Nicht lieferbar

Versandkostenfrei!
Nicht lieferbar
Weitere Ausgaben:
Die Rautenbergs: Eine bundesrepublikanische Saga, die Geschichte einer Unternehmerfamilie aus dem Ruhrgebiet und ihres Verfalls. Als Wilhelm und Inga sich kennenlernen, sitzt Adenauer noch im Kanzleramt. Die Arzttochter Inga ist eine Schönheit und Wilhelm, der erfolgreicher Dressurreiter, die beste Partie, seine mittelständische Firma steht kurz davor, Weltmarktführer zu werden - ein Traumpaar. Doch schon wenige Monate nach der Geburt des zweiten Kindes stirbt Inga an Leukämie. Die jüngere Tochter wird zu den Großeltern mütterlicherseits gegeben, die ältere bleibt beim Vater. Der baut ...
Die Rautenbergs: Eine bundesrepublikanische Saga, die Geschichte einer Unternehmerfamilie aus dem Ruhrgebiet und ihres Verfalls. Als Wilhelm und Inga sich kennenlernen, sitzt Adenauer noch im Kanzleramt. Die Arzttochter Inga ist eine Schönheit und Wilhelm, der erfolgreicher Dressurreiter, die beste Partie, seine mittelständische Firma steht kurz davor, Weltmarktführer zu werden - ein Traumpaar. Doch schon wenige Monate nach der Geburt des zweiten Kindes stirbt Inga an Leukämie. Die jüngere Tochter wird zu den Großeltern mütterlicherseits gegeben, die ältere bleibt beim Vater. Der baut sich, um den Zwängen der Freikirchlichen Gemeinde und seiner strengen Mutter zu entfliehen, ein Haus, kilometerweit vom nächsten Nachbarn, Reithalle, Schwimmbad, Tennisplatz. Zum Einzug, pünktlich zum Schulbeginn, holt Wilhelm seine Jüngste wieder zu sich - nach sieben Jahren, ganz wie im Märchen. Was aber folgt, ist alles andere als märchenhaft. Das Unternehmen gerät in die Krise. Die familiären Verhältnisse: ein Skandal, in der Nachbarschaft wird schon geredet. Und Wilhelms Tochter, die Erzählerin des Romans, muss zusehen, wie sie ihre Einsamkeit überwindet und den Weg in ihr eigenes Leben findet.
Ein einfühlsames Porträt einer unglücklichen Familie, der Erziehungsroman einer Außenseiterin.
Ein einfühlsames Porträt einer unglücklichen Familie, der Erziehungsroman einer Außenseiterin.
Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft 'Whisky & Cigars' eröffnete. 2017 erschien ihr erster Roman, 'Die Ruhe weg'. Ihr zweiter, 'Bis wieder einer weint', war u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2022 war sie zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Eva Sichelschmidt lebt in Rom und Berlin.
Produktdetails
- rowohlt Hundert Augen
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- Artikelnr. des Verlages: 21320
- 3. Aufl.
- Seitenzahl: 480
- Erscheinungstermin: 28. Januar 2020
- Deutsch
- Abmessung: 210mm x 136mm x 45mm
- Gewicht: 560g
- ISBN-13: 9783498062934
- ISBN-10: 349806293X
- Artikelnr.: 56523351
Herstellerkennzeichnung
Rowohlt Verlag GmbH
Kirchenallee 19
20099 Hamburg
produktsicherheit@rowohlt.de
Eva Sichelschmidt beschreibt mit gekonnten Zeitsprüngen den Aufstieg und Fall einer westdeutschen Familie in der Nachkriegszeit. Sie zeichnet voller Freude am Detail Lebenswelten, die uns prägten. Der Kern ihres Buches aber ist das Schicksal eines Mannes, der trotz Erfolg nicht das Leben führen durfte, das er ersehnte, und für dessen Unglück alle bezahlen müssen. Brigitte 20200603
Unter Mördern und Irren
Champagner, Prunk und Frivolitäten: Eva Sichelschmidts doppelbödiger Roman „Bis wieder einer weint“
Eva Sichelschmidts Roman „Bis wieder einer weint“ erzählt von zwei westdeutschen Frauen, die ein gemeinsames Ziel haben: ein möglichst reibungsloses Leben in schönster Übereinkunft mit ihrem unmittelbaren Umfeld. Sie wollen sich gut unterhalten, gut aussehen und einen guten Eindruck machen. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, und das hat der Roman auch nicht vor.
Eine dieser beiden Frauen heißt Inga, wurde 1941 als Tochter eines Provinzarztes im Ruhrgebiet geboren und heiratet den beliebtesten Junggesellen der Gegend, den gut aussehenden Unternehmenserben Wilhelm Rautenberg („keiner
Champagner, Prunk und Frivolitäten: Eva Sichelschmidts doppelbödiger Roman „Bis wieder einer weint“
Eva Sichelschmidts Roman „Bis wieder einer weint“ erzählt von zwei westdeutschen Frauen, die ein gemeinsames Ziel haben: ein möglichst reibungsloses Leben in schönster Übereinkunft mit ihrem unmittelbaren Umfeld. Sie wollen sich gut unterhalten, gut aussehen und einen guten Eindruck machen. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, und das hat der Roman auch nicht vor.
Eine dieser beiden Frauen heißt Inga, wurde 1941 als Tochter eines Provinzarztes im Ruhrgebiet geboren und heiratet den beliebtesten Junggesellen der Gegend, den gut aussehenden Unternehmenserben Wilhelm Rautenberg („keiner
Mehr anzeigen
sah so schmuck aus wie er“). Im Zuge des Wirtschaftswunders wächst die Firma rasant und wirft sehr bald so viel Geld ab, dass sich die Familie kein Haus baut, sondern einen Sitz, einen abgelegenen Großbürgerpalast mit Schwimmhalle, Reitstall und Tennisplatz, in dem selbst für die bettlägerige Großmutter ein eigener Flügel eingeplant ist.
Die andere Frau ist eigentlich ein Mädchen, Ingas jüngste Tochter, die kleine Suse, die aus der Ich-Perspektive berichtet, wie es ist, in den Siebzigerjahren unter erschwerten Bedingungen aufzuwachsen: rothaarig, absurd reich, unter einem alleinerziehenden Vater, dessen psychischer Zustand sich kontinuierlich verschlechtert und ohne Erinnerung an die Mutter. Denn Inga Rautenberg, die blonde Dorfschönheit, die regelmäßig mit der Schauspielerin Grace Kelly verglichen wird, bevor aus dieser die leicht verlebte Fürstengattin Grace Patricia Grimaldi wurde, stirbt in ihrem dreißigsten Jahr an Leukämie.
Der Tod der Inga Rautenberg ist das Gravitationszentrum des Romans. Auf der reinen Erzählebene begibt er sich scheinbar kritiklos hinein in die Selbsterzählung der Fünfzigerjahre als heile Welt, in der die Dinge übersichtlicher waren und noch nicht alles unentwegt politisiert und sexuell befreit werden musste. Inga richtet sich mit einer fröhlichen Bestimmtheit in ihrer Ehe ein, die man vielleicht von den englischen Bürgerstöchtern in George Eliots „Middlemarch“ kennt. Sie bewundert ihren Wilhelm, wenn er beim Dressurreiten hoch zu Ross eins wird mit dem Tier und sie mag auch ihren neuen Namen, weil er ihrer Unterschrift eine neue Eleganz verleiht.
Durch die Ehe, so sieht sie das, wird sie „erwachsen, nicht mehr nur Tochter, sondern vor allem Ehefrau sein. Die Ehe wird ihr gut zu Gesicht stehen.“ An anderer Stelle erfahren wir fast nebenbei von einer anderen Eigenschaft der Inga Rautenberg, obwohl die für ihr neues Leben als westdeutsche Industrieunternehmergattin vielleicht noch viel größere Bedeutung hat: „Inga hatte in Geschichte nicht besonders gut aufgepasst.“
Nur wenige Jahre später allerdings bricht diese schöne junge Mutter, Gattin und Hausfrau, die zwar manchmal gelangweilt in ihrem neuen Leben herumsteht, wenn Wilhelm erst spät aus dem Reiterstübchen kommt, aber auch nicht zu sehr, ausgerechnet auf der Party zusammen, die eigentlich die finale Ankunft der Familie in den höchsten sozialen Zirkeln markieren sollte, auf dem Oktoberfestempfang der Familie Krupp. Die Einladung wird als große Ehre empfunden. Als sie im Hause Rautenberg eintrifft, erinnert sich die personale Erzählstimme an die ausschweifenden Feste des Patriarchen Alfried Krupp in der Villa Hügel, die Wilhelm und Inga selbst schon einmal besuchen durften: „Inga hatte man den ganzen Abend nicht von der Tanzfläche bekommen, mit allen Männern hatte sie getanzt, sogar mit dem alten Krupp. Eine imposante Erscheinung war dieser hochgewachsene Patriarch, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen.“ Alfried Krupp ist im Bewusstsein der Rautenbergs ein Unternehmer alten Formats, man spricht von ihm ausschließlich mit Hochachtung. Die subtile Erzählkunst dieses Romans besteht darin, dass Eva Sichelschmidt auch hier, als längst alle Alarmglocken schrillen, nicht abweicht von der Perspektive ihrer naiven Protagonistin Inga. Es bleibt also unerwähnt, dass Alfried Krupp zwei Jahrzehnte zuvor in den Nürnberger Prozessen zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, die er zumindest teilweise absitzen musste, bevor er 1951 amnestiert wurde. Sein Unternehmen hatte für die Ausrüstung der Wehrmacht mit schwerem Gerät etwa 60 000 Zwangsarbeiter beschäftigt und, als das noch immer nicht genügte, zusätzlich jüdische KZ-Insassen angefordert. Bis zu seinem Lebensende hat Alfried Krupp die Nürnberger Prozesse als ungerechtfertigt betrachtet.
Trotzdem geht es Familie und Konzern in der Romangegenwart schon wieder blendend, ihr Ruf in der westdeutschen Oberschicht ist tadellos, die Einladungen zu ihren Empfängen gleichen Ritterschlägen: „Von der Feier auf einem Schloss der Familie Krupp in der Nähe von Salzburg hat Uli noch Monate geschwärmt. Champagner hat es gegeben, viel Prunk und allerhand Frivolitäten in sogenannten Separés.“ Auf diesem Oktoberfestempfang also bricht Inga Rautenberg kreidebleich zusammen, womit sich die Verdrängungskultur der jungen, neureichen Bundesrepublik motivisch verschränkt mit der Leukämie der Protagonistin. Ein Leben ist hier eigentlich nicht möglich. Selbst die Ärzte belügen sie und verschweigen ihr die Diagnose.
Von diesem Kippmoment aus betrachtet verwandelt sich die ausgestellte Betulichkeit der Erzählung in eine Dokumentation der praktizierten Verdrängungskultur. Durch die Pelze und Perlenketten schimmert immer noch der Massenmord. Die junge Bundesrepublik begräbt ihre Schuld unter Protz, Konsum und Ausschweifung.
Die nationalsozialistischen Überhänge sind im Roman allgegenwärtig, aber man sieht leicht über sie hinweg, weil Inga Rautenberg über sie hinwegsieht. Die Reiter treffen sich abends bei dem ehemaligen Schweinebauern Brinkmann, der auf Pferde umgesattelt hat und damit neuerdings zu einigem Geld gekommen ist: „Der unzeitgemäße Spruch ‚Meine Ehre heißt Treue‘, der über dem Eingang zur Brinkmann’schen Wohnstube prangt, wird allgemein übersehen“, heißt es da, genau wie die gekreuzten SS-Dolche über dem Sofa: „Ein Kauz eben.“ Als die Enkelin die geliebten Großeltern fragt, wie sie es eigentlich damals gehalten haben mit Hitler, wird sie gemaßregelt, nicht so schlau daherzureden: „Man muss das auch mal von der anderen Seite sehen.“ Und selbst der weiche Wilhelm Rautenberg lässt zwar die Schulfreunde seiner Töchter den Pool benutzen, aber nur, wenn sie weiß sind: „Wenn hier ständig Neger in mein Schwimmbad springen, lass ich das Wasser raus.“
Eva Sichelschmidts Roman gibt sich erzählerisch teilweise so naiv wie seine Protagonistinnen, aber die Erzählkonstruktion, die das gesamte Tableau um den symbolträchtigen Tod von Inga Rautenberg herum anordnet, legt eine zweite Ebene frei. Diese Welt ist nicht deshalb so behaglich und übersichtlich, weil sie heil, sondern weil sie verstümmelt ist. Und die Sprache dieser Zeit ist nur deshalb so formatiert und beherrscht, weil sie nie zwecklos sein darf, sondern permanent verleugnen muss. Bei all den eleganten, wohlhabenden Westdeutschen, die diesen Roman bevölkern, handelt es sich in Wahrheit um die „Mörder und Irren“, deren Allgegenwart Ingeborg Bachmann in ihrem Erzählungsband „Das dreißigste Jahr“ beschrieben hat. So ist es vielleicht kein Zufall, dass auch Eva Sichelschmidts Protagonistin dreißig Jahre alt ist, als sie stirbt.
FELIX STEPHAN
Eva Sichelschmidt: Bis wieder ein weint. Roman. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2020. 480 Seiten, 22 Euro.
Von Alfried Krupp wird voller
Hochachtung gesprochen,
trotz der Nürnberger Prozesse
Diese Welt ist nur deshalb
so behaglich und übersichtlich,
weil sie verstümmelt ist
Von hier aus wurde die Wehrmacht ausgerüstet, nach dem Krieg floss bald wieder Champagner: die Villa Hügel, Sitz der Familie Krupp.
Foto: imago/Schöning
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die andere Frau ist eigentlich ein Mädchen, Ingas jüngste Tochter, die kleine Suse, die aus der Ich-Perspektive berichtet, wie es ist, in den Siebzigerjahren unter erschwerten Bedingungen aufzuwachsen: rothaarig, absurd reich, unter einem alleinerziehenden Vater, dessen psychischer Zustand sich kontinuierlich verschlechtert und ohne Erinnerung an die Mutter. Denn Inga Rautenberg, die blonde Dorfschönheit, die regelmäßig mit der Schauspielerin Grace Kelly verglichen wird, bevor aus dieser die leicht verlebte Fürstengattin Grace Patricia Grimaldi wurde, stirbt in ihrem dreißigsten Jahr an Leukämie.
Der Tod der Inga Rautenberg ist das Gravitationszentrum des Romans. Auf der reinen Erzählebene begibt er sich scheinbar kritiklos hinein in die Selbsterzählung der Fünfzigerjahre als heile Welt, in der die Dinge übersichtlicher waren und noch nicht alles unentwegt politisiert und sexuell befreit werden musste. Inga richtet sich mit einer fröhlichen Bestimmtheit in ihrer Ehe ein, die man vielleicht von den englischen Bürgerstöchtern in George Eliots „Middlemarch“ kennt. Sie bewundert ihren Wilhelm, wenn er beim Dressurreiten hoch zu Ross eins wird mit dem Tier und sie mag auch ihren neuen Namen, weil er ihrer Unterschrift eine neue Eleganz verleiht.
Durch die Ehe, so sieht sie das, wird sie „erwachsen, nicht mehr nur Tochter, sondern vor allem Ehefrau sein. Die Ehe wird ihr gut zu Gesicht stehen.“ An anderer Stelle erfahren wir fast nebenbei von einer anderen Eigenschaft der Inga Rautenberg, obwohl die für ihr neues Leben als westdeutsche Industrieunternehmergattin vielleicht noch viel größere Bedeutung hat: „Inga hatte in Geschichte nicht besonders gut aufgepasst.“
Nur wenige Jahre später allerdings bricht diese schöne junge Mutter, Gattin und Hausfrau, die zwar manchmal gelangweilt in ihrem neuen Leben herumsteht, wenn Wilhelm erst spät aus dem Reiterstübchen kommt, aber auch nicht zu sehr, ausgerechnet auf der Party zusammen, die eigentlich die finale Ankunft der Familie in den höchsten sozialen Zirkeln markieren sollte, auf dem Oktoberfestempfang der Familie Krupp. Die Einladung wird als große Ehre empfunden. Als sie im Hause Rautenberg eintrifft, erinnert sich die personale Erzählstimme an die ausschweifenden Feste des Patriarchen Alfried Krupp in der Villa Hügel, die Wilhelm und Inga selbst schon einmal besuchen durften: „Inga hatte man den ganzen Abend nicht von der Tanzfläche bekommen, mit allen Männern hatte sie getanzt, sogar mit dem alten Krupp. Eine imposante Erscheinung war dieser hochgewachsene Patriarch, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen.“ Alfried Krupp ist im Bewusstsein der Rautenbergs ein Unternehmer alten Formats, man spricht von ihm ausschließlich mit Hochachtung. Die subtile Erzählkunst dieses Romans besteht darin, dass Eva Sichelschmidt auch hier, als längst alle Alarmglocken schrillen, nicht abweicht von der Perspektive ihrer naiven Protagonistin Inga. Es bleibt also unerwähnt, dass Alfried Krupp zwei Jahrzehnte zuvor in den Nürnberger Prozessen zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, die er zumindest teilweise absitzen musste, bevor er 1951 amnestiert wurde. Sein Unternehmen hatte für die Ausrüstung der Wehrmacht mit schwerem Gerät etwa 60 000 Zwangsarbeiter beschäftigt und, als das noch immer nicht genügte, zusätzlich jüdische KZ-Insassen angefordert. Bis zu seinem Lebensende hat Alfried Krupp die Nürnberger Prozesse als ungerechtfertigt betrachtet.
Trotzdem geht es Familie und Konzern in der Romangegenwart schon wieder blendend, ihr Ruf in der westdeutschen Oberschicht ist tadellos, die Einladungen zu ihren Empfängen gleichen Ritterschlägen: „Von der Feier auf einem Schloss der Familie Krupp in der Nähe von Salzburg hat Uli noch Monate geschwärmt. Champagner hat es gegeben, viel Prunk und allerhand Frivolitäten in sogenannten Separés.“ Auf diesem Oktoberfestempfang also bricht Inga Rautenberg kreidebleich zusammen, womit sich die Verdrängungskultur der jungen, neureichen Bundesrepublik motivisch verschränkt mit der Leukämie der Protagonistin. Ein Leben ist hier eigentlich nicht möglich. Selbst die Ärzte belügen sie und verschweigen ihr die Diagnose.
Von diesem Kippmoment aus betrachtet verwandelt sich die ausgestellte Betulichkeit der Erzählung in eine Dokumentation der praktizierten Verdrängungskultur. Durch die Pelze und Perlenketten schimmert immer noch der Massenmord. Die junge Bundesrepublik begräbt ihre Schuld unter Protz, Konsum und Ausschweifung.
Die nationalsozialistischen Überhänge sind im Roman allgegenwärtig, aber man sieht leicht über sie hinweg, weil Inga Rautenberg über sie hinwegsieht. Die Reiter treffen sich abends bei dem ehemaligen Schweinebauern Brinkmann, der auf Pferde umgesattelt hat und damit neuerdings zu einigem Geld gekommen ist: „Der unzeitgemäße Spruch ‚Meine Ehre heißt Treue‘, der über dem Eingang zur Brinkmann’schen Wohnstube prangt, wird allgemein übersehen“, heißt es da, genau wie die gekreuzten SS-Dolche über dem Sofa: „Ein Kauz eben.“ Als die Enkelin die geliebten Großeltern fragt, wie sie es eigentlich damals gehalten haben mit Hitler, wird sie gemaßregelt, nicht so schlau daherzureden: „Man muss das auch mal von der anderen Seite sehen.“ Und selbst der weiche Wilhelm Rautenberg lässt zwar die Schulfreunde seiner Töchter den Pool benutzen, aber nur, wenn sie weiß sind: „Wenn hier ständig Neger in mein Schwimmbad springen, lass ich das Wasser raus.“
Eva Sichelschmidts Roman gibt sich erzählerisch teilweise so naiv wie seine Protagonistinnen, aber die Erzählkonstruktion, die das gesamte Tableau um den symbolträchtigen Tod von Inga Rautenberg herum anordnet, legt eine zweite Ebene frei. Diese Welt ist nicht deshalb so behaglich und übersichtlich, weil sie heil, sondern weil sie verstümmelt ist. Und die Sprache dieser Zeit ist nur deshalb so formatiert und beherrscht, weil sie nie zwecklos sein darf, sondern permanent verleugnen muss. Bei all den eleganten, wohlhabenden Westdeutschen, die diesen Roman bevölkern, handelt es sich in Wahrheit um die „Mörder und Irren“, deren Allgegenwart Ingeborg Bachmann in ihrem Erzählungsband „Das dreißigste Jahr“ beschrieben hat. So ist es vielleicht kein Zufall, dass auch Eva Sichelschmidts Protagonistin dreißig Jahre alt ist, als sie stirbt.
FELIX STEPHAN
Eva Sichelschmidt: Bis wieder ein weint. Roman. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2020. 480 Seiten, 22 Euro.
Von Alfried Krupp wird voller
Hochachtung gesprochen,
trotz der Nürnberger Prozesse
Diese Welt ist nur deshalb
so behaglich und übersichtlich,
weil sie verstümmelt ist
Von hier aus wurde die Wehrmacht ausgerüstet, nach dem Krieg floss bald wieder Champagner: die Villa Hügel, Sitz der Familie Krupp.
Foto: imago/Schöning
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schließen
Ein schreckliches Kind
Eine der frühen Neuerscheinungen dieses Jahres, der zweite Roman von Eva Sichelschmidt, spielt mit seinem Titel «Bis wieder einer weint» auf die Warnung der Erwachsenen an, wenn Kinder übermütig herumalbern. Weil ja, wer kennt das nicht, oft das …
Mehr
Ein schreckliches Kind
Eine der frühen Neuerscheinungen dieses Jahres, der zweite Roman von Eva Sichelschmidt, spielt mit seinem Titel «Bis wieder einer weint» auf die Warnung der Erwachsenen an, wenn Kinder übermütig herumalbern. Weil ja, wer kennt das nicht, oft das Kichern und Getobe plötzlich umschlägt. Die nach Bekunden der Autorin autobiografisch gefärbte Geschichte, beginnend in der Adenauerzeit und bis in die frühen neunziger Jahre hineinreichend, schildert Aufstieg und Fall einer westdeutschen Unternehmerfamilie am Rande des Ruhrgebiets.
«Am 29. Juni 1971 hat niemand fotografiert» heißt es zu Beginn des Romans, es war der Tag, an dem die Mutter der damals knapp zehn Monate alten Ich-Erzählerin beerdigt wurde. An diesen Tag glaubt Suse sich später erinnern zu können, sie hatte eine Blumenvase umgerissen und ihren Laufstall damit unter Wasser gesetzt. Diese nonverbale Erinnerung bezeichnet ein Kinderpsychologe, dem sie am Ende privat von ihrem verkorksten Leben erzählt, als das bekannte Phänomen ‹emotionaler Erinnerung› in Bildern. In permanentem Wechsel zwischen personalem und auktorialem Erzähler wird zunächst die Geschichte von Inga und Wilhelm erzählt, dem glamourösen Elternpaar von Suse. Schönheit und Reichtum kamen da zusammen, die siebzehnjährige Tochter eines praktizierenden Augenarztes eine geradezu strahlende Erscheinung, der zwölf Jahre ältere Bräutigam glamouröser Dressurreiter und erfolgreicher Geschäftsmann. Inga stirbt bald nach Suses Geburt an Leukämie, das Baby wird zu den mütterlichen Großeltern gegeben, ihre sechs Jahre ältere Schwester bleibt beim Vater. Der holt dann aber auch die inzwischen achtjährige Suse wieder zu sich, sie kommt damit unter die Fuchtel der pietistischen Großmutter und leidet sehr darunter. Was sich dann in einer permanenten Widerborstigkeit im familiären Umgang ausdrückt und ebenso in einem eklatanten schulischen Versagen. Sie entwickelt sich zu einer allerseits gemiedenen Außenseiterin und weist keinerlei erkennbare Talente auf, ihre Zukunft bleibt bis zum Ende ungewiss.
Das chronologisch erzählte Geschehen nimmt seinen Anfang in den Jahren der zunehmend prosperierenden BRD, deren wirtschaftlicher Aufschwung auch Wilhelms mittelständische Maschinenfabrik mitreißt. Ein Erfolg, den er in vollen Zügen genießt, er wirft geradezu um sich mit dem reichlich vorhandenen Geld, verwöhnt seine junge Frau und nach deren Tod auch die beiden Töchter. Mit einer überbordenden Fülle an Details, vor allem aus der schillernden Konsumwelt, erzählt die Autorin, den Leser damit auf Dauer ermüdend, Alltägliches aus jener Zeit, - vieles davon ist unübersehbar klischeehaft. Diese materielle Dominanz beeinträchtigt narrativ leider allzu sehr das Seelenleben ihrer Figuren. Deren Psyche bleibt auffallend blass, es wird auch nicht angemessen differenziert beim Blick auf die verschiedenen Charaktere. Denn auch Wilhelm hat seine dunklen Seiten. Vor allem hat er eine heimlich ausgelebte homosexuelle Prägung, er ist mit der ahnungslosen Inga einmal sogar als Gast geladen zu einem Empfang von Arndt von Bohlen und Halbach in der Essener Villa Hügel.
In der zweiten Hälfte kommt endlich ein wenig Schwung in die bis dahin eher langweilige, deutlich zu breit ausgewalzte Geschichte, die Lebenslügen werden entlarvt, die glamouröse Fassade bekommt zunehmend Risse. Denn irgendwann endet auch Wilhelms Firma im Konkurs, die Zeiten haben sich geändert, für ihn eine harte Landung nach den Höhenflügen der glorreichen Vergangenheit. Wilhelm ist zum Alkoholiker geworden, leidet an verschiedenen Krankheiten, er lässt sich nahezu willenlos von seinem Liebhaber finanziell ausnehmen. Den Töchtern bleibt nur die Flucht aus dieser Misere in ein selbstbestimmtes Leben, das für sie ganz bei Null anfängt. Dieser Gesellschaftsroman endet mit dem an Suse gerichteten, resignierenden Satz ihrer Tante: «Du warst wirklich ein schreckliches Kind». Und das ist es auch schon, was sich dem Leser eingeprägt hat, mehr ist da nicht.
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Bis wieder jemand weint ist eine Familiengeschichte Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland. Natürlich ist es eine erfolgreiche Unternehmerfamilie und es wird über mehrere Generationen erzählt. Von dieser Art gibt es viele Bücher im Unterhaltungsgenre und fast alle sind …
Mehr
Bis wieder jemand weint ist eine Familiengeschichte Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland. Natürlich ist es eine erfolgreiche Unternehmerfamilie und es wird über mehrere Generationen erzählt. Von dieser Art gibt es viele Bücher im Unterhaltungsgenre und fast alle sind gleich gemacht. Aber diese Romane landet normalerweise nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Wie konnte das nur passieren?
Eva Sichelschmidt gestaltet ihren Roman im Prinzip nicht anders als andere. Besonders literarisch finde ich ihren Stil leider nicht, obwohl es gut versteckt ein paar bemerkenswerte Motive gibt.
Zu den verhaltenen Figuren konnte ich keine Zugang finden. Weder zu Inga noch zu Wilhelm, eher noch zu der jüngeren Generation.
Vielleicht unterschätze ich den Roman ja auch, aber für mich war er nur gehobenes Mittelmaß.
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Broschiertes Buch
Ich habe mich anfangs mit diesem Buch sehr schwer getan. Das lag am Schreibstil der sehr kühl und nüchtern ist. Das ganze Buch über bleibt er irgendwie distanziert... und im Endeffekt war es dann genau dieser Schreibstil der mich an das Buch gefesselt hat!
Das Buch besteht …
Mehr
Ich habe mich anfangs mit diesem Buch sehr schwer getan. Das lag am Schreibstil der sehr kühl und nüchtern ist. Das ganze Buch über bleibt er irgendwie distanziert... und im Endeffekt war es dann genau dieser Schreibstil der mich an das Buch gefesselt hat!
Das Buch besteht eigentlich aus 2 Geschichten. Die eine ist die Geschichte des Vaters Wilhelm und seiner Frau Inga, die kurz nach der Geburt des zweiten Kindes stirbt.
Parallel dazu erzählt dieses Kind, eine Tochter, von ihrem Leben. Vom Aufwachsen bei den Großeltern, von der Rückkehr zum Vater usw. Dieser Teil des Buches ist eine Ich Erzählung.
Beide Stränge stimmen zeitlich nicht überein, wodurch vielleicht die Distanz in der Erzählung zustande kommt - ich fand es auf jeden Fall faszinierend und habe das so auch noch nicht gelesen.
Die Geschichte selber ist stimmig und ein wenig traurig. Jeder hat sein Päckchen zu tragen und muss sein Leben leben, so gut er es vermag.
Ein gutes Buch, aber keine leichte Unterhaltungsliteratur!
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Andere Kunden interessierten sich für