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Der bekannte Menschenrechtsanwalt und Bestseller-Autor Philippe Sands erzählt die skandalöse Geschichte eines Verstoßes gegen die Menschenrechte. Er zeigt, dass der Kolonialismus noch nicht überwunden ist und Großbritannien bis heute internationales Recht bricht.
April 1973. Mitten in der Nacht werden die Bewohner einer Insel im Chagos-Archipel aus dem Schlaf gerissen. Britische Soldaten zwingen sie mit vorgehaltenen Waffen, ihre Häuser zu verlassen, per Schiff werden sie nach Mauritius und in die USA deportiert. Chagos wird zu britischem Territorium erklärt, Großbritannien verpachtet eine…mehr

Produktbeschreibung
Der bekannte Menschenrechtsanwalt und Bestseller-Autor Philippe Sands erzählt die skandalöse Geschichte eines Verstoßes gegen die Menschenrechte. Er zeigt, dass der Kolonialismus noch nicht überwunden ist und Großbritannien bis heute internationales Recht bricht.

April 1973. Mitten in der Nacht werden die Bewohner einer Insel im Chagos-Archipel aus dem Schlaf gerissen. Britische Soldaten zwingen sie mit vorgehaltenen Waffen, ihre Häuser zu verlassen, per Schiff werden sie nach Mauritius und in die USA deportiert. Chagos wird zu britischem Territorium erklärt, Großbritannien verpachtet eine der Inseln für eine Militärbasis an die USA.

»Wir waren wie Tiere oder Sklaven auf diesem Schiff. Einige starben vor Kummer. (...) Es bricht einem das Herz.« Mit diesen Worten beschrieb Liseby Elysé 2018 vor dem Internationalen Gerichtshof ihre Deportation. Seit Jahrzehnten streiten sie und ihre Landsleute um das Recht auf Rückkehr, seit 2018 werden sie dabei von Philippe Sands beraten.

2019 schrieb der Internationale Gerichtshof die Chagos-Inseln Mauritius zu, was der Internationale Seegerichtshof 2021 bestätigte. Doch Großbritannien verweigert bis heute die Rückgabe der Inseln und die Rückkehr ihrer Bewohner.

Ein aufrüttelndes Buch über kolonialen Dünkel und die Missachtung von Menschenrechten.

»Elegant geschrieben, bewegend und höchst informativ.« Literary Review
Autorenporträt
Philippe Sands, geboren 1960, ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre for International Courts and Tribunals am University College London. Leidenschaftlich setzt er sich für humanitäre Ziele und das Völkerrecht ein. Er formulierte u. a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. 2020 erschien von ihm 'Die Rattenlinie - ein Nazi auf der Flucht', 2017 'Rückkehr nach Lemberg', das mit dem renommierten Baillie Gifford Prize und dem Wingate Literaturpreis 2016 ausgezeichnet und Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017 wurde.  Thomas Bertram, geboren 1954 in Gelsenkirchen, lebt nach Jahren in der schwäbischen Diaspora seit 1996 als freier Lektor, Übersetzer, Autor und Herausgeber wieder in seiner Heimatstadt. Wie fast jeder im Ruhrgebiet kam er schon als Fußballfan auf die Welt. Die Bundesliga betrachtet er natürlich am liebsten durch die Brille 'seines' Klubs Schalke 04, erkennt aber an, dass es noch andere Vereine geben muss.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023

Die Arroganz
des Westens
Philippe Sands erzählt die Entwicklung
des Völkerrechts entlang des Schicksals eines
kleinen Inselvolks im Indischen Ozean
VON DAVID PFEIFER
s gibt eigentlich keine Vergangenheit, das ist einer der Lerneffekte, die man aus Philippe Sands Buch „Die letzte Kolonie“ ziehen könnte. Das Frühere strahlt ins Heute, Geschichte wirkt immer als Resonanzkörper zu allem, was wir in der Gegenwart diskutieren, vor allem wenn es um Politik geht. Und da die Zeiten politisch so bewegt sind, lohnt es sich zu studieren, welche Vergangenheit in der Beziehung der Westmächte zum sogenannten globalen Süden die Gegenwart beeinflusst. „Die letzte Kolonie“ tut dies anhand eines Themas, das trocken erscheinen mag, die Beziehungen der Völker in den vergangenen 80 Jahren aber entscheidend geprägt hat: die Rechtsprechung.
Philippe Sands, im Hauptberuf Jurist und Experte für Völkerrecht, erklärt am Beispiel der Chagossianer, wie internationales Recht angewendet wurde und wird. Der Chagos-Archipel liegt an einer Stelle des Globus, die man selten betrachtet, mitten im Indischen Ozean, etwa in der Mitte zwischen Madagaskar und Sri Lanka. Die Chagossianer wurden Ende der Sechziger zur Umsiedlung gezwungen, weil die britischen Kolonialherren ihre Inseln als Stützpunkt an die USA abgeben wollten.
Es war nicht einmal die brutalste oder ruchloseste Tat von Kolonialisten. Doch die Arroganz, Geringschätzung und der Rassismus gegenüber den Einheimischen diverser Länder und Kontinente lässt sich an diesem Beispiel gut im Kleinen erklären. Und wer heute begreifen will, wieso die Inder nicht gleich dabei sind, wenn westliche Staatschefs Solidarität bei den Sanktionen gegen Russland fordern, oder wieso viele afrikanische Regierungen lieber mit Russen und Chinesen paktieren als mit den Europäern oder Amerikanern, sollte das Buch dringend lesen.
Philippe Sands lässt eine Chagossianerin, die im Völkerrechtsprozess aussagte, ausgiebig zu Wort kommen, um ihrer Stimme und ihrer Sache ein Forum zu bieten. Leider sind das die schwächeren Passagen des Buches. Denn außer dem offensichtlichen Unrecht, das Madame Elysé und ihren Landsleuten widerfahren ist, erfährt man wenig über die Sorgen und Hoffnungen der Chagossianer in ihrer Rede. Sands will die Frau nicht literarisch beschreiben oder ihr gar Motive und Meinung unterschieben, die sie nicht geäußert hat. Das ist anständig, hemmt nur leider den Erzählfluss. Spannend wird es hingegen immer dann, wenn Sands sich selbst zum Mittelpunkt seiner Erzählung macht.
Seine Gedanken zur Dekolonialisierung schreibt er knapp, aber wirkungsvoll auf und hinterlegt sie mit Beschreibungen oder Zitaten. Da sind die gelegentlichen Phrasen kein Störfaktor. Es sei „nicht nach jedermanns Geschmack“ gewesen, als die Kolonialangelegenheiten auf der Tagesordnung der internationalen Politik immer weiter nach oben gerückt seien, erinnert sich Sands. „Ein britischer UN-Delegierter beklagte sich, dass die Debatten vielfach auf Gefühlen beruhten, statt vernunftgeleitet zu sein. Dies spiegele eine Form von ,umgekehrtem farbigen Vorurteil‘ wider, einen ,ungerechtfertigten Groll der dunkleren Völker gegen die frühere Beherrschung der Welt durch europäische Nationen‘.“ So bewerteten die Briten die immer wütender werdenden Forderungen nach Wiedergutmachung von ehemals ausgebeuteten und gedemütigten Völkern noch in den Siebzigern. Lange ist das nicht her. Politiker in den betroffenen Ländern erinnern sich gut daran.
Bis zum Sommer 1973 wurde die gesamte Bevölkerung des Chagos-Archipels, etwa 1500 Menschen, zwangsumgesiedelt. Zurück ließ sie Häuser, Wohnungen, Besitz und Haustiere, die vergiftet oder vergast wurden. Sands, der da noch in England zur Schule ging, beschreibt, was in seinen Schulbüchern zum Thema Kolonialismus zu lesen war: „Über Indien erfuhren wir, dass Lord Mountbatten, Großbritanniens letzter Vizekönig, ein ,bemerkenswerter Mann‘ war, einer, der gut abschnitt im Vergleich zu Mahatma Gandhi, einem ,verschrumpelten, knochigen, fast affenartigen‘ Führer mit ,billiger Brille, ein Vegetarier, ein Pazifist‘.“
Sands erklärt aus seiner Biografie, wie er als Student des Völkerrechts in den Achtzigerjahren noch völlig unwissend über die Vergangenheit war, „im Gegensatz zu heute, wo das Internet den direkten Zugriff ermöglicht, brauchte ein Dokument von den Vereinten Nationen in New York oder vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag Monate, bis es in der Universitätsbibliothek eintraf“. Solche Beobachtungen kann fast nur ein Jurist machen, und nur ein guter Schreiber kann sie so herunterbrechen, dass sie für interessierte Leser fassbar werden.
Sands holt weit aus: wie sich bereits 1941 in der sogenannten Atlantik-Charta die Worte fanden, mit denen sich Großbritannien und die USA auf den Grundsatz verpflichteten: „Sie achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen.“ Aus diesem Punkt sollte sich später nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung für die Inder oder Chagossianer ableiten, sondern auch für Südafrikaner und zahlreiche andere ehemalige Kolonien. Im Kalten Krieg jedoch galten die Sowjets als größte Bedrohung, was dazu führte, dass die USA überall auf der Welt Stützpunkte einrichteten. „Die britische UN-Gesandtschaft in New York wurde angewiesen, mit den Amerikanern die ,Taktik abzustimmen‘ und auf der Grundlage einer großen Lüge zu verfahren, sprich: den UN zu erzählen, dass die Chagos-Inseln ,praktisch keine dauerhaften Bewohner haben‘.“ So arbeitet sich Sands in die Gegenwart vor.
Er beschreibt, wie der Sicherheitsrat 1991 die ersten neuen internationalen Strafgerichtshöfe seit 1945 einrichtete, als Reaktion auf die Verbrechen, die im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda begangen worden waren. Im Sommer 1998 sei er deshalb in Rom gewesen, „als Mitglied der Delegation der Salomonen, eines kleinen pazifischen Inselstaates“. Einen Moment „in dem Verfahren habe ich nie ganz vergessen können: Als der Anwalt für Samoa ,Empörung‘ über die jüngste Wiederaufnahme französischer Atomwaffentests im Südpazifik äußerte, bemerkten mehrere von uns Anwesenden im Großen Saal des Friedenspalastes, wie der französische Richter seinen Kopfhörer von den Ohren nahm und vor sich auf den Tisch legte“. Der französische Richter wollte also nicht anhören, was die Opfer seinen Landes zu sagen hatten. Im Jahr 1998.
Es geht weiter vom Krieg gegen den Irak 2003, wegen angeblich vorhandener Massenvernichtungswaffen, bis zum Brexit und dem „Verfall der britischen Autorität“. Bei UN-Offiziellen bemerkt Sands leichtes Stirnrunzeln, wenn Boris Johnsons Name fiel, wegen dessen „rassistisch aufgeladener Herabsetzung von Präsident Obama in der Tageszeitung The Sun (‚die angestammte Abneigung des halbkenianischen Präsidenten gegen das britische Empire‘)“.
Nach der Lektüre schämt man sich, nicht nur für die Verbrechen, die von Frankreich, Großbritannien, den USA, aber auch Deutschland und anderen Kleinkolonialisten im globalen Süden verübt wurden und auf denen der Wohlstand genau dieser Länder bis heute fußt – sondern auch für Ignoranz und die rhetorischen Mätzchen, mit denen sie auch heute noch verdrängt werden. Sands erzählt gleich am Anfang seines Buchs, das den Untertitel „Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean“ trägt, dass die Chagossianer am Ende vor Gericht recht bekommen haben. Die größere Erkenntnis nach 345 Seiten: Gerechtigkeit ist etwas anderes.
E
Wer begreifen will, warum
Indien dem Westen heute nicht
vorbehaltlos folgt, erfährt es hier
Nach der Lektüre schämt
man sich für die Verbrechen
des Kolonialismus
Philippe Sands:
Die letzte Kolonie

Verbrechen gegen die Menschlichkeit im
Indischen Ozean.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt a. M. 2023.
281 Seiten, 25 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Interessiert und bisweilen empört liest Rezensent Otto Langels Philippe Sands' Buch über die Chagos-Inseln, die Großbritannien 1968 im Zuge der Dekolonisierung Mauritius unter Ausnutzung der eigenen Machtposition abgekauft und 1973 zum Sperrgebiet erklärt hatte, weshalb die Bewohner nach Mauritius zwangsumgesiedelt wurden. Sands recherchierte, führt Langels aus, für das Buch auf Mauritius und sympathisiert offensichtlich mit den ehemaligen Bewohnern des Chagos-Archipels. Sein Buch zeichnet laut Rezensent nach, wie Großbritannien jahrzehntelang versuchte, sein Langels zufolge neokolonialistisches Vorgehen zu verteidigen. Sands' Darstellung endet, so Langels, im Jahr 2022, in dem die Briten endlich eine Übergabe der Insel an Mauritius in Aussicht stellen, wobei viele Fragen nach wie vor offen sind.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2023

Spielball imperialer Macht

Der britische Makel: Philippe Sands erzählt anhand des Chagos-Archipels über das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den späten Tagen des Kolonialismus

Die Lektüre des Buchs von Philippe Sands ruft einen Satz des Schweizer Architekturhistorikers Siegfried Giedion in Erinnerung: Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne. Bei Sands ist es Chagos, ein Archipel im Indischen Ozean, an dem entlang er die Realpolitik des heutigen Völkerrechts entfaltet. Er erzählt es so spannend, kunstvoll und facettenreich, dass man dieses Buch jedem empfehlen möchte, der sich für menschliche Schicksale, Weltpolitik und Geschichte interessiert, besonders aber diesen fragilen Zweig des Rechts verstehen möchte. Denn die Bewohner dieses Archipels waren ein Spielball imperialer Macht in den späten Tagen des Kolonialismus, und die britische Krone glaubte damit durchzukommen. Es wäre ihr fast gelungen, wenn es nicht die Sätze und Institutionen des internationalen Rechts gäbe.

In dieser Geschichte gibt es eine Hauptprotagonistin: Liseby Elysé, heute eine alte Dame, wurde 1953, im Sommer der Krönung von Elisabeth II., auf einem kleinen Eiland des Chagos-Archipels geboren. Jahrzehnte später, im September 2018 wird sie den Großen Saal des Friedenspalastes in Den Haag betreten, unbeeindruckt an Marmor und Blattgold vorbeischreiten, und die Richter werden auf Kreolisch vom Unrecht hören, das ihr und anderen Menschen widerfahren ist. Ihre Stimme wird zittern, und am Ende kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten, aber sie bringt ihre Geschichte zu Ende, ein kollektives Schicksal verdichtet in 3 Minuten 47 Sekunden. Allein schon gehört zu werden war ihr eine Genugtuung. Der Weg bis dorthin war weit.

Der Chagos-Archipel liegt mitten im Indischen Ozean, auf halbem Weg zwischen Madagaskar und Sri Lanka. Von den Portugiesen im mittleren sechzehnten Jahrhundert entdeckt, wechselten die kolonialen Hoheitsverhältnisse mehrmals, zunächst zu den Niederlanden, dann zu Frankreich. 1814 wurde es schließlich infolge der Napoleonischen Kriege an die Engländer abgetreten und war von da ab ein "British Indian Ocean Territory", zugehörig zu Mauritius. Im Zuge der Dekolonialisierung wäre es demnach eigentlich zusammen mit Mauritius 1965 in die Selbständigkeit zu entlassen gewesen. Aber England hatte im Geheimen einen anderen Plan gesponnen. Die Amerikaner brauchten im Kalten Krieg dringend eine Militärbasis im Indischen Ozean. Die britische Krone spaltete Chagos vom übrigen Staatsgebiet von Mauritius ab und verpachtete Diego Garcia und andere Inseln dieses Archipels 1966 an die Amerikaner (und bekam im Gegenzug Rabatt auf Polaris-Raketen).

Aber das war nicht alles. Die Briten deportierten ab 1967 tatsächlich sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner, darunter auch Liseby Elysé, in Nacht- und Nebel-Aktionen aus ihrer Heimat. Der Weltöffentlichkeit und den UN wurde eine Lüge aufgetischt: es gäbe "keine dauerhaften Bewohner", deswegen sei die Abtrennung von Mauritius legal, niemand in seinen Menschenrechten verletzt, das Völkerrecht gewahrt. Intern sprach man von "Tarzans oder Freitagen, deren Herkunft zweifelhaft ist". Jede Zeile dieser Erzählung ist bedrückend, spiegelt in Mikrogeschichten die Realität von Kolonialherrschaft und führt Sands dazu, im deutschen Untertitel seines Buches von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu sprechen. Dieser Tatbestand wurde aufgrund der NS-Unrechtserfahrungen in den Nürnberger Prozessen ins Völkerrecht eingeführt, 2002 in der Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofes im Einzelnen definiert und bezeichnet ein Bündel schwerster Delikte. Deportation - die Zwangsvertreibung von Zivilisten - gehörte immer dazu.

Viele Bewohner von Chagos waren Nachkommen von Sklaven, die im Bauch von Schiffen über die Weltmeere dorthin verbracht worden waren. Welche Ironie, dass die spätkoloniale Deportation diesen Vorgang reproduzierte und umkehrte: In den von Vogelkot stinkenden Frachträumen von Transportschiffen wurden die Chagossianer gegen ihren Willen, ohne Bekanntgabe von Gründen und ohne Wissen über ihre Zukunft aus ihrer Heimat weggebracht. Liseby Elysé nahm einen einzigen Koffer mit, sie fanden sich wie Tiere behandelt, die auf der Insel lebenden Hunde wurden vor den Augen der Kinder vergast. Die Diaspora lebt seitdem in verschiedenen Teilen der Welt, niemand durfte bis heute dauerhaft zurückkehren.

Philippe Sands ist mehr als der Chronist dieser Geschichte. Er ist als jahrelanger Vertreter von Mauritius Partei und zugleich Sprachrohr mancher Chagossianer. Deswegen ist alles in ausgewogener Einseitigkeit geschildert. Zugleich erlaubt es dem renommierten Völkerrechtler nicht nur abstrakte Ausführungen über das Funktionieren eines Rechtssystems und seiner labyrinthischen Normen, sondern Sands erzählt ganz konkret vom langsamen Mahlen der Mühlen der internationalen Justiz als Betroffenenvertreter. Die Welt des Völkerrechts ist konservativ und vorsichtig, stellt Sands lakonisch fest, und der internationale Prozessanwalt gibt praktische Tipps fürs Plädoyer, in welchem weder Regierungen noch Öffentlichkeit und Medien die entscheidenden Adressaten sind: "Einen Fall darlegen heißt eine Geschichte erzählen - und es so zu tun, dass sie Richter aus vielen verschiedenen Ländern erreichen kann."

Man erfährt, wie der Menschenrechtsanwalt Sands Auftritte vorbereitet, mit seiner Zeugin spricht, das Vorgehen von Mauritius vor der UN mit Politikern berät - und welche Schlüsselrolle einzelne Richter im Kollegium der Fünfzehn spielen können. Diese Ich-Perspektive ist voller anschaulicher Weltgeschichte, dramatisch wechselnder Emotionen, diffizilem Räsonnement über anwaltliche Strategien im Theater des Rechts sowie politischer Hinterzimmerdiplomatie - und damit eine exzellente Einführung in internationalen Rechtsrealismus.

Der juristische Rahmen ist dabei ziemlich verzwickt. Die Mauritianer berufen sich gegenüber England auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Diese Aufforderung zur Beendigung von Fremdherrschaft wurde von so verschiedenen Akteuren wie W. I. Lenin, Woodrow Wilson und W. E. B. Du Bois und Marcus Garvey, dem Gründer der Universal Negro Improvement Association, formuliert. Im Kontext der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete sie: Kein Teil eines Landes darf vom Staatsgebiet abgespalten werden. Aber wo könnte man dieses Prinzip der territorialen Integrität sowie das Recht auf Dekolonisierung erfolgreich geltend machen? Welche Rolle spielte es, dass der Premierminister von Mauritius der Abtrennung einst unter zweifelhaften Umständen zugestimmt hatte? Gehört Chagos wirklich zu Mauritius oder ist das seinerseits Teil einer Kolonialgeschichte, die man rückabwickeln sollte? Ist das Unrecht und Leid nicht mit der Auszahlung von Entschädigungen getilgt worden, erst recht, da der britische Rechtsweg eingeschlagen worden war und erschöpft ist?

Sands gelingt es meisterhaft, die verschiedenen Ebenen spannungsreich zusammenzuführen. Der Fall fesselt in seinen exemplarischen Dimensionen, wo es um die verschiedenen Arbeitsweisen von Vereinten Nationen, Sicherheitsrat, Internationalem Seegerichtshof in Hamburg und dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geht. Alle haben ihre eigenen Funktionslogiken und Grenzen der Zuständigkeit. Gerade das Recht kann manchmal ganz besonders formal sein. Doch was wären die politischen Proklamationen wert und was hätten wir aus dem zwanzigsten Jahrhundert gelernt, wenn Liseby Elysé dieses Unrecht doch widerfahren konnte und sanktionslos bleiben würde? "Der einzelne Mensch ist die höchste Einheit des Rechts", schrieb der britische Völkerrechtler Hersch Lauterpacht 1943.

Die Richter von Den Haag entschieden 2019 mit 13:1 Stimmen, dass Chagos zum Territorium von Mauritius gehört und dass Großbritannien seine widerrechtliche Besetzung beenden muss. Sie hatten kein Urteil zu fällen, sondern gemäß der Vorgabe der Vereinten Nationen ein Rechtsgutachten zu erstellen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss daraufhin, dass die Briten spätestens Ende 2019 weg sein müssten. Sie haben das nicht getan und wiederholen stattdessen, wie jemand, der noch nicht gehört wurde, jene Argumente, die Den Haag längst entkräftet hat.

Liseby Elysé wird im Juli 2023 siebzig Jahre alt. Mittlerweile hat sie an sogenannten Heritage-Besuchen teilgenommen und konnte ihre ferne Heimat wiedersehen: die Gräber überwuchert, die Kirche eingestürzt, die Häuser verfallen (aber der Hundefriedhof der Amerikaner ist tipptopp gepflegt).

Immer noch ist offen, ob sie und ihre Landsleute wieder dauerhaft an diesen Ort zurückkehren können. Liseby Elysé wurde ein Leben auf Chagos geraubt, es bleibt der Wunsch, dort in Frieden zu sterben. In einer Mischung aus imperialem Trotz und fortdauerndem Rassismus ignoriert das Vereinigte Königreich seine Verpflichtung auf das Völkerrecht. Seine Bekenntnisse zur "regelgeleiteten internationalen Ordnung" haben insoweit einen Makel. Dieses Buch wird mehr als eine Auflage erleben; und in einer von ihnen hoffentlich ein neues Schlusskapitel bekommen. MILOS VEC

Philippe Sands: "Die letzte Kolonie". Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean.

Aus dem Englischen von Thomas Bertram. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023. 318 S., Abb., geb., 25,- Euro.

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ein informatives, facettenreiches und bisweilen anrührendes Buch. Otto Langels Deutschlandfunk (Andruck) 20230724