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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 507 Bewertungen
Bewertung vom 22.04.2024
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


gut

Der Roman (oder ist es ein Memoir?) liest sich - bei aller Schwere des Themas - leicht und auch durchaus unterhaltsam dahin. Autorin Dröscher erzählt von ihrer Kindheit in einem Dorf im Hunsrück Ende der 1980er Jahre.

Die Ehe der Eltern ist alles andere als auf Augenhöhe; der Vater schikaniert seine Ehefrau auf schier unerträgliche Weise. Nicht nur dass sie sich wöchentlich unter seiner Aufsicht wiegen muss, nein, er macht ihre Leibesfülle sogar für seine widerholt ausbleibende Beförderung verantwortlich. Die kleine Daniela nimmt das Übergewicht der Mutter zunächst gar nicht wahr, je älter sie wird, desto mehr rückt deren Optik aber auch in ihren Fokus, bis sie sich letztlich auch für das Äußere der Mama schämt.

Ich bin ehrlich gesagt hin- und hergerissen, was die Bewertung dieser Geschichte angeht. Zwar wird nicht ganz klar, was hier fiktional und was autobiografisch ist, sagen wir einfach, Dröscher schwimmt auf der aktuellen Welle der Autofiktion mit, dagegen ist ja zunächst nichts einzuwenden. Aber die erklärenden Einschübe, in der die erwachsene Daniela die Erlebnisse der jungen Ela für die Leserschaft noch einmal moralisierend erläutert, haben mir das Buch reichlich verleidet. Einerseits kam ich mir durch diese überflüssigen Belehrungen seltsam vor, so als würde die Autorin mir ohne diese Fingerzeige nicht zutrauen, ihre Botschaft verstanden zu haben. Und andererseits lässt sie es eben an Erklärungen fehlen. Dafür, wieso die Mutter so in ihrer Opferrolle gefangen bleibt, auch als sie ein unerwartetes finanzielles Polster ererbt, das ihr den nötigen Freiraum für eine Zukunft ohne den unterdrückenden Gatten sichern könnte. Aber auch Vater Dröscher kommt über eine zweidimensionale Schablone nicht hinaus. Wie wurde er zu dem Monster als das er geschildert wurde? Hat die erwachsene Daniela das Gespräch mit ihm gesucht? Man erfährt es leider nicht.

Fazit: Ein interessantes Sittengemälde der BRD, der Versuch, schreckliche patriarchale Machtstrukturen innerhalb einer Familie aufzuzeigen, der aber über das Anprangern hinaus wenig anzubieten hat.

Bewertung vom 22.04.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Zunächst klingt der Plot wie eine klassische Dystopie: Die 16jährige Odile wächst in einer repressiven Gesellschaft mit wenig persönlicher Freiheit auf; besonders ist, dass man nicht nur geografisch, sondern auch durch die Zeit reisen kann: Das eingezäunte Tal liegt westlich scheinbar identisch vor, nur dass es um exakt 20 Jahre in die Vergangenheit versetzt ist, im Osten schließen sich weitere Täler an, die jeweils einen Zeitsprung von zwei Dekaden in die Zukunft ermöglichen.

Die Obrigkeit, das sogenannte "Conseil" entscheidet über die Anträge der Bewohner, Besuche in ihrer Vergangenheit oder Zukunft machen zu dürfen, das Ganze ist aufs strengste reglementiert, um den Verlauf des Schicksals nicht zu beeinflussen.

Howards Roman - ein in jeder Hinsicht beeindruckendes Debüt - kreist dabei um die Frage: "Was würdest du tun, wenn du die Vergangenheit ändern könntest?" Der Plot ist durchaus anspruchsvoll, um nicht zu sagen herausfordernd. Es ist sicher keine Geschichte, die man eben mal nebenbei liest, nein, hier ist volle Konzentration gefordert. Ansonsten kann man bei den Zeitreisen und den damit verbundenen Vorschriften und möglichen Konsequenzen schnell mal den Durchblick verlieren. Zumal der Autor nicht nur mit unseren vertrauten Vorstellungen von Linearität, Ort und Zeit spielt, sondern auch geschickt philosophische Fragestellungen in die Geschichte einflicht. Howard, seines Zeichens promovierter Philosoph, lässt dabei technologische Aspekte der Zeitreisen völlig außen vor, ihm geht es um die menschlichen Aspekte und gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Gedankenspiels, Facetten, die mich an Werke Kazuro Ishiguros erinnert haben. Wer sich fragt, wie soll das alles gehen, wird wenig Antworten finden; wer sich gerne damit beschäftigt, welche Folgen das Zeitreise-Konstrukt haben kann, bekommt reichlich Diskussionsstoff geliefert.

Dies kann etwas verunsichern, aber auch zu wirklich neuen, geradezu existenziellen Reflektionen anregen, wenn man sich darauf einlässt. "Das andere Tal" ist keine einfache, aber eine ungemein bereichernde Lektüre über Zeit und Liebe, Macht und Moral.

Bewertung vom 22.04.2024
Evas Rache / Paul Stainer Bd.4
Ziebula, Thomas

Evas Rache / Paul Stainer Bd.4


ausgezeichnet

Gut zwei Jahre habe ich dem neuesten Fall von Kriminalinspektor Paul Stainer entgegen gefiebert, und ich wurde erneut nicht enttäuscht - Thomas Ziebula liefert auch diesmal wieder ab.

Sein neuester Historienroman spielt 1922, Stainer ermittelt erneut in Leipzig, nun haben er und seine Kollegen es mit eine Serie von Sexualmorden zu tun. Der Spannungsbogen ist durchweg hoch, einige Szenen sind nichts für Zartbesaitete, aber es ist ja auch kein "Cosy Crime". Neben der eigentlichen Aufklärung des Verbrechens erwartet die Leser*innen die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung; sicherlich ungewöhnlich für die damalige Zeit, aber sehr überzeugend geschrieben. Außerdem machen Einzelheiten zur Geschichte der Leipziger Polizei, des Erstarken des Nationalsozialismus, die Nachwirkungen des ersten Weltkriegs und interessante Schauplätze wie die Leipziger Messe oder die Münchner Kammerspiele aus diesem Roman mehr als "nur" einen sehr guten Krimi.

Ziebulas Stärken sind glaubhafte, vielschichtige Charaktere, die Gelegenheit erhalten, sich im Verlauf der Geschichte zu entwickeln sowie seine fundierte, bisweilen geradezu akribische Recherche. Dadurch erhält das Setting des Romans ein ganz besonderes historisches Flair. Man kann einen gewissen Ehrgeiz entwickeln, die ein oder andere damalige zeitgenössische Person, auf die der Autor anspielt, zu enttarnen. In jedem Fall erweitern die zahlreichen historisch verbürgten Details aber das Allgemeinwissen und machen die Lektüre zu einem besonderen Genuss.

"Evas Rache" ist Kriminalliteratur auf hohem Niveau, spannend von der ersten bis zur letzten Seite, anspruchsvoll und dabei nicht weniger unterhaltsam, ganz nach meinem Geschmack. Der einzige Wermutstropfen besteht für mich darin, dass dieser Band laut Verlag "das fulminante Ende" der Reihe sein soll - ich hoffe sehr, dass sich der Autor umstimmen lässt und eine weitere Fortsetzung folgt!

Bewertung vom 19.04.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


sehr gut

Die Geschichte beginnt so hoffnungsvoll: Zwei Außenseiter, beide rothaarig und voller Sommersprossen, werden als Grundschüler zu Freunden, unterstützen sich und führen als junge Erwachsene eine Liebesbeziehung. Doch wer genau hinsieht, kann schon früh Anzeichen dafür entdecken, dass die Beziehung der beiden nie auf Augenhöhe ist. Phillip wünscht sich zwar nichts sehnlicher, als endlich nicht mehr allein auf dem Pausenhof zu sein, und so kümmert er sich intensiv um die neue Mitschülerin Fiana, die frisch aus Russland zugezogen ist und zunächst auch niemanden an ihrer Seite hat. Doch Phillip ist nicht nur helfend, sondern auch extrem fordernd, er will seine neu gewonnene Freundin nach seinen Vorstellungen formen. Es kommt zum Bruch - und dennoch sucht Fiana in einer Notsituation nach Jahren ausgerechnet wieder bei Phillip Hilfe. Zwei verkrachte Existenzen, jede auf ihre Weise, versuchen erneut, sich gegenseitig zu stützen. Nach außen dringt von den Schwierigkeitn nur wenig, sie leben "in geordneten Verhältnissen", auch wenn die Beziehung hinter der Fassade alles andere als gesund ist.

Lana Lux erzählt die Geschichte zunächst aus Phillips, dann aus Fianas Sicht, und beide Protagonisten sind nicht die zuverlässigsten Zeugen ihrer eigenen Story. Man wirft als Leser*in unweigerlich im Fortgang der Handlung bereits gefasste Meinungen wieder über Bord, da neue Perspektiven völlig andere Interpretationen zulassen. Für mich ein erfrischend neuer Hinweis auf die abgedroschene, aber deswegen nicht weniger wahre Phrase, alles habe zwei Seiten. Nicht ganz glücklich bin ich mit dem Dritten Teil, der mit Fiana und Phillip überschrieben ist. Denn hier nutzt die Autorin zunehmend Fianas innere Monologe, um der Leserschaft etwas zu erklären, die gespreizte Gedankenwelt empfand ich oft als aufgesetzt, nicht authentisch. Das Befolgen der guten alten "Show, don´t tell"-Regel hätte dem hier Text gut getan.

Davon abgesehen ist der Roman sehr eingängig geschrieben, die Handlung steuert rasant und zunächst unterschwellig, schnell aber offensichtlich auf ein unheilvolles Finale zu. Lux analysiert, ohne jedoch zu viel zu bewerten oder gar Schuldzuschreibungen zu formulieren. Wenn überhaupt, dann gilt ihre Kritik nicht Einzelnen, sondern der Presse, die manchmal Verbrechen in eine Schublade steckt, ohne ausreichend zu recherchieren, sowie der Gesellschaft, die leider viel zu oft wegschaut. Also: Bitte lest das Buch und/oder kümmert euch um eure Freund*innen, Nachbarn und Kolleg*innen, fragt nach und hört zu!

Bewertung vom 17.04.2024
Hier fließt die Liebe. Persische Küche
Sodoudi, Forough;Sodoudi, Sahar

Hier fließt die Liebe. Persische Küche


ausgezeichnet

Was für ein großartiges Buch! Seit es Einzug in mein Küchenregal gehalten hat ist es umgehend zu meinem aktuellen Lieblingskochbuch avanciert, und das, obwohl ich mehrere Dutzend guter Kochbücher besitze.

Die Rezepte, die die persischstämmigen Zwillingsschwestern hier vorstellen, sind einfach phänomenal. Ob frische Salate, raffinierte Mezze, außerordentlich schmackhafte Hauptgerichte oder fantastische Desserts - jedes Gericht vereint typisch persische Zutaten und Aromen und ist überdies so hübsch angerichtet, dass es ein wahrer Augenschmaus ist.

Nicht alle Rezepte sind für Anfänger geeignet, und für die meisten Leckereien muss man schon etwas länger in der Küche stehen, aber das Ergebnis lohnt die Mühe in jedem Fall! Ob man Gäste mit einem Mehrgänge-Menü verwöhnen möchte oder sich selbst ein orientalisches Gericht zaubert, Genuss ist garantiert. Ich bin einfach nur begeistert vom Juwelenreis mit Tahdig, der golden-knusprigen Kruste, und von "Kottlet", aromatischen Frikadellen mit Koriander und Kurkuma, kann ich gar nicht genug bekommen.

Zutaten und Angaben zur Zubereitung sind übersichtlich angeordnet, die Fotos einfach nur wunderschön, eine wahre Einladung zum Genuss.

Neben den Gerichten geben die Sodoudi-Schwestern auch Einblicke in ihre Kindheit im Iran und erzählen in wundervoll bebilderten Geschichten von der faszinierenden persischen Kultur. Zweisprachige Register, ein Glossar und die Playlist mit persischen Songs runden das hochwertige Hardcover ab. Die Autorinnen brennen nicht nur selbst für die vielfältige Kulinarik Persiens, sondern haben auch dieses Buch mit Leidenschaft und Herzblut verfasst. Beide Daumen hoch, meine uneingeschränkte Empfehlung!

Bewertung vom 08.04.2024
Lil
Gasser, Markus

Lil


sehr gut

Bislang kannte ich Markus Gasser nur als Sachbuchautor, aber bereits in diesem Genre war mir seine Sprachvirtualität äußerst positiv aufgefallen. Doch auch mit seinem Roman über die titelgebende Lil Cutting, Angehörige des Geldadels und der New Yorker High Society Ende des 19. Jahrhunderts, konnte mich der österreichische Literaturwissenschaftler überzeugen.

Gasser bettet die Geschichte der taffen Lil, die so gar keiner Rolle entsprechen mag, die damals an eine Frau der höheren Gesellschaft gestellt wurde, in eine Rahmenhandlung ein, in der Lils nicht ganz so taffe Ururururenkelin Sarah sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Diese Brücke in die Gegenwart mochte ich vergleichsweise wenig, nicht zuletzt weil Sarah Zwiegespräche mit ihrer Dobermannhündin Miss Brontë führt oder sich auch mal Rosen zu Wort melden. Ich bin einfach generell kein Fan von Anthropomorphismen, hier ist es mir zu viel "Alice im Wunderland" und dann doch wieder zu realistisch, um als kafkaesk durchzugehen. Das sind jedoch Kleinigkeiten, wirklich gestört hat mich das Ende, in dem Gasser zu einem Seitenhieb auf die Psychiatrie an sich ausholt, wenig reflektiert und für mich nicht nachvollziehbar.

Davon abgesehen ist "Lil" wirklich gelungen: Der Roman bietet durchweg Spannung, ist extrem dicht, schnell und kurzweilig und spart nicht an Gesellschaftskritik. Lil wird durch eine Intrige ihres misogynen Sohnes gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik festgehalten, kann sich jedoch befreien und der sich anschließende Rachefeldzug ist gleichermaßen atemberaubend wie tragikomisch. Manche Figuren grenzen an Karikaturen und brachten mich immer wieder zum Schmunzeln, sieht man mal vom Ende ab, das doch etwas zu sehr mit Abstrusitäten vollgestopft ist.

Literatur- und Geschichtsfans mögen Spaß daran finden, möglichst viele der historischen und literarischen Bezüge und Zitate zu entdecken, die Gasser zuhauf in den knapp 240 Seiten unterbringt. Aber auch ohne überaus belesen zu sein kann "Lil" gut unterhalten.

Bewertung vom 04.04.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


sehr gut

An Iris Wolffs neuestem Roman fällt zunächst die ungewöhnliche Form auf: Die Liebesbeziehung zwischen der jungen Künstlerin Kato und Lev, ihrem Freund aus Kindestagen, wird nicht wie gewohnt chronologisch erzählt, sondern beginnt in der Gegenwart und führt von Kapitel zu Kaptitel rückwärts, weiter in die Vergangenheit. Beide sind als Rumäniendeutsche in Siebenbürgen aufgewachsen, haben den Wandel der sozialistischen Republik in einen diktatorisch-kommunistischen Staat erlebt, sind aber höchst unterschiedlich mit der 1990 plötzlich gewonnenen Freiheit umgegangen.

Der Roman ist mehr als eine Liebesgeschichte, nahezu nebenbei, fast unbemerkt erzählt Wolff von den Auswirkungen der großen Politik auf die kleinen Leute, vom Nuklearunfall im Atomkraftwerk Tschernobyl oder der im Rückblick reichlich skurril anmutenden Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland Diktator Nicolae Ceaușescu einst das Bundesverdienstkreuz verliehen hatte. Besonders wird die Geschichte auch dadurch, dass sie das Augenmerk darauf richtet, wie es sein mag, sich in der eigenen Heimat fremd zu fühlen und nicht zuletzt, ob Mehrsprachigkeit Fluch oder Segen sein kann, nicht nur, aber auch in Beziehungen. Gut gefallen mir die Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind. Jedes ist in einer anderen Sprache und kann so als Reminiszenz an unsere polyglotte Gesellschaft gelesen werden.

Wolff schreibt zart und poetisch, vieles wird nur angedeutet, manches bleibt ungesagt. Es ist ein Roman der leise daherkommt, darum aber nicht weniger Gehör findet.

Bewertung vom 31.03.2024
Der Stich der Biene
Murray, Paul

Der Stich der Biene


ausgezeichnet

Müsste ich diesen 700 Seiten umfassenden Wälzer Paul Murrays in ein einziges Wort fassen, so wäre dies ECHT.

Natürlich ist diese Erzählung erfunden, und vermutlich verteilt sich das, was der dysfunktionalen vierköpfigen Romanfamilie an kleineren Unglücken und großen Katastrophen widerfährt, in der Realität auf zahlreiche irische Leben. Aber Murray setzt das Stilmittel der Verdichtung derart gekonnt ein, dass ich - so schräg der Plot auch manchmal anmutet - doch stets das Gefühl hatte, es könnte haargenau so passiert sein, es könnte echt gewesen sein.

Es ist eine Geschichte, die echt unter die Haut geht, und sie ist echt gut erzählt. (Allerdings schwächelt die Übersetzung durch Wolfgang Müller an der ein oder anderen Stelle etwas.) Die Perspektive wechselt zwischen den vier Protagonist*innen: Vater Dickie, der inmitten der Finanzkrise mehr als nur die Leitung seines Autohauses verliert, Mutter Imelda, die bildungsferne Dorfschönheit, die ihrem gewalttätigen Vater eigentlich durch eine Hochzeit mit Dickies Bruder entkommen wollte, Tochter Cass, die vor allem raus aus dem kleinstädtischen Mief möchte, in dem "alle wie zerstampfte Kartoffeln aussehen", und der zwölfjährige PJ, der sich - weitgehend unter dem Radar seiner Eltern - in große Gefahr begibt.

Wie Murray dabei seine Leserschaft jeweils in die unterschiedlichen Welten seiner Figuren eintauchen lässt, ist ganz großes Kino. Ich habe jeden einzelnen Gedanken geglaubt, nicht weil sie wahr sein mussten, sondern weil sie echt sein könnten. Murray ist, wie so viele Iren, ein überzeugender, fesselnder Geschichtenerzähler, und er ist dabei der Wahrhaftigkeit verpflichtet, dem Streben nach Wahrheit.

Was macht uns zu der Person, die wir sind, was geben wir lediglich vor zu sein? Wo sind wir in der Vergangenheit falsch abgebogen, und können wir jederzeit wieder die Richtung ändern? Was ist Fassade, was ist echt?

Echt lesenswert!

Bewertung vom 25.03.2024
Tremor
Cole, Teju

Tremor


gut

Eigentlich bin ich für Ungewöhnliches, Innovatives fast immer zu haben, auch Literatur abseits ausgetretener Pfade interessiert mich durchaus. Aber in seinem jüngsten Roman zeigt Teju Cole, seines Zeichens nicht nur Fotograf und Kurator, sondern auch Professor für Kreatives Schreiben in Harvard, für meinen Geschmack dann doch etwas zu viel Kreativität:

Protagonist Tunde ist - wie auch Cole selbst - mit 17 Jahren aus Nigeria in die U.S.A. ausgewandert. Nun, mit Mitte Vierzig, ist er verheiratet, erfolgreicher Fotograf und Akademiker, aber nicht wirklich angekommen. So weit, so gut. Allerdings verlässt Cole recht schnell die klassische Romanstruktur, und "Tremor" zeigt sich vor allem als rasende Abfolge innerer Monologe des Protagonisten. Die rapide wechselnden essayistischen Fragmente zu sortieren und einzuordnen hat mich oft ermüdet und manchmal überfordert.

Auch inhaltlich verlangt Cole seiner Leserschaft viel ab. Er verhandelt schöngeistige Musiktheorien (denen ich nur bedingt folgen konnte), sinniert über verschiedene Interpretationen eines bestimmten Mandinke-Liedes oder setzt an anderer Stelle voraus, man wisse, was mit "C. elegans" gemeint sei. (Es handelt sich um einen Fadenwurm, der in der Biologie als Modellorganismus erforscht wird.) Anfangs habe ich noch hochmotiviert alles mir Unbekannte recherchiert, doch schnell haben mir die intellektuellen "Höhenflüge" die Lektüre verleidet. Ich fürchte, dass dieser Roman sich aufgrund seiner Form nur an hochgebildete Leser*innen richtet. Dies ist mehr als schade, zumal einigen Botschaften definitiv mehr Augenmerk zukommen sollte: Der immer noch von postkolonialem Überlegenheitsgefühl geprägte Diskurs über Restitution von Raubkunst oder verschiedene Facetten des Rassismus, die selbst das Töten betreffen. Interessant - wenngleich ein wiederkehrendes Motiv Coles - ist auch die Fragestellung, in wieweit Fotografie, ohne aktive Erlaubnis einzuholen, in das Leben anderer Menschen eindringen darf.

Besonders erwähnen möchte ich ein Kapitel, das aus einer Aneinanderreihung kurzer, individueller Monologe verschiedener Einwohner Lagos´ besteht. Es zeichnet ein äußerst brutales, von Korruption und Gewalt geprägtes Bild der Lagunenmetropole, jedoch ohne erkennbare Einordnung durch den Autor. Wer Nigeria kennt, wird kaum überrascht sein, der Rest der Leser*innen wird ohne Hintergründe wohl schwerlich etwas mit diesen Momentaufnahmen anfangen können.

Fazit: Thematisch überfrachtet und strukturell für mich leider zu experimentell.

Bewertung vom 18.03.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Es gehört wohl eine immense Portion Mut dazu, einen der großen US-amerikanischen Klassiker neu zu erzählen. Aber Percival Everett macht genau dies, er nimmt sich Mark Twains "Huckleberry Finn" vor, zerlegt den Roman in seine Einzelteile und setzt ihn neu zusammen. Und dies auf grandiose Art und Weise.

Die offensichtlichste Änderung ist, dass Everett den Sklaven Jim (respektive James, wie sein wahrer Name lautet) als Ich-Erzähler zu Wort kommen lässt. Und schon dadurch erfährt die Story einen grundlegenden Wandel. James ist kein einfältiger Zwangsarbeiter, sondern literarisch und philosophisch kompetent. Allerdings ist es für ihn lebensgefährlich, sich Wissen anzueignen, er kann sich nur heimlich in die Bibliotheken der Weißen schleichen. Überhaupt ist "schleichen" überlebenswichtig, nur möglichst nicht auffallen, jede noch so kleine Banalität kann zu drakonischen Strafen führen, willkürliche Auspeitschungen sind an der Tagesordnung. Und so tarnen sich die Sklaven mit einem tumben, stereotypen Dialekt, der sie dumm und ungefährlich wirken lässt. Diese Sprache wird nur in Gegenwart Weißer verwendet, muss jedoch von den Kindern der Sklaven heimlich erlernt werden. Besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch die großartige übersetzerische Leistung Nikolaus Stingls, der diesen "Sklaven-Slang" geschickt in ein adäquates, genuscheltes und mit grammatikalischen Fehlern gespicktes Deutsch übertragen hat.

Everett steht Twains erzählerischem Talent in nichts nach, rückt jedoch die Lebensrealität der Sklaven in den Mittelpunkt. Erscheinen die gemeinsamen Abenteuer bei Twain aus Hucks Sicht überwiegend spannend und lustig, so ist die Flucht entlang des Mississippi aus James´ Warte in jeder Sekunde von Todesgefahr begleitet. Obwohl sich Everett weitgehend an Twains Plot hält, erschließt sich hier eine gänzlich andere Geschichte. Einer der intensivsten Momente war für mich, als James sich einer Showtruppe von Minstrels anschließt. Diese weißen Unterhaltungsmusiker färbten sich die Gesichter schwarz und karikierten bei ihren Auftritten das (vermeintliche) Leben der Afroamerikaner. Der relativ hellhäutige James bekommt ebenfalls Blackfacing verpasst, um als schwarz geschminkter Weißer wahrgenommen zu werden - als "echter" Schwarzer hätte er nie eine Bühne bekommen. Doch diese Maskerade ist auch ein genialer schriftstellerischer Schachzug, mit dem Everett deutlich macht, wie anders der Blick Weißer auf People of Color war und oft immer noch ist: "Ich nahm Blickkontakt mit ein paar Leuten in der Menge auf, und die Art, wie sie mich ansahen, war anders als jeder Kontakt, den ich je mit Weißen hatte" lässt er James in seiner Minstrel-Tarnung konstatieren.

"James" ist auch die Geschichte einer Selbstermächtigung, den Everetts Protagonist schreibt seine Geschichte selbst nieder, er lässt sie nicht von anderen erzählen. Schon gar nicht von einem jungen weißen Analphabeten.