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Aischa

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Insgesamt 538 Bewertungen
Bewertung vom 25.11.2024
60 Kilo Sonnenschein
Helgason, Hallgrímur

60 Kilo Sonnenschein


ausgezeichnet

In Island ist Literatur tief in der Geschichte, Kultur und im Alltag verwurzelt. Die Liebe zum geschriebenen Wort macht das kleine Land zu einer der literarisch reichsten Nationen der Welt. Island hat eine außergewöhnlich hohe Publikationsrate. Statistisch gibt es mehr Autor*innen und veröffentlichte Bücher pro Kopf als in fast jedem anderen Land. Umso bedeutender ist die Tatsache, dass "60 Kilo Sonnenschein" dort mit dem Preis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurde.

Nicht nur die Jury, auch ich bin restlos begeistert. Hallgrímur Helgason hat hier ein monumentales Werk geschaffen, das die rauen und magischen Seiten Islands in einer literarischen Glanzleistung vereint. Der isländische Bestsellerautor entführt uns in die entbehrungsreiche Welt der Menschen im frühen 20. Jahrhundert, inmitten von Vulkanausbrüchen, Lawinen und bitterer Not.

Helgason erzählt die Geschichte des Waisenjungen Gestur, der in einem kleinen Fischerdorf im Nordwesten Islands aufwächst. Von Anfang an spürt man die Härte des Lebens in dieser isolierten, unwirtlichen Landschaft: eine Welt, die von gnadenloser Natur, Armut und den strengen moralischen Regeln einer patriarchalischen Gesellschaft geprägt ist. Doch Gestur ist ein Überlebenskünstler – schlau, empfindsam und voller Witz. Durch seine Augen erleben wir die rohe Schönheit Islands und den unbändigen Lebenswillen seiner Menschen.

Helgasons Schreibstil ist ein Ereignis. Mit einer unvergleichlichen Mischung aus Sprachwitz, Poesie und beißender Satire fängt er die Eigenheiten des isländischen Lebens ein. Seine Beschreibungen der Landschaft – von tosenden Stürmen über glitzernden Schnee bis hin zu schroffen Küsten – sind so lebendig, dass man den eisigen Wind auf der Haut zu spüren meint. Gleichzeitig verwebt er die isländische Kultur und Geschichte mit der Handlung, ohne je belehrend zu wirken. Es ist eine höchst fesselnde Mischung aus Historien-, Abenteuer- und Gesellschaftsroman. Dabei kennt der Autor sichtlich keine Tabus, Tod und Komik gehen Hand in Hand, und auch Religion und Sexualität werden immer wieder verwoben. Teils geht es - sprachlich wie auch in der Handlung - recht derb und brutal zu, aber ohne Effekthascherei.

Protagonist Gestur ist eine faszinierende literarische Figur. Trotz der Schicksalsschläge, die ihn ereilen, bewahrt er sich eine unerschütterliche Lebenskraft und einen staubtrockenen Humor. Er ist ein Symbol für die Widerstandsfähigkeit und den Kampfgeist der Isländer, ein moderner Schelm, der uns zeigt, dass selbst in den dunkelsten Zeiten ein Lichtschein – oder 60 Kilo Sonnenschein – Hoffnung geben kann.

Obwohl tief in der isländischen Geschichte verankert, greift "60 Kilo Sonnenschein" universelle Themen auf: Armut, soziale Ungerechtigkeit, den Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt sowie die Suche nach Identität und Freiheit. Es ist ein Roman über das Überleben – körperlich, emotional und spirituell.

Fazit: Hallgrímur Helgason hat mit "60 Kilo Sonnenschein" einen modernen Klassiker geschaffen. Es ist ein Buch, das mich tief bewegt hat, zum Lachen brachte und staunen ließ, es berührt Herz und Verstand gleichermaßen. Wer sich auf diese intensive literarische Reise einlässt, wird mit einem Werk belohnt, das in Erinnerung bleibt – ein strahlender Sonnenstrahl in der Welt der zeitgenössischen Literatur. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 19.11.2024
Ich bin Anna
Saller, Tom

Ich bin Anna


weniger gut

Dr. Thomas Saller, der sich als Autor kurz Tom Saller nennt, ist studierter Mediziner und praktiziert als Psychotherapeut. Mit seinem aktuellen Roman wirft er einen Blick zurück auf die Anfange dieses Berufsfeldes, indem er Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, und vor allem dessen jüngste Tochter Anna zu Protagonisten macht.

Da ich nicht nur Psychotherapie gegenüber aufgeschlossen bin, sondern auch recht wenig über Anna Freud wusste, war ich sehr gespannt auf "Ich bin Anna". Doch was für eine Enttäuschung: Weit über die Hälfte des Romans habe ich mich entsetzlich gelangweilt. In der Rahmenhandlung erinnert sich die 84-jährige Anna an ihre Zeit als junge Frau in Wien, trotz Berufstätigkeit lebt sie noch bei den Eltern. Im Hauptteil wechselt die Ich-Erzählperspektive zwischen Anna und ihrem Übervater Sigmund. Doch die Perspektivwechsel fördern wenig Überraschendes zutage.

Saller lässt Anna eine (fiktive) Lernanalyse bei ihrem Vater machen. Ein an sich interessantes Gedankenspiel, doch es bleibt nebulös, wie dies vonstatten ging. Auch sprachlich hat mich der Roman leider gar nicht erreicht. Stellenweise allzu bemüht intellektuell, dann wieder war nur schwer zu erkennen, aus wessen Perspektive gerade erzählt wird, zu sehr gleichen sich die Ausdrucksweisen von Tochter und Vater. Zwar lässt sich das durch einen Twist am Ende erklären, aber es hat eben leider meinen Lesegenuss deutlich geschmälert.

Auch inhaltlich hatte ich mehr erwartet. Weder erfährt man jenseits der gut bekannten biografischen Eckdaten sonderlich viel über die Familie Freud, noch über die Entstehung und Entwicklung der Psychoanalyse. Mit einer Ausnahme, nämlich wie Sigmund dazu kam, einen Todestrieb ("Thanatos") zu postulieren; allerdings ist auch diese Erklärung fiktiv.

Alles in allem kaum Unterhaltung und wenig Erkenntnisgewinn für mich.

Bewertung vom 17.11.2024
Frankfurter Backstube
Jamin, Cathérine

Frankfurter Backstube


gut

Cathérine Jamin ist eine erfahrene Konditormeisterin, die ihr Handwerk in renommierten Konditoreien in Frankreich, Österreich und Deutschland verfeinerte, bevor sie ins Familienunternehmen in Frankfurt einstieg. In ihrem aktuellen Buch teilt sie 30 Rezepte aus ihrer Backstube – eine Einladung, den Duft Frankfurts ins eigene Zuhause zu holen, der ich gerne gefolgt bin.

Die Rezeptauswahl überzeugt mit Vielfalt: Von traditionellen Klassikern wie dem auch überregional bekannten Frankfurter Kranz bis hin zu modernen Kreationen ("Mispel in the Air") ist für jeden Geschmack etwas dabei. Die appetitlich und rustikal inszenierten Fotos wecken die Lust aufs Nachbacken, und die meisten Rezepte sind unkompliziert gehalten und für Hobbybäcker gut umsetzbar – zumindest auf den ersten Blick.

Leider ist das Buch nicht uneingeschränkt für Anfänger*innen geeignet. Manche Anleitungen sind etwas ungenau, und auch wichtige Details wie die genaue Mehlsorte oder die Größe der Backformen werden nicht angegeben. Gerade weil Jamin im Vorwort betont, dass ihre Rezepte möglichst originalgetreu nachgebacken werden sollten, ist diese Nachlässigkeit irritierend.

Hinzu kommt, dass einige Zutaten, wie etwa Mispeln in Sirup, schwer zu beschaffen sind. Hier hätte eine Bezugsquelle oder eine alternative Zutat den Zugang erleichtert. Und dass die Mainhattan Schokoblocks mit Blattgold verziert werden finde ich dekadent, das widerspricht völlig meinem moralischen Kompass. Es gibt so viele alternative hübsche Dekormöglichkeiten.

Das Inhaltsverzeichnis mit kleinen Bildkacheln ist sehr ansprechend. Dennoch hätte ich mir zum schnellen Wiederfinden eines Rezepts auch ein alphabetisches Register gewünscht. Eine zusätzliche Prise Lokalkolorit gibt es bei zwei Rezepten, zu denen man etwas über deren Geschichte erfährt.

Insgesamt vergebe ich gute 3 von 5 Sternen – ein inspirierendes Buch mit kleinen Schwächen, das aber durch ein solides Preis-Leistungsverhältnis punktet.

Bewertung vom 14.11.2024
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


gut

Man schwimme auf der anscheinend immer noch aktuellen Welle der Autofiktion mit, webe ein paar seltsam anmutende Betrachtungen über Sternbilder und nicht minder diffuse Referenzen an Lars von Triers Film "Melancholia" ein, kröne das Ganze mit einer Portion römischer Mythologie - und heraus kommt ein Roman, den die Jury mit dem Deutschen Buchpreis auszeichnet.

Ja, ich bezeichne hier etwas, aber ich kann diese Entscheidung wirklich nicht nachvollziehen. Zwar beginnt "Hey, guten Morgen, wie geht es dir?" mit einem vielversprechenden Plot und einem aktuellen Thema: dem Phänomen der Love-Scammer, eine Art moderner Heiratsschwindler, die über digitale Plattformen Vertrauen erschleichen und finanziell ausnutzen. Doch leider bleibt der Roman hinter seinen Möglichkeiten zurück und liefert ein eher unausgereiftes Leseerlebnis, das durch diverse Stil- und inhaltliche Entscheidungen zusätzlich erschwert wird.

Eine der größten Irritationen stellt für mich die inflationäre Verwendung von Namen aus der römischen Mythologie dar. Obwohl Namen wie "Juno" und andere mythologische Verweise durchaus ein literarisches Stilmittel sein können, um Charakterzüge zu unterstreichen oder tiefere symbolische Bedeutungen einzuführen, wirkt die Namensgebung in diesem Roman eher beliebig und wenig durchdacht. Die Symbolik bleibt oft unklar, und ohne ersichtliche Verbindung zur Handlung oder den Figuren scheint diese Referenz eher wie ein aufgesetztes Motiv, das unnötig überladen wirkt.

Auch die Gedanken der Protagonistin über Sternbilder und den Film "Melancholia" hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck. An sich sind beides interessante Themen, doch leider fehlt es mir auch hier an einer Verknüpfung zum Kern der Geschichte. Diese philosophischen Exkurse wirken oft wie fremde Einschübe, die nicht zur Weiterentwicklung der Charaktere beitragen.

Protagonistin Juno bleibt leider erstaunlich statisch und eindimensional. Ihre Beziehung zu ihrem Ehemann, der an multipler Sklerose leidet, wird dabei vor allem durch ihre Erschöpfung und Überforderung bei der Pflege geschildert. Hier wird eine Chance verpasst, die emotionale Tiefe und die komplexen Facetten einer solchen Partnerschaft auszuloten. Die Perspektive ihres Mannes, seine Ängste und Sehnsüchte, hätten der Geschichte weitere emotionale Ebenen verleihen können. Stattdessen bleibt die Darstellung auf ein oberflächliches Bild von Pflege und Aufopferung beschränkt, hinzu kommt lediglich das prekäre Erwerbsleben vieler Künstlerinnen und Künstler.

Auch das Thema der Love-Scammer wird leider nicht voll ausgeschöpft. Es hätte Gelegenheit geboten, eine packende psychologische Spannung zu entwickeln und die schleichende Manipulation, die mit solchen Betrugsmaschen einhergeht, intensiv zu erforschen. Stattdessen bleibt der Plot recht oberflächlich, und die Dynamik zwischen Juno und dem Scammer wirkt fast schon stereotypisch. So bleibt die Handlung – trotz der Aktualität und des Potenzials des Themas – in einem mittleren Spannungsniveau stecken und lässt mich am Ende eher unberührt zurück.

Ich hatte eine tiefere Auseinandersetzung mit den Themen Pflege, Manipulation und emotionaler Erpressung gesucht, bekommen habe ich lediglich einen durchschnittlichen Roman mit jammerndem Grundrauschen.

Bewertung vom 12.11.2024
Jeden Tag kreativ sein
Deuchars, Marion

Jeden Tag kreativ sein


sehr gut

"Jeden Tag kreativ sein" von Marion Deuchars ist ein inspirierendes Buch, anhand dessen man die eigene Kreativität spielerisch und mit einfachsten Mitteln entdecken kann. Die mehrfach ausgezeichnete schottische Illustratorin lädt ihre Leser*innen ein, den Alltag durch kreative Übungen und neue Perspektiven zu bereichern. Sie kombiniert dabei ihre eigene Erfahrung als Künstlerin mit leicht umsetzbaren Techniken und Anleitungen, die sich meines Erachtens vor allem an Anfänger richten.

Das Buch bietet rund 70 kreative Anregungen, die oft mit nur wenigen Minuten umzusetzen ist. Die Übungen reichen von einfachen Zeichentechniken über das Malen und Schreiben bis hin zu Achtsamkeitsübungen, die das Auge für Details schulen und helfen, eigene Ideen zu entwickeln. Durch die klare und humorvolle Anleitung schafft Deuchars es, Berührungsängste abzubauen und die Hemmschwelle für kreative Prozesse zu senken.

Ein großer Vorteil des Buches ist seine Vielseitigkeit. Deuchars bedient sich verschiedenster Materialien und Techniken, was das Experimentieren mit Farben, Formen und Texturen besonders spannend macht. Da wird einfach mal mit dem Wischmop auf dem trockenen Innenhof mit Wasser ein feuchtes (und vergängliches) Kunstwerk geschaffen. Oder aber man nutzt die Natur, sei es, um aus buntem Herbstlaub einen farbigen Kreis zu legen, oder sich aus Pflanzenteilen verschiedene Pinsel zu basteln, die die interessantesten Striche zaubern. Manches ist einem vielleicht so oder so ähnlich bereits begegnet, sicher hat Deuchars hier "das Rad nicht völlig neu erfunden". Aber sie hat mir den nötigen Kick versetzt, um selbst wieder aktiv kreativ zu sein, statt passiv zu konsumieren.

Die Gestaltung des Buches selbst ist ansprechend und folgt dem Credo der Autorin: Kunst darf Spaß machen und soll Menschen zum Ausprobieren ermutigen. (Wieso das Cover hingegen so schlicht und einfallslos daher kommt, wissen wohl nur Autorin und Verlag.)

Fazit: "Jeden Tag kreativ sein" ist ein guter Ratgeber für alle, die Lust haben, Kreativität in ihren Alltag zu integrieren, spielerisch und voller Neugierde.

Bewertung vom 28.10.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


sehr gut

Der aktuelle historische Roman von Julia Malye basiert auf einer faszinierenden und wenig bekannten Episode Anfang des 18. Jahrhunderts: der Entsendung von Frauen aus dem Pariser Asyl La Salpêtrière in die französische Kolonie Louisiana. Malye erzählt die Geschichte dreier Protagonistinnen – Charlotte, Pétronille und Geneviève – die gezwungen sind, sich in einem völlig fremden Land neuen Herausforderungen zu stellen.

Die Autorin beschreibt eindrucksvoll die Härten und Entbehrungen, die diese Frauen ertragen müssen, sowohl auf der gefährlichen Reise als auch bei ihrer Ankunft in der Wildnis Louisianas. Besonders gelungen ist ihre Darstellung der Komplexität weiblicher Beziehungen und die Entwicklung der Protagonistinnen von völlig unterschiedlichen Hintergründen hin zu einer Gemeinschaft, die durch geteiltes Leid und Hoffnung verbunden ist. Die verschiedenen Facetten von Mutterschaft, Freundschaft und Überlebenskampf stehen im Mittelpunkt, wobei Malye immer wieder betont, wie unvorbereitet diese Frauen auf das raue Leben in der Kolonie waren. Die authentische Atmosphäre des Romans und die unzähligen historischen Details haben mich förmlich in die Zeit des frühen Kolonialismus eintauchen lassen. Allerdings wirkte die Handlung durch die Überfülle an historischen Informationen streckenweise etwas überladen, und es war nicht immer leicht, sich ohne Personenregister in der Vielzahl an Figuren zurecht zu finden.

​Äußerst bemerkenswert ist, dass Julia Malye "La Louisiana" sowohl auf Englisch als auch auf Französisch selbst geschrieben hat, ohne eine Übersetzung zu beauftragen. Dies ist eine relativ seltene Praxis unter Autor*innen und zeigt Malyes außergewöhnliche Sprachbeherrschung sowie ihr tiefes Verständnis beider Kulturen. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in ihrem persönlichen Hintergrund: Malye hat sowohl in Frankreich als auch in englischsprachigen Ländern gelebt und gearbeitet, was ihr eine einzigartige Perspektive auf beide Sprachwelten ermöglicht. Durch das eigenhändige Schreiben in beiden Sprachen kann sie sicherstellen, dass der Text in beiden Fassungen seine ursprüngliche Nuance und den beabsichtigten Tonfall behält, was bei Übersetzungen oft verloren gehen kann. Die deutsche Ausgabe wurde übrigens aus dem Französischen übertragen.

"La Louisiana" ist eine fesselnde Mischung aus Abenteuer-, Historien- und Gesellschaftsroman, die das Schicksal und den Überlebenskampf starker Frauen aus einer vergessenen Ecke der Geschichte ins Spotlight rückt.

Bewertung vom 20.10.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


weniger gut

Ich war etwas irritiert von diesem Roman, deutet der Klappentext doch an, dass es vor allem darum geht, zu welchen Grausamkeiten Kinder fähig sind. Schnell wird jedoch klar, dass sich die Geschichte vor allem um die erwachsene Pia dreht und darum, wie deren Erlebnisse in ihrer Kindheit sich auf ihre Partnerschaft und ihre Rolle als Mutter auswirken.

Die Story ist durchaus spannend, nicht zuletzt durch den Gegensatz der klaren, schnörkellosen Sprache einerseits und andererseits der Tatsache, dass sich Pia zunehmend als unzuverlässige Erzählerin entpuppt.

Allerdings mache ich der Autorin einen Vorwurf: Sie beschreibt Vieles, ohne zu werten. Dies ist in einem Roman auch nicht immer nötig. Wenn es jedoch um psychische und physische Gewalt an Kindern geht, ist es meines Erachtens nicht in Ordnung, derartige Übergriffe lediglich mit der eigenen schlimmen Kindheit der Täterin zu erklären. Lind lässt den Teufelskreis von Gewalt und Missbrauch in der Schwebe, ohne ihn wirklich zu hinterfragen oder zu durchbrechen. Hier verlange ich mehr, in der Realität, aber auch in der Fiktion. Es fehlt eine Reflexion oder zumindest ein Ansatz, der über das bloße Aufzeigen von Traumata hinausgeht. Das Gefühl bleibt, dass die Geschichte stehen bleibt, wo sie eigentlich hätte weitergehen müssen. Gerade angesichts der gravierenden Thematik wäre ein tiefergehender moralischer Diskurs wünschenswert gewesen.

Insgesamt ist "Kleine Monster" ein atmosphärisch dichter und spannender Roman, der jedoch mit seiner Zurückhaltung im Umgang mit ethisch herausfordernden Themen einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.

Bewertung vom 18.10.2024
Gratulieren müsst ihr mir nicht
Polansky, Lilli

Gratulieren müsst ihr mir nicht


sehr gut

Lilli Polanskys autofiktionaler Debütroman ist eine schonungslose und bewegende Auseinandersetzung mit den Krankheiten, die ihr Leben grundlegend verändert haben. Protagonistin Lilli, zugleich Alter Ego der Autorin, muss bereits mit Anfang Zwanzig ein Herzschrittmacher eingesetzt werden, sie wird nur durch eine Notoperation vor dem Tod aufgrund einer Darmblutung gerettet, und schließlich leidet auch ihre Psyche unter der extremen Belastung, die all diese Erfahrungen mit sich bringen. Die darauffolgende Depression wird ebenso offen thematisiert wie die unfassbaren körperlichen Schmerzen.

Polansky gelingt es, diese existenziellen Themen auf eine Weise zu erzählen, die mich tief berührt hat. Ihre Erzählweise ist brutal ehrlich und unverblümt in der Darstellung der körperlichen und seelischen Qualen. (Empfindsame Leser*innen seien gewarnt, es fließt mehr Blut als in manchem Splattermovie!) Dabei bleibt sie jedoch nicht in der Schwere gefangen: Mit einem überraschenden und wohldosierten Humor schafft sie es immer wieder, Leichtigkeit auch in düsterste Momente zu bringen. Diese Balance zwischen tiefem Schmerz und humorvollen Einschüben ist eine der großen Stärken des Romans und hebt ihn aus der Masse an Krankheits- und Bewältigungsliteratur hervor.

Außerdem punktet Polansky mit scharfer Kritik am Gesundheitssystem, die durch ihre eigenen Erfahrungen deutlich an Authentizität gewinnen. Sie zeigt die Schwächen und Mängel bei Diagnostik und Behandlung auf, mit denen viele Betroffene zusätzlich zu ihren Krankheiten zu kämpfen haben, und lässt damit Raum für eine größere gesellschaftliche Debatte.

Ein Schwachpunkt des Romans sind allerdings die ausführlichen Rückblicke auf Lillis Kindheit, vor allem ihre Erlebnisse im Kindergarten und in der Schule, die stellenweise etwas langatmig wirken.

Trotzdem ist „Gratulieren müsst ihr mir nicht“ ein starkes und eindrucksvolles Debüt, das nicht nur die persönlichen Krisen der Protagonistin beleuchtet, sondern auch anderen Betroffenen Trost und Verständnis bieten kann. Polanskys Debütroman ist ein mutiges Werk, das zeigt, wie es gelingen kann, selbst zwischen dunkelsten Momenten einen Funken Hoffnung und Humor zu finden.

Bewertung vom 16.10.2024
Tanjas Schlonz der Woche
Rösner, Tanja

Tanjas Schlonz der Woche


sehr gut

Tanja Rösner moderiert mit ihrem Kollegen Tobi Kämmerer die hr3 Morningshow, in der sie regelmäßig selbst kreierte Frühstücksgerichte vorstellt. Mit "Tanjas Schlonz der Woche" sind nun erstmals 25 Rezepte in Buchform erschienen. Mit einem Augenzwinkern präsentiert Rösner ihr Konzept des "Schlonz", kreative Rezepte, die ohne großen Aufwand einen süßen Start in den Tag ermöglichen.
Das Besondere an diesem Buch ist die Vielfalt an süßen Frühstücksideen, die allesamt schnell gemacht sind, aber dennoch raffiniert wirken. Man hat die Wahl zwischen "Ready to go-Schlonz", der morgens in wenigen Minuten schnell frisch zubereitet ist, und dem "Overnight-Schlonz", der schon am Vorabend gemacht und morgens nur noch aus dem Kühlschrank geholt wird. Für Morgenmuffel wie mich, denen eigentlich jeder Handgriff einer zu viel ist, ist dies die perfekte Lösung! Von Pumpkin Porridge, Karotten Overnight Oats über Mango-Chia-Pudding bis hin zu Smoothie oder Shake – hier kommt jede Naschkatze auf ihre Kosten.
Der humorvolle und bodenständige Schreibstil der Autorin verleiht dem Buch eine persönliche Note, und man hat beim Lesen das Gefühl, als würde man eine Freundin um ihre besten Frühstückstipps bitten. Ein kleiner Kritikpunkt ist, dass das Buch ausschließlich süße Rezepte enthält. Wer nach herzhaften Frühstücksideen sucht, wird hier nicht fündig. Doch für Fans süßer Speisen ist "Tanjas Schlonz der Woche" eine wahre Fundgrube an Inspiration und Genuss.
Auch die Ausstattung hat mich überzeugt: Jedes Rezept ist mit einem ganzseitigen Farbfoto illustriert, die Speisen sind hübsch und eher rustikal angerichtet, nicht übertrieben gestylt. Das Format (knapp DIN A5) ergibt ein handliches, kleines, aber feines Büchlein.
Insgesamt ist es eine tolle Wahl für alle, die morgens gerne süß in den Tag starten und nach einfachen, aber köstlichen Frühstücksrezepten suchen.

Bewertung vom 30.08.2024
Maifliegenzeit
Jügler, Matthias

Maifliegenzeit


weniger gut

Matthias Jügler setzt sich auch in seinem neuesten Roman mit den Spätfolgen der DDR auf unsere heutige Gesellschaft auseinander. Und da ich der Meinung bin, dass wir auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten leider weit davon entfernt sind, uns als Bevölkerung wirklich zusammengehörig zu fühlen, nutze ich gerne auch diese literarische Gelegenheit, die sich mir (als Wessie) bietet, um mehr über das Leben in der DDR zu erfahren.

Das Thema des Romans ist keine leichte Kost. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Mann, dessen Kind nach der Geburt für tot erklärt wurde, offenbar aber in Wirklichkeit ohne Wissen der Eltern zur Adoption frei gegeben wurde. Jügler überzeugt in der Darstellung des Vaters, der eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchlebt. Er verliert nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine Ehefrau, weil er nicht wie diese an einen vorgetäuschten Säuglingstod glaubt. Später macht er sich dennoch - erfolglos - auf die Suche nach seinem Kind und gibt auf, bis der Sohn als erwachsener Mann plötzlich anruft. All dies ist berührend, eindringlich und glaubhaft.

Zwei Dinge stören mich jedoch enorm: Zum einen ist dies, dass sich der Autor in seinem Nachwort knapp und eindeutig positioniert, er stellt vorgetäuschte Kindstode zum Zweck der Zwangsadoption als Fakt dar, obwohl dies bis dato trotz wissenschaftlicher Forschung in keinem Fall erwiesen ist. Damit schadet er in meinen Augen diesem wichtigen Thema leider. Und zum anderen - und dies wiegt noch deutlich mehr - umfassen knapp die Hälfte des ohnehin schmalen Büchleins detaillierte Abhandlungen übers Angeln. Sicherlich gekonntes Nature Writing, aber weder hat es mich unterhalten, noch konnte ich den Sinn hierbei bzw. den Bezug zum eigentlichen Thema der Geschichte herstellen.