Matthias Nawrat
Gebundenes Buch
Der traurige Gast
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Es ist der Winter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Ein Mann ohne Namen begegnet den Menschen in seiner Umgebung mit neuer Aufmerksamkeit: Dariusz, dem Tankwart, der einmal Chirurg war und einen Sohn hatte, der in Südamerika verschwand. Eli, dem polternden Überlebenskünstler. Oder Dorota, der alten polnischen Architektin, deren intellektuelle Energie auf ihn genauso verwirrend wie ansteckend wirkt. Sie erzählen ihm aus ihrem Leben, aber nicht nur: Ihre Geschichte ist unsere gewesen, und sie wird unsere sein."Der traurige Gast" ist eine Selbst- und Wel...
Es ist der Winter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Ein Mann ohne Namen begegnet den Menschen in seiner Umgebung mit neuer Aufmerksamkeit: Dariusz, dem Tankwart, der einmal Chirurg war und einen Sohn hatte, der in Südamerika verschwand. Eli, dem polternden Überlebenskünstler. Oder Dorota, der alten polnischen Architektin, deren intellektuelle Energie auf ihn genauso verwirrend wie ansteckend wirkt. Sie erzählen ihm aus ihrem Leben, aber nicht nur: Ihre Geschichte ist unsere gewesen, und sie wird unsere sein.
"Der traurige Gast" ist eine Selbst- und Weltbefragung von bestrickender erzählerischer Intensität. Ein philosophischer und zutiefst menschlicher Roman, der weiß, was Verlieren, Verdrängen, Neu-Ankommen bedeuten. Ein Buch vom Überleben, in aller Schönheit, trotz allem Schrecken. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019.
"Der traurige Gast" ist eine Selbst- und Weltbefragung von bestrickender erzählerischer Intensität. Ein philosophischer und zutiefst menschlicher Roman, der weiß, was Verlieren, Verdrängen, Neu-Ankommen bedeuten. Ein Buch vom Überleben, in aller Schönheit, trotz allem Schrecken. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019.
Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Für seinen Debütroman 'Wir zwei allein' (2012) erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis; 'Unternehmer' (2014), für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet, 'Die vielen Tode unseres Opas Jurek' (2015) mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises sowie der Alfred Döblin-Medaille. 'Der traurige Gast' (2019) war unter anderem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt Matthias Nawrat den Literaturpreis der Europäischen Union. 'Reise nach Maine' (2021) ist sein fünfter Roman. Zuletzt erschien der Gedichtband 'Gebete für meine Vorfahren' (2022), ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin.
Produktdetails
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- Artikelnr. des Verlages: 21333
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 304
- Erscheinungstermin: 22. Januar 2019
- Deutsch
- Abmessung: 211mm x 134mm x 27mm
- Gewicht: 394g
- ISBN-13: 9783498047047
- ISBN-10: 3498047043
- Artikelnr.: 52471668
Herstellerkennzeichnung
Rowohlt Verlag GmbH
Kirchenallee 19
20099 Hamburg
info@rowohlt.de
www.rowohlt.de
+49 (040) 7272-0
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Ursula März trifft auf eine ideale Balance zwischen Fiktion und historischer Wahrheit in Matthias Nawrats Berlin-Flaneur-Roman. Dem Erzähler im Jahr 2016 auf seinen Spaziergängen durch Berlin folgend, fühlt sich März an die literarische Erinnerungskunst von Patrick Modiano erinnert. Wenn Nawrats Erzähler der Spur polnischer Migranten bis tief in die Vergangenheit folgt, stört sich März zwar an dem ein oder anderen verzichtbaren politischen Diskurs, freut sich aber umso mehr über von Empfindsamkeit geprägte Wahrnehmungssplitter und die Fähigkeit des Autors, manchem Berlin-Klischee seinen "unverbrauchten Blick" entgegenzusetzen. Gleichfalls geglückt findet sie die Figuren-Porträts und die mit ethnografischer Sorgfalt ausgeführten Darstellungen von migrantischer Entwurzelung, in der sich laut März Vergangenheit und Gegenwart treffen und sich eine "literarische Moral" zeigt, die Geschichte nicht nur als Lieferanten für interessante Plots ausbeutet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der grelle Himmel über Berlin
Wie ist es, wenn man nur in den Geschichten anderer Leute lebt? Matthias Nawrats eindrucksvoller Episodenroman "Der traurige Gast" führt es vor.
Der Anfang klingt ziemlich unspektakulär: Der Ich-Erzähler, ein junger Berliner Pole, fährt an einem Wintersonntag ans andere Ende der Stadt. In einem Restaurant, das sich in der Nähe einer polnischen Kirche befindet, möchte er eine Portion Pierogi, also leicht klebrige Maultaschen, die zum eisernen Repertoire jedes polnischen Lokals gehören, und die Nähe seiner Landsleute genießen. Seine Eskapade scheint sich wenig gelohnt zu haben. Das Restaurant hat außer dem Namen, "Der kleine Prinz", nichts Sympathisches an sich, das Essen schmeckt
Wie ist es, wenn man nur in den Geschichten anderer Leute lebt? Matthias Nawrats eindrucksvoller Episodenroman "Der traurige Gast" führt es vor.
Der Anfang klingt ziemlich unspektakulär: Der Ich-Erzähler, ein junger Berliner Pole, fährt an einem Wintersonntag ans andere Ende der Stadt. In einem Restaurant, das sich in der Nähe einer polnischen Kirche befindet, möchte er eine Portion Pierogi, also leicht klebrige Maultaschen, die zum eisernen Repertoire jedes polnischen Lokals gehören, und die Nähe seiner Landsleute genießen. Seine Eskapade scheint sich wenig gelohnt zu haben. Das Restaurant hat außer dem Namen, "Der kleine Prinz", nichts Sympathisches an sich, das Essen schmeckt
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durchschnittlich, das Gespräch, das er mit seinem Tischnachbarn, einem ehemaligen Klavierstimmer, führt, ist ebenso banal wie der Inhalt seines Tellers. Und da in der Kirche die Messe zu Ende gegangen ist und das Restaurant sich langsam füllt, zahlt er und tritt wieder in die kühle Berliner Winterluft hinaus, "für einen Moment geblendet von dem grellen Himmel, der sich über die Kirche und den Friedhof auf der anderen Straßenseite und über die ganze Stadt" spannt.
Trotz der Verheißung einer Erweiterung der Perspektive, die in diesem Nebensatz steckt, verlässt einen der Eindruck der Banalität, die womöglich erzählerisch in eine Sackgasse führen könnte, auch über die nächsten Seiten nicht. Denn der namenlose Erzähler, ein angehender Schriftsteller, der "über verschiedene Dinge, zuletzt über meine Familie und Leute, die ich kenne", schreibt, nimmt sich viel Zeit, um über seinen Alltag zu berichten. Über einen Spaziergang, bei dem er sich "von der Stimmung der Leute treiben" lässt, den Gang zum Friseur, die Umbaupläne, die er und seine Frau in Bezug auf ihre Wohnung schmieden. Allerdings wird dem Leser schnell klar, dass dies von Matthias Nawrat durchaus beabsichtigt ist, dass er von seinem sorgfältig komponierten, dreiteiligen Roman keine in sich geschlossene Geschichte erwarten, sondern sich eben auf viele kleine Episoden einstellen soll. Und er merkt auch recht bald, wie sehr ihn diese Geschichten zu faszinieren beginnen.
Dieses Gefühl kommt spätestens dann auf, als der Erzähler eine ältere polnische Architektin namens Dorota kennenlernt, die zwar immer noch Aufträge annimmt, sich aber dabei weigert, ihr Viertel zu verlassen. Er hat sie im Zusammenhang mit seinen Umbauplänen kontaktiert und ist seitdem häufiger Gast in ihrer Schöneberger Wohnung, in der sie ihm einen ungenießbaren Kuchen vorsetzt und aus ihrem Leben erzählt. Oder auch aus dem Leben eines anderen. Etwa dem des polnisch-jüdischen Dichters Arnold Slucki, der, einst glühender Kommunist, infolge der antisemitischen Hetze von 1968 seine Privilegien und seine Heimat verlor, nach Israel emigrierte und sich schließlich in West-Berlin niederließ, wo er mit 52 Jahren starb.
Dorotas Schilderungen haben für den Erzähler eine ebenso starke Anziehungskraft wie ihre Ansichten über Kunst und Architektur oder ihre exzentrische Art. Trotzdem hat er manchmal beim Verlassen ihrer Wohnung das Gefühl, "entkommen, gerettet worden zu sein", was sich auch bei seinem letzten Besuch gewissermaßen bestätigt: Er erfährt, dass die Architektin sich in ihrem Schlafzimmer erhängt hat.
Seine Unruhe und Verwirrung werden bald durch weitere Begegnungen gesteigert - etwa mit Karsten, seinem früheren Studienfreund, der bei der Charité als Molekularbiologe arbeitet und dabei von einer Sinnkrise geplagt wird. Und vor allem mit Dariusz, einem ebenfalls polnischen Ex-Chirurgen, der mal an einer Tankstelle, mal in billigen Kneipen jobbt und sich abends in seiner schäbigen Souterrainwohnung besäuft, um dadurch leichter mit dem Tod seines Sohnes, der nach Südamerika ausgewandert und dort ertrunken ist, fertig zu werden.
Die meisten der Geschichten, die der Erzähler zu hören bekommt, bieten wenig Trost oder Grund zur Hoffnung. Teils, weil sie im Schatten der historischen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts stehen; aber auch die der Gegenwart sorgen immer öfter für Angst und Verunsicherung. Die winterliche Kulisse der Handlung führt es den Protagonisten besonders scharf vor Augen: Es ist der Winter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche, und der Schock, in den er die Stadt versetzt hat, wirkt in den Alltag jedes Einzelnen hinein.
Auch der seelische Frieden des Erzählers gerät also zunehmend aus den Fugen, und die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich ihm immer klarer. Er ist zwar in all den fremden Geschichten nur "der traurige Gast", dadurch aber, dass sie ihm sehr real erscheinen, bieten sie eine große Projektionsfläche für seine eigenen Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen. Das vermutet man zumindest aufgrund der Neugier, die er seinen Gesprächspartnern entgegenbringt, denn ein anregender Zuhörer ist er weiß Gott nicht. Er stellt kaum Fragen, mit polemischen Kommentaren hält er sich auch zurück, und als er sich endlich zu einer energischeren Reaktion durchringt, ist es die deprimierende Feststellung, dass alles auf nichts "als auf die Leere, auf die totale Abwesenheit von Sinn" hinausläuft.
Dieses fast durchgehende Verschwinden des Erzählers hinter seinen Gesprächspartnern irritiert ein wenig. Zum einen, weil er dadurch merkwürdig farblos und meinungsschwach wirkt. Zum zweiten, weil die Ich-Form, in der sowohl seine Narration als auch ihre Monologe gehalten sind, und der zum Verwechseln ähnliche Redestil aller Beteiligten die Übergänge zwischen den einzelnen Romanteilen nahezu aufhebt. Und zum dritten, weil die Äußerungen, die der Autor wegen der besagten Blässe seines Erzählers anderen Figuren in den Mund legt, manchmal zu geschliffen und gelehrt wirken.
Diese kleinen Schwächen ändern aber nichts an der Tatsache, dass Matthias Nawrat ein Roman von großer literarischer Kraft und philosophischer Tiefe gelungen ist. Sein Erzählton ist angenehm ruhig und präzise, die Leichtigkeit, mit der er, von der Alltagsbanalität eines Berliner Mikrokosmos ausgehend, eine ganze Bandbreite an universellen Gedanken und Beobachtungen zum Zustand der heutigen Welt und unserer eigenen Befindlichkeit entfaltet, zutiefst beeindruckend. Und darüber hinaus ist es ein schönes Porträt jenes Berlins, über dem der Himmel etwas weniger grell, dafür umso einladender leuchtet.
MARTA KIJOWSKA.
Matthias Nawrat: "Der traurige Gast".
Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 304 S., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Trotz der Verheißung einer Erweiterung der Perspektive, die in diesem Nebensatz steckt, verlässt einen der Eindruck der Banalität, die womöglich erzählerisch in eine Sackgasse führen könnte, auch über die nächsten Seiten nicht. Denn der namenlose Erzähler, ein angehender Schriftsteller, der "über verschiedene Dinge, zuletzt über meine Familie und Leute, die ich kenne", schreibt, nimmt sich viel Zeit, um über seinen Alltag zu berichten. Über einen Spaziergang, bei dem er sich "von der Stimmung der Leute treiben" lässt, den Gang zum Friseur, die Umbaupläne, die er und seine Frau in Bezug auf ihre Wohnung schmieden. Allerdings wird dem Leser schnell klar, dass dies von Matthias Nawrat durchaus beabsichtigt ist, dass er von seinem sorgfältig komponierten, dreiteiligen Roman keine in sich geschlossene Geschichte erwarten, sondern sich eben auf viele kleine Episoden einstellen soll. Und er merkt auch recht bald, wie sehr ihn diese Geschichten zu faszinieren beginnen.
Dieses Gefühl kommt spätestens dann auf, als der Erzähler eine ältere polnische Architektin namens Dorota kennenlernt, die zwar immer noch Aufträge annimmt, sich aber dabei weigert, ihr Viertel zu verlassen. Er hat sie im Zusammenhang mit seinen Umbauplänen kontaktiert und ist seitdem häufiger Gast in ihrer Schöneberger Wohnung, in der sie ihm einen ungenießbaren Kuchen vorsetzt und aus ihrem Leben erzählt. Oder auch aus dem Leben eines anderen. Etwa dem des polnisch-jüdischen Dichters Arnold Slucki, der, einst glühender Kommunist, infolge der antisemitischen Hetze von 1968 seine Privilegien und seine Heimat verlor, nach Israel emigrierte und sich schließlich in West-Berlin niederließ, wo er mit 52 Jahren starb.
Dorotas Schilderungen haben für den Erzähler eine ebenso starke Anziehungskraft wie ihre Ansichten über Kunst und Architektur oder ihre exzentrische Art. Trotzdem hat er manchmal beim Verlassen ihrer Wohnung das Gefühl, "entkommen, gerettet worden zu sein", was sich auch bei seinem letzten Besuch gewissermaßen bestätigt: Er erfährt, dass die Architektin sich in ihrem Schlafzimmer erhängt hat.
Seine Unruhe und Verwirrung werden bald durch weitere Begegnungen gesteigert - etwa mit Karsten, seinem früheren Studienfreund, der bei der Charité als Molekularbiologe arbeitet und dabei von einer Sinnkrise geplagt wird. Und vor allem mit Dariusz, einem ebenfalls polnischen Ex-Chirurgen, der mal an einer Tankstelle, mal in billigen Kneipen jobbt und sich abends in seiner schäbigen Souterrainwohnung besäuft, um dadurch leichter mit dem Tod seines Sohnes, der nach Südamerika ausgewandert und dort ertrunken ist, fertig zu werden.
Die meisten der Geschichten, die der Erzähler zu hören bekommt, bieten wenig Trost oder Grund zur Hoffnung. Teils, weil sie im Schatten der historischen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts stehen; aber auch die der Gegenwart sorgen immer öfter für Angst und Verunsicherung. Die winterliche Kulisse der Handlung führt es den Protagonisten besonders scharf vor Augen: Es ist der Winter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche, und der Schock, in den er die Stadt versetzt hat, wirkt in den Alltag jedes Einzelnen hinein.
Auch der seelische Frieden des Erzählers gerät also zunehmend aus den Fugen, und die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich ihm immer klarer. Er ist zwar in all den fremden Geschichten nur "der traurige Gast", dadurch aber, dass sie ihm sehr real erscheinen, bieten sie eine große Projektionsfläche für seine eigenen Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen. Das vermutet man zumindest aufgrund der Neugier, die er seinen Gesprächspartnern entgegenbringt, denn ein anregender Zuhörer ist er weiß Gott nicht. Er stellt kaum Fragen, mit polemischen Kommentaren hält er sich auch zurück, und als er sich endlich zu einer energischeren Reaktion durchringt, ist es die deprimierende Feststellung, dass alles auf nichts "als auf die Leere, auf die totale Abwesenheit von Sinn" hinausläuft.
Dieses fast durchgehende Verschwinden des Erzählers hinter seinen Gesprächspartnern irritiert ein wenig. Zum einen, weil er dadurch merkwürdig farblos und meinungsschwach wirkt. Zum zweiten, weil die Ich-Form, in der sowohl seine Narration als auch ihre Monologe gehalten sind, und der zum Verwechseln ähnliche Redestil aller Beteiligten die Übergänge zwischen den einzelnen Romanteilen nahezu aufhebt. Und zum dritten, weil die Äußerungen, die der Autor wegen der besagten Blässe seines Erzählers anderen Figuren in den Mund legt, manchmal zu geschliffen und gelehrt wirken.
Diese kleinen Schwächen ändern aber nichts an der Tatsache, dass Matthias Nawrat ein Roman von großer literarischer Kraft und philosophischer Tiefe gelungen ist. Sein Erzählton ist angenehm ruhig und präzise, die Leichtigkeit, mit der er, von der Alltagsbanalität eines Berliner Mikrokosmos ausgehend, eine ganze Bandbreite an universellen Gedanken und Beobachtungen zum Zustand der heutigen Welt und unserer eigenen Befindlichkeit entfaltet, zutiefst beeindruckend. Und darüber hinaus ist es ein schönes Porträt jenes Berlins, über dem der Himmel etwas weniger grell, dafür umso einladender leuchtet.
MARTA KIJOWSKA.
Matthias Nawrat: "Der traurige Gast".
Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 304 S., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Ein Roman von großer literarischer Kraft und philosophischer Tiefe ... zutiefst beeindruckend. Marta Kijowska FAZ.NET 20190320
Als Leser in der Titelrolle
Mit «Der traurige Gast» spielt der neuen Roman von Matthias Nawrat im Titel auf das Gedicht «Selige Sehnsucht» an, das zu den «geheimnisvollsten der lyrischen Gedichte Goethes» gehört und interpretatorisch einige Schwierigkeiten …
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Als Leser in der Titelrolle
Mit «Der traurige Gast» spielt der neuen Roman von Matthias Nawrat im Titel auf das Gedicht «Selige Sehnsucht» an, das zu den «geheimnisvollsten der lyrischen Gedichte Goethes» gehört und interpretatorisch einige Schwierigkeiten bereitet. Dieser Roman stellt seine Leser in gleicher Weise vor Probleme, auch hier ist eine Hürde der Gelehrsamkeit zu überwinden, um an seinen poetologischen Kern vorzustoßen und sich an dem Erzähltalent seines Autors erfreuen zu können, der darin kühn nichts Geringeres als den Weltschmerz thematisiert.
In drei Teilen mit recht kurzen Kapiteln erzählt der Autor getreu dem Goetheschen Sinnspruch «Stirb und werde!» von der Krise des Subjekts in der Gegenwart, man schreibt das Jahr 2016. Der in Berlin wohnende Ich-Erzähler, Schriftsteller natürlich, autofiktional geprägt also, gehört dem Typus des Flaneurs an, er streift aufmerksam beobachtend durch die Großstadt, in die es ihn nach seiner Emigration aus Polen über einige Zwischenstationen schlussendlich verschlagen hat. Man erfährt kaum etwas über ihn, er ist verheiratet, kinderlos und lebt von seiner Schriftstellerei, scheint sich aber in einer Art Schreibblockade zu befinden, denn er hat alle Zeit der Welt zu Streifzügen durch die Metropole. Diese Figur fungiert als überwiegend zuhörender Gesprächspartner, als lethargischer Stichwortgeber zumeist für die eigentlichen Protagonisten, deren erste die Architektin Dorata ist, eine faszinierende, äußerst skurrile Intellektuelle. Sie stammt wie der namenlose Ich-Erzähler aus dem polnischen Opole, und der eigentliche Grund ihres Zusammentreffens, die Umgestaltung seiner Wohnung nämlich, tritt sehr schnell völlig in den Hintergrund, wird schließlich vollends vergessen. Denn Dorata, die kaum noch aus dem Haus geht und ihren Stadtteil niemals verlässt, erzählt mehr oder weniger ihr ganzes, ereignisreiches Leben, berichtet von den philosophischen Erkenntnissen, zu denen sie mit den Jahren gekommen ist. Überraschend endet dieser erste Teil abrupt mit ihrem Suizid.
In einer Art Zwischenspiel werden dann im zweiten Teil «Die Stadt» sensibel erfasste Gegenwartserlebnisse und Alltagsbetrachtungen beschrieben, bevor unter der Überschrift «Der Arzt» im dritten Teil mit Dariusz wieder eine Person im Fokus steht, ein Chirurg, dem wegen Alkoholismus die Approbation entzogen wurde und der nun als Kollege des Ich-Erzählers an einer Tankstelle arbeitet. Mit ihm erweitern sich auch die geografischen Radien der Geschichte, er erzählt nämlich in einem weiten Bogen von seiner Reise auf den Spuren seines in Mexico bei einem Badeunfall umgekommenen Sohnes. In viele dieser der Erinnerung gewidmeten, allzu eintönig monologisch erzählten Abschnitte baut Matthias Nawrat immer wieder die Gegenwart mit ein, und zwar in Form von kurzen Alltagsbegebenheiten im geradezu sezierend scharfen Blickfeld seines emphatischen Helden.
Es ist ein weites Feld, das da bearbeitet wird, denn Leben und Tod sind die großen Themen. Dabei wechseln sich das Schicksal der Kreatur und seine deprimierende Bedeutungslosigkeit angesichts der Geschichte mit dem belanglos Alltäglichen ab. Letzteres wiederum ist allenfalls für das Individuum selbst relevant, das schlussendlich aber auch nichts anderes ist als kompliziert zusammengesetzte, belebte Materie, deren Aggregatzustand jederzeit wandelbar ist, «Asche zu Asche, Staub zu Staub». Die philosophische Vermischung von Einzelschicksalen mit der historischen Wirklichkeit insbesondere der Immigranten ergeben in diesem Roman ein Bild der Gegenwart, dessen erschreckende Brüche ebenso unvermeidbar erscheinen wie rätselhaft. Als Identitätssuche angelegt scheitert er jedoch, weil er zu viel auf einmal will und sich im Geäst seiner ambitionierten Reflexionen hoffnungslos verheddert. Und so ist der Leser bei seiner Lektüre insoweit auch nur «der traurige Gast», wird aber gut unterhalten und zuweilen sogar kognitiv bereichert.
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Berlin-Geschichten mit polnischem Migrationshintergrund
Ruhig und sachlich erzählt Nawrat drei Geschichten im Stile Handkes. Sein Ich-Erzähler bleibt blass, weil er andere Personen reden lässt, die auch in der Ich-Form sprechen. Da auch die wörtliche Rede nicht gekennzeichnet …
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Berlin-Geschichten mit polnischem Migrationshintergrund
Ruhig und sachlich erzählt Nawrat drei Geschichten im Stile Handkes. Sein Ich-Erzähler bleibt blass, weil er andere Personen reden lässt, die auch in der Ich-Form sprechen. Da auch die wörtliche Rede nicht gekennzeichnet ist, wird dies mitunter verwirrend. Auch konnte ich mich nicht so gut in die Personen hinein fühlen, weil das Thema weit von meinem Alltagsleben entfernt ist.
Im ersten Teil hören wir von einer Architektin, die ihre Häuser nur über Fotos plant und Schöneberg nicht mehr verlässt. Nur der Liebe wegen war sie früher mal segeln im Wannsee. Der letzte Teil erzählt vom Arzt Darius, der in Polen Militärarzt werden sollte, dies aber nicht wollte und in den Westen ausreiste mit Trennung von seiner Familie, die er aber nicht mehr liebte. Alkoholabhängig verliert er seinen Job und lernt den Ich-Erzähler bei einer Arbeit an einer Tankstelle kennen. Ohne vorher Kontakt zu haben, erfährt vom Tod seines Sohnes in Bolivien und reist dann auf dessen Spuren.
Der mittlere Teil gefällt mir weniger, weil er von Nachbarn handelt, die entweder im Treppenhaus hausen oder auch sonst nicht vertrauenswürdig erscheinen. Und dann passiert der Terroranschlag in Berlin und unser Ich-Erzähler traut sich nicht mehr auf die Straße.
Mit dem Leben in Deutschland wird auch der Katholizismus zur Hintergrundmusik. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, sich einen Sinn im Leben zu suchen. 3 Sterne.
Ein richtig guter Roman wäre mal wieder schön.
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