpfter Figuren, die auf der Straße gelandet sind oder in prekären Verhältnissen ums Überleben kämpfen: Arbeitslose, Bettler, Kriminelle, Prostituierte, Drogensüchtige. Da ist Seno Chacoy, der wie viele andere die trostlosen Zustände in Venezuela verließ und nach Brasilien migriert ist, um nun festzustellen, dass dieses noch vor Kurzem hoffnungsvoll erscheinende Land nunmehr "tief gesunken" ist. Da sind der von familiärem Verlust traumatisierte Chilves und seine Partnerin Jéssica, die unter unwürdigen Bedingungen ein Kind zur Welt bringt. Da ist der Totengräber Douglas, der angesichts der vielen an Covid gestorbenen Menschen den Glauben an Gott verliert und sich einer auf einem Grabstein schlafenden Frau namens Zelia annimmt, deren Sohn von der Polizei getötet worden ist. Als er sie zusammen mit seiner Frau Regiana in ein psychosoziales Behandlungszentrum bringt, klärt uns die Erzählstimme über die Situation im Bolsonaro-Brasilien auf: "Das Zentrum war einer der wenigen Orte, die nach der Zerschlagung der gesamten psychiatrischen Behandlungsstrukturen in den letzten Jahren übrig geblieben waren, während von der Regierung unterstützte religiöse Einrichtungen die alten Methoden der Irrenanstalten wieder aufleben ließen."
Und da ist der obdachlose Schriftsteller Iraquitan, dessen "anarchistische" Prosa schließlich durch einen Verlag entdeckt und gehypt wird, was als Satire einer skrupellosen Medienwelt angelegt ist, aber letztlich sehr erwartbare Stereotypen bedient. Iraquitan selbst ist wohl die unglaubwürdigste Figur des Romans; Melo dient sie auch zur Bannung der Gefahr eines literarischen Elends-Voyeurismus.
Der "Megaverlag" wird unmittelbar eingeführt als "Überschallflugzeug ohne Fahrwerk oder Treibstoff", und über den windigen, phrasendreschenden Verleger und dessen skrupellose Vermarktung des Buchprojekts heißt es: "'Du hast den Titel schon gefunden, Marcinha', bat er die Assistentin, mit der er eine Affäre hatte und deren Körper wie der einer Venus aus dem Schaum ihrer leuchtenden Haarmähne erblühte." Die vorgeblich satirische Sicht auf die routinierte Verwertung sozialen Elends verpufft durch eine Sprache, die selbst allzu oft aus Klischees besteht.
Einen Mittelpunkt der in verschiedene Erzählstränge aufgefächerten Handlung bildet ein besetztes Haus, das Makan-Gebäude, das von Räumung bedroht wird, aber so etwas wie eine kollektive Hoffnung, das Gravitationszentrum eines Willens zur Revolte darstellt, etwa für die (später auf horrende Weise ermordete) Trans-Person Glenda: "Etwas aber gab es, das sie an diesem Ort besonders mochte: die Einsatzbereitschaft der Leute. Außerdem hatte sie durch den Alltag hier gelernt, dass Selbstverwaltung ein wichtiger Teil des Kampfes für Wohnraum war." Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem des Romans: Erzählt wird sowohl aus objektiver Perspektive als auch aus der Perspektive der Figuren selbst - allerdings verwischen die Grenzen dazwischen immer wieder, da ständig die sozialkritische Agenda der Autorin durchschlägt, indem stets explizit und in aktivistischem Duktus die endemischen Probleme der brasilianischen Gesellschaft angeklagt werden. So etwa eine gewalttätige Polizei, Rassismus, korrupte Verwaltung und Justiz, kriminelle Immobilienspekulation.
Der Roman, dessen Titel im Original "Weniger als eins" (Menos que um) lautet und der mit einem Zitat aus Victor Hugos "Die Elenden" (1862) beginnt, ist ersichtlich darum bemüht, die Sehnsucht nach Glück und menschenwürdigem Dasein derjenigen zu zeigen und literaturfähig zu machen, die am äußersten Rand der Gesellschaft und der allgemeinen Wahrnehmung stehen - und Melo gelingen dabei starke, eindrückliche Szenen. Sie ist zweifellos eine versierte Erzählerin, die gekonnt die verschiedenen Erzählstränge verwebt und die für diesen ruppigen Metropolenroman auch unterschiedliche sprachliche Register benutzt, von vulgärer Umgangssprache zu rhapsodischen Passagen und elliptischen Aufzählungen. Was aber eigentlich als ein mehrstimmiger Text über eine (un-)sichtbare "Realität" angelegt ist, wird letztlich einer allzu routinierten Erzählmaschinerie und einer zwar berechtigten, aber zu erwartbaren und vorgefertigten Gesellschaftskritik untergeordnet. JOBST WELGE
Patrícia Melo: "Die Stadt der Anderen". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Unionsverlag, Zürich 2024. 400 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Patrícia Melo entwirft in "Die Stadt der anderen" ein schonungsloses, aber packendes Panorama der Armenviertel São Paulos zur Zeit der Bolsonaro-Regierung. Anfangs hat mich die Vielzahl der Figuren sowie die häufigen Szenenwechsel durch die sehr kurzen Kapitel etwas …
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Patrícia Melo entwirft in "Die Stadt der anderen" ein schonungsloses, aber packendes Panorama der Armenviertel São Paulos zur Zeit der Bolsonaro-Regierung. Anfangs hat mich die Vielzahl der Figuren sowie die häufigen Szenenwechsel durch die sehr kurzen Kapitel etwas verwirrt– ein Personenregister wäre hier hilfreich gewesen. Doch sobald man sich in die Geschichte eingelesen hat, entfaltet sich eine große Sogwirkung, und ich mochte das Buch kaum noch zur Seite legen.
Die Großstadt erscheint als düsterer Moloch, in dem Gewalt und Hoffnungslosigkeit allgegenwärtig sind. Polizei und Institutionen, die offiziell für Ordnung oder soziale Hilfe sorgen sollen, entpuppen sich als zutiefst korrupt, brutal und rassistisch, das Leben eines Obdachlosen ist nichts wert. Die sogenannten Ordnungshüter verüben gerne auch mal Selbstjustiz und lassen die Leichen auch gleich verschwinden. Besonders bedrückend ist die Darstellung des Lebens auf der Straße, das einer eigenen, rauen Ordnung folgt. Trotz Solidarität unter den Ausgestoßenen bleibt es ein Überlebenskampf mit eigenen Regeln, in dem Transsexuelle und Migranten auf der untersten Stufe stehen und noch stärker ausgegrenzt werden.
Melo schildert diese Realität mit sprachlicher Wucht und intensiver Bildkraft. Einige Figuren, wie etwa der auf der Straße lebende Schriftsteller, der von einem Literaturagenten entdeckt und medial gehypt wird, wirken zwar klischeehaft, doch insgesamt gelingt es der Autorin, eine bedrückende und gleichzeitig fesselnde Gesellschaftskritik zu formulieren. Besonders eindrücklich ist die Entlarvung jener Institutionen, die angeblich soziale Verbesserungen anstreben, in Wahrheit jedoch nur am Leid der Ärmsten verdienen.
Fazit: Packende brasilianische Gesellschaftkritik, teils ein wenig überzeichnet.
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São Paulo, schillernde Millionenmetropole, Kultur- und Wirtschaftszentrum und beliebtes Reiseziel Brasiliens ist Melos Geburtsstadt. Doch sie zeigt uns die andere Seite, »die Stadt der Anderen«, die der Obdachlosen, Prostituierten, Gelegenheitsdiebe, Müllsammler, …
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São Paulo, schillernde Millionenmetropole, Kultur- und Wirtschaftszentrum und beliebtes Reiseziel Brasiliens ist Melos Geburtsstadt. Doch sie zeigt uns die andere Seite, »die Stadt der Anderen«, die der Obdachlosen, Prostituierten, Gelegenheitsdiebe, Müllsammler, Straßenhändler, Bettler und Drogensüchtigen. Menschen, die oft von heute auf morgen ihren Job, ihre Wohnung verloren haben und nun auf der Praça da Matriz auf Pappen in Hauseingängen schlafen, auf Parkbänken oder unterbehelfsmäßigen Planen und ums tägliche Überleben kämpfen.
Chacoy, der auf der Suche nach einem besseren Leben aus Venezuela eingewandert ist, muss sie jeden Morgen mit dem Wasserschlauch vertreiben. Durch eine Unachtsamkeit verliert er seinen Job und wird Teil dieser bunten Gemeinschaft. Dido mit seinem Hundewelpen, der vor dem gewalttätigen Stiefvater geflohen ist, die schwangere 15-jährige Jèssica, die ihr Geld mit Putzen verdient, Chilves, der mit Müll Geld macht, im Gefängnis landet und bekehrt wird. Und da ist Douglas, der Totengräber, der während der Coronapandemie täglich mehr Gräber ausheben muss, und seinen Glauben an Gott verliert.
Es sind einige Figuren, die wir durch ihr tägliches Elend begleiten, die Melo mit der Zeit lose verknüpft. Es braucht eine Weile, bis man sich im Großstadtdschungel São Paulos zurechtfindet. Aber desto mehr man von den einzelnen Schicksalen erfährt, umso sogartiger entwickelt sich die kaleidoskopartige Geschichte. In wechselnden Perspektiven erleben wir, wie unterschiedlich die Schicksale der Gestrandeten sind, wie schnell man von heute auf morgen auf der Straße landen kann, seine Arbeit, sein Dach über dem Kopf, seinen ganzen Besitz verlieren kann. Sie alle sind einem korrupten Polizeiapparat ausgeliefert, der vor Selbstjustiz und Mord nicht zurückschreckt, sie verschwinden ohne Anklage in Gefängnissen oder in kirchlichen Einrichtungen, die mit zweifelhaften Methoden von Umerziehungs- oder Irrenanstalten arbeiten und dafür Geld von der Regierung erhalten.
Zwischen all der Aussichtslosigkeit blitzt immer wieder ein Funken Hoffnung, Menschlichkeit und gegenseitiger Hilfsbereitschaft durch. Auch wenn man ihnen alles genommen hat, sie träumen noch immer von einem besseren Leben. Und das ist auch die Stärke des Romans, denn Melos Figuren wachsen einem mit der Zeit sehr ans Herz. Man ist so mittendrin, dass man sich wünscht, ihr kleiner Traum vom Glück möge in Erfüllung gehen. Doch Melo zerstört auch diese Wünsche, das Sterben auf der Straße ist allgegenwärtig.
Melo benennt weder Details der Pandemie noch die fatale Politik des rechten Präsidenten Bolsonaros, dennoch wird schnell deutlich, welche Folgen dies für das Land hatte, die besonders für die Armen exorbitant waren. Wer in Brasilien keine Adresse hat, kann sich auch nicht für Sozialhilfe registrieren lassen. Einmal auf der Straße angekommen gibt es nahezu keinen Weg zurück.
Melo lässt es uns hautnah spüren, wie unerwünscht diese Menschen sind, die das Stadtbild verschandeln, den Einzelhändlern ein Dorn im Auge sind und wie perfide die erdachten Gegenmaßnahmen, um sie loszuwerden. Das ist stellenweise nur schwer zu ertragen, schmerzt fast körperlich, da es trotz aller Fiktion sehr realitätsnah wirkt. Und doch liest sich der Roman flüssig und schnell, die Kapitel aus den einzelnen Perspektiven sind kurz und die Zeitsprünge (oft über Monate hinweg) verdichten die Ereignisse. Besonders beeindruckt haben mich ihre stilistischen Kniffe, der immer wiederkehrenden Aufzählungen, die zeigen, dass sich hinter der oft von uns als graue Masse wahrgenommenen Obdachlosen eine Vielzahl von Schicksalen, von Sehnsüchten, von individuellen Geschichten verbirgt. Melo gibt diesen unerwünschten, ungesehenen, vergessenen Menschen in ihrer Heimat eine Stimme. Es ist ein Roman, den ich so schnell nicht vergessen werde, der mich zutiefst berührt hat und der eine unbedingte Leseempfehlung von mir bekommt.
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Patricia Melo versetzt ihren Leser nach Sao Paolo/Brasilien, eine 12-Millionen-Stadt. Das Eingangszitat aus Victor Hugos „Die Elenden“ stimmt den Leser schon ein auf das, was ihn erwartet: einen Roman über Obdachlose, über soziale Probleme, über ethnisch Diskriminierte, …
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Patricia Melo versetzt ihren Leser nach Sao Paolo/Brasilien, eine 12-Millionen-Stadt. Das Eingangszitat aus Victor Hugos „Die Elenden“ stimmt den Leser schon ein auf das, was ihn erwartet: einen Roman über Obdachlose, über soziale Probleme, über ethnisch Diskriminierte, über sozial Deklassierte, Menschen aller Couleur, die am Rande der Gesellschaft leben und nicht in der Lage sind, sich an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.
Melo lässt einen Figurenreigen auftreten, dessen Figuren locker miteinander verbunden sind und die eines gemeinsam haben: alle sind auf der Straße gelandet, und sie kämpfen mit unterschiedlichen Mitteln ums tägliche Überleben. Die Autorin führt die vielen Personen sehr sicher durch die Handlung, sie behält die Erzählung souverän in ihrer Hand. Traumatisierte, Bettler, Junkies, Prostituierte, elternlose Kinder, Transvestiten, Tagelöhner, Diebe und andere Kriminelle, aber auch Studenten und ehemals Bürgerliche, die in eine Schieflage geraten sind und nicht mehr herausfinden – sie alle sammeln sich an einem Platz.
Mit dieser Situation nimmt Melo aber auch andere Probleme der brasilianischen Gesellschaft ins Visier: eine korrupte Justiz, eine gewalttätige Polizei, die Lynchjustiz praktiziert, den alltäglichen Rassismus, die staatliche Förderung von Großkapital, den Pauperismus breiter Gesellschaftsschichten – kurz: die gewaltige Schieflage der brasilianischen Gesellschaft und das Versagen eines Staatswesens.
Melos Sozialkritik ist überdeutlich und auch berechtigt. Gelegentlich geht ihre Empörung mit ihr durch, etwa wenn sie als Autorin Informationen über das Gesundheitswesen gibt, die die Perspektive der jeweiligen Figur übersteigen.
Die einzelnen Figuren des großen Reigens sind voller Empathie gezeichnet. Sehr anrührend ist es, wenn sie selber ihre Träume schildern: eine Steuernummer, eine Arbeit, das tägliche Essen für sich und die Familie, ein Dach über dem Kopf. Im Zentrum der Handlung steht das sog. Makan-Gebäude, das einem weiblichen Immobilien-Tycoon gehört, die es als Spekulationsobjekt verkommen lässt. Eine Gruppe besetzt das Haus, renoviert es, installiert eine funktionierende Gemeinschaft – ein Hoffnungsschimmer für die Obdachlosen und zugleich der Ansatz einer Revolution, die allerdings durch Polizei und Militär zerschlagen wird. Was bleibt? Wer hat eine Zukunft?
4,5/5*
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