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Das Leben ist eine schwierige Sache, aber noch schwieriger ist die Liebe. Man hat nicht nur mit den eigenen Ansprüchen zu tun, sondern auch noch mit denen der Frau. Und die will eines Tages nicht mehr zusehen, wie der promovierte Philosoph und Provinzblattredakteur an ihrer Seite sich selbst ins Abseits manövriert. So überrascht es den Mann nicht, dass er sich eines Tages seinen Kram aus Sonjas Wohnung abholen soll und ihre Hochzeitsanzeige findet. Aber auch die Normalität ist keine Rettung, denn ein ordnungsgemäßer Ehemann macht Sonjas Leben zwar ordentlicher, aber auch unendlich langwe...
Das Leben ist eine schwierige Sache, aber noch schwieriger ist die Liebe. Man hat nicht nur mit den eigenen Ansprüchen zu tun, sondern auch noch mit denen der Frau. Und die will eines Tages nicht mehr zusehen, wie der promovierte Philosoph und Provinzblattredakteur an ihrer Seite sich selbst ins Abseits manövriert. So überrascht es den Mann nicht, dass er sich eines Tages seinen Kram aus Sonjas Wohnung abholen soll und ihre Hochzeitsanzeige findet. Aber auch die Normalität ist keine Rettung, denn ein ordnungsgemäßer Ehemann macht Sonjas Leben zwar ordentlicher, aber auch unendlich langweiliger. Ein Happy End im Abseits - sollte man das für möglich halten?
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Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebte in Frankfurt und ist dort im Dezember 2018 gestorben. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt: Bei Regen im Saal (Roman, 2014), Außer uns spricht niemand über uns (Roman, 2016), Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Roman, 2018), Der Traum des Beobachters (Aufzeichnungen 1972-2018, 2023).

©Peter-Andreas Hassiepen
Produktdetails
- Verlag: Hanser
- Artikelnr. des Verlages: 505/24596
- Seitenzahl: 160
- Erscheinungstermin: 25. Juli 2014
- Deutsch
- Abmessung: 207mm x 130mm x 13mm
- Gewicht: 275g
- ISBN-13: 9783446245969
- ISBN-10: 3446245960
- Artikelnr.: 40865029
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Obschon der Typus von Wilhelm Genazinos Romanhelden konstant bleibt (Akademiker mit dauerhaft provisorischem Beruf und Hang zur distanzierten Beobachtung seiner Mitmenschen), der Autor variiert ihre jeweiligen Marotten aber immer ausreichend, um "ein tatsächlich neues Buch" entstehen lassen, findet Burkhard Müller. Reinhard, der Protagonist des neuen Romans "Bei Regen im Saal", ist ein antriebsloser Tropf, der sein problembeladenes Leben beinahe widerstandslos hinnimmt und dabei - trotz Soßenflecken auf dem Hemd - ziemlichen Erfolg bei den Frauen hat, weil er ihnen seltene Komplimente macht und sich nicht vom "Schönheitsideal der Gegenwart" beschränken lässt, fasst der Rezensent zusammen. Besonders spannend findet Müller Genazinos Beschreibung der Wirkung des Romanhaften: romanhaft betrachtet, gibt es kein eigentlich richtiges oder falsches Leben, es gibt nur "das immer fesselnde Phänomen", so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Schlingerkurs einer Existenz
Wieder keine Frau und kein Beruf? Wilhelm Genazinos neuer Roman siedelt auf vertrautestem Terrain. Glück spielt natürlich wieder keine Rolle. Lohnt es sich noch, so etwas zu lesen?
Kann man bei einem außergewöhnlich homogenen Romanwerk wie dem Wilhelm Genazinos von einem Altersstil sprechen? Mit 71 ist er dafür jedenfalls nicht zu jung. Die Frage ist nur, was ein Altersstil ist. Sofern man ihn landläufig versteht und damit eine gewisse Abgeklärtheit meint, vielleicht sogar Desillusionierung, dazu, in stilistischer Hinsicht, die Neigung, alles (vermeintlich) Überflüssige wegzulassen, wird man feststellen dürfen: So ist Genazino schon zu "Abschaffel"-Zeiten verfahren, vor bald vierzig
Wieder keine Frau und kein Beruf? Wilhelm Genazinos neuer Roman siedelt auf vertrautestem Terrain. Glück spielt natürlich wieder keine Rolle. Lohnt es sich noch, so etwas zu lesen?
Kann man bei einem außergewöhnlich homogenen Romanwerk wie dem Wilhelm Genazinos von einem Altersstil sprechen? Mit 71 ist er dafür jedenfalls nicht zu jung. Die Frage ist nur, was ein Altersstil ist. Sofern man ihn landläufig versteht und damit eine gewisse Abgeklärtheit meint, vielleicht sogar Desillusionierung, dazu, in stilistischer Hinsicht, die Neigung, alles (vermeintlich) Überflüssige wegzulassen, wird man feststellen dürfen: So ist Genazino schon zu "Abschaffel"-Zeiten verfahren, vor bald vierzig
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Jahren also, und es hat sich seitdem nichts Wesentliches daran geändert. Gelegentlich äußern auch Genazino-Fans einen leichten Überdruss am immer recht Gleichen. Plausibler und gerechter aber will es scheinen, auch hierin, in der beharrlichen Variation und Verfeinerung des Vertrauten, eine der Stärken dieses Autors zu sehen, dessen Kunst in jüngeren Jahren im positiven Sinne altklug wirkte. Deswegen bietet seine Literatur auch kaum eine Handhabe, sie nach Lebensalter und Reifegrad zu sortieren.
Im neuen, wiederum gewohnt schlanken Roman "Bei Regen im Saal" lässt sich aber tatsächlich so etwas wie ein Altersstil ausmachen. War man in den Büchern der vergangenen fünfzehn Jahre auf (natürlich ohnehin nur ganz wenige) Passagen und Episoden gestoßen, von denen man dachte, Genazino hätte sie genauso gut auch weglassen können, so ist nun eine Verdichtung der Reflexion und - dieses Wort ist auf Genazino ja nur bedingt anwendbar - des Dramatischen erreicht, die kaum noch steigerbar sein dürfte.
Ein längeres Zitat vom Anfang des sechsten Kapitels, ziemlich in der Mitte des Buchs: "Weil es gerade regnete, konnte ich mir leichter als sonst eingestehen, dass ich als Überwinder bisher nur wenig Erfolg hatte. Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentanen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte. Mein Innenleben war nicht so großartig, dass ich vor ihm keine Angst hätte haben müssen."
Diese Passage besteht nur aus gebräuchlichen, an sich wenig originellen, aber, im Kontext einer Situations- und Mentalitätskennzeichnung, dann doch überraschenden Wörtern. So, in diesen noch recht vagen, aber wuchtigen Ausdrücken, schreibt heute kaum ein Romanschriftsteller; viele wären wahrscheinlich versucht, die geschilderte Szene, in der zugleich ein ganzes Psychogramm steckt, mit Adjektiven zu präzisieren. Genazino geht damit sparsam um, und die, die er verwendet, sind auch eher allgemein gehalten: "harmlos", "still", "rücksichtslos" - darunter wird jeder etwas anderes verstehen, und trotzdem wird jeder wissen, was gemeint ist. Nur so, im Verzicht auf jede weitere Ausschmückung, bleibt beim Lesen genug Raum für eigene Phantasien, ohne dass man den Eindruck hätte, es mit einem ungenauen Text zu tun zu haben.
Der obige Abschnitt enthält nämlich auch die wesentlichen Kategorien für Genazinos erzählerisches Verfahren und dessen philosophisch-ästhetische Voraussetzungen, die sich nach wie vor an Freud, Kafka und Adorno orientieren: ein generelles Fremdheits- beziehungsweise Entfremdungsgefühl, das jederzeit selbstkritisch durchdrungen wird; das von der Literaturkritik bisweilen verharmloste, scheinbar nutz- und ziellose, in Wirklichkeit nur der seelischen Entlastung dienende Flanieren; eine innere Leere, in der gleichwohl keinerlei Platz für Illusionen ist und die allenfalls in alltäglicher Beschaulichkeit ausbalanciert werden kann.
Und wenn sie nicht in der Balance ist? Genazinos Helden geraten zwar, aufgrund einer relativen Ereignislosigkeit, so gut wie nie außer sich; aber sie sind von zweierlei Mächten durchweg und sehr stark getrieben: dem Sexualtrieb, dem in immer wiederkehrender Routine abgeholfen wird, und der Erinnerung an die Kindheit, aus der heraus die elterlichen Schatten als anhaltend hemmende Prägemuster bedrohlich und doch wehmütig stimmend auftauchen.
Angesichts dieses Gefüges, das sich durch viele Genazino-Jahre hindurch als stabil erwiesen hat - den Kritikern kommt es natürlich zu starr vor -, lohnt es sich kaum, auf die Figuren und deren Erlebnisse jedes Mal groß einzugehen. Deshalb hier nur stichwortartig: ein promovierter Philosoph namens Reinhard, der in einem Hotel arbeitet und später in einem Anzeigenblatt landet; eine Freundin und Bettgenossin, die irgendwann, ermüdet von Reinhards Unentschlossenheit, einen anderen heiratet, von diesem aber wieder zurückkehrt; dazu jede Menge gleichsam anlassloser, aber in der gedanklichen Dichte, mit der sie berichtet werden, imponierende Stadt-Spaziergänge.
"Bei Regen im Saal" erinnert an "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman", eines von Genazinos besten Büchern, in dem mit großer Wahrhaftigkeit von einer Schriftsteller-Werdung erzählt wird. Dort war die bescheidene Zeitungskarriere, die der Held zuvor noch durchläuft, eines der ganz großen Glanzstücke. Hier ist es ein in erwarteter Trostlosigkeit absolviertes Familientreffen, aus dem blitzhaft die genazinohafte Entlarvungskomik aufsteigt. Reinhard erträgt die Gegenwart seines Bruders kaum: "An seiner Leutseligkeit erkannte ich, dass er mich in Kürze anpumpen würde." Mit meisterlichen Strichen werden hier Aspekte des Persönlichen und Sozialen gezeichnet und ins Typisch-Vertraute erhoben - es ist bitter, was berichtet wird, und doch zum Lachen.
Ansonsten stoßen wir auf die bestens erprobten Muster: Wieder ist es eine verkrachte, karg behauste Existenz, ein müder, kraftloser Protagonist um die vierzig mit Neigung zur Polygamie auf der Suche nach einem geregelten Leben und gleichzeitig auf der Flucht davor, der jede seelische Regung genauestens registriert, sich davon deprimieren, sich aber auch zu einem kalten, ja manchmal auch bösen Blick bestimmen lässt, der sich konsequent aufs unscheinbare, oft unterpriviligierte Leben richtet. Auf die Idee, seine Helden in die Frankfurter Goethestraße zu schicken, an der die Leute ihre Maseratis oder Porsches abstellen, um ihr Geld in den sündhaft teuren Bekleidungsgeschäften zu lassen, käme Genazino im Leben nicht - diese Art von vordergründiger, rein opportunistischer Kapitalismuskritik ist mit ihm nicht zu machen.
Im bleiernen Grau auch dieses Romans, das die heil- und hoffnungslose, aber gegen anhaltende Erschütterungen doch ganz gut gefeite Ich-Perspektive grundiert, ist allerdings eine Fülle an Sentenzen auszumachen, die einen Enzensberger eigentlich erblassen lassen müsste. Genazino schreibt wie ein Musiker, der Melodie und Rhythmus bedient; äußere Handlung und Nachdenken sind unentwirrbar miteinander verwoben. Das nahezu stillstehende Leben produziert Bilder wie von Edward Hopper. Das aufrichtige Anerkennen der Unabänderlichkeit gewisser Charaktereigenschaften mag manchen Leser dabei entmutigen. Genazinos besonderer Realismus wirft aber äußerst scharfe Blicke auf die sozialen Tatsachen.
"Mehrmals täglich durchzog mich das unabweisbare Gefühl, dass sich bei mir eine falsche Biografie an die Stelle einer nicht auffindbaren richtigen Biografie schob und dass die falsche Biographie auch noch attraktiv war, weil durch sie das Erscheinen der bloßen Romanhaftigkeit des Lebens begann." Diese tiefsinnige Poetik in eigener Sache mag, auf den Protagonisten bezogen, kein rechter Trost sein - dem Schriftsteller Wilhelm Genazino wird sie hoffentlich noch ganz viele gute böse Romane möglich machen.
EDO REENTS.
Wilhelm Genazino: "Bei Regen im Saal". Roman.
Verlag Carl Hanser, München 2014. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im neuen, wiederum gewohnt schlanken Roman "Bei Regen im Saal" lässt sich aber tatsächlich so etwas wie ein Altersstil ausmachen. War man in den Büchern der vergangenen fünfzehn Jahre auf (natürlich ohnehin nur ganz wenige) Passagen und Episoden gestoßen, von denen man dachte, Genazino hätte sie genauso gut auch weglassen können, so ist nun eine Verdichtung der Reflexion und - dieses Wort ist auf Genazino ja nur bedingt anwendbar - des Dramatischen erreicht, die kaum noch steigerbar sein dürfte.
Ein längeres Zitat vom Anfang des sechsten Kapitels, ziemlich in der Mitte des Buchs: "Weil es gerade regnete, konnte ich mir leichter als sonst eingestehen, dass ich als Überwinder bisher nur wenig Erfolg hatte. Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentanen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte. Mein Innenleben war nicht so großartig, dass ich vor ihm keine Angst hätte haben müssen."
Diese Passage besteht nur aus gebräuchlichen, an sich wenig originellen, aber, im Kontext einer Situations- und Mentalitätskennzeichnung, dann doch überraschenden Wörtern. So, in diesen noch recht vagen, aber wuchtigen Ausdrücken, schreibt heute kaum ein Romanschriftsteller; viele wären wahrscheinlich versucht, die geschilderte Szene, in der zugleich ein ganzes Psychogramm steckt, mit Adjektiven zu präzisieren. Genazino geht damit sparsam um, und die, die er verwendet, sind auch eher allgemein gehalten: "harmlos", "still", "rücksichtslos" - darunter wird jeder etwas anderes verstehen, und trotzdem wird jeder wissen, was gemeint ist. Nur so, im Verzicht auf jede weitere Ausschmückung, bleibt beim Lesen genug Raum für eigene Phantasien, ohne dass man den Eindruck hätte, es mit einem ungenauen Text zu tun zu haben.
Der obige Abschnitt enthält nämlich auch die wesentlichen Kategorien für Genazinos erzählerisches Verfahren und dessen philosophisch-ästhetische Voraussetzungen, die sich nach wie vor an Freud, Kafka und Adorno orientieren: ein generelles Fremdheits- beziehungsweise Entfremdungsgefühl, das jederzeit selbstkritisch durchdrungen wird; das von der Literaturkritik bisweilen verharmloste, scheinbar nutz- und ziellose, in Wirklichkeit nur der seelischen Entlastung dienende Flanieren; eine innere Leere, in der gleichwohl keinerlei Platz für Illusionen ist und die allenfalls in alltäglicher Beschaulichkeit ausbalanciert werden kann.
Und wenn sie nicht in der Balance ist? Genazinos Helden geraten zwar, aufgrund einer relativen Ereignislosigkeit, so gut wie nie außer sich; aber sie sind von zweierlei Mächten durchweg und sehr stark getrieben: dem Sexualtrieb, dem in immer wiederkehrender Routine abgeholfen wird, und der Erinnerung an die Kindheit, aus der heraus die elterlichen Schatten als anhaltend hemmende Prägemuster bedrohlich und doch wehmütig stimmend auftauchen.
Angesichts dieses Gefüges, das sich durch viele Genazino-Jahre hindurch als stabil erwiesen hat - den Kritikern kommt es natürlich zu starr vor -, lohnt es sich kaum, auf die Figuren und deren Erlebnisse jedes Mal groß einzugehen. Deshalb hier nur stichwortartig: ein promovierter Philosoph namens Reinhard, der in einem Hotel arbeitet und später in einem Anzeigenblatt landet; eine Freundin und Bettgenossin, die irgendwann, ermüdet von Reinhards Unentschlossenheit, einen anderen heiratet, von diesem aber wieder zurückkehrt; dazu jede Menge gleichsam anlassloser, aber in der gedanklichen Dichte, mit der sie berichtet werden, imponierende Stadt-Spaziergänge.
"Bei Regen im Saal" erinnert an "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman", eines von Genazinos besten Büchern, in dem mit großer Wahrhaftigkeit von einer Schriftsteller-Werdung erzählt wird. Dort war die bescheidene Zeitungskarriere, die der Held zuvor noch durchläuft, eines der ganz großen Glanzstücke. Hier ist es ein in erwarteter Trostlosigkeit absolviertes Familientreffen, aus dem blitzhaft die genazinohafte Entlarvungskomik aufsteigt. Reinhard erträgt die Gegenwart seines Bruders kaum: "An seiner Leutseligkeit erkannte ich, dass er mich in Kürze anpumpen würde." Mit meisterlichen Strichen werden hier Aspekte des Persönlichen und Sozialen gezeichnet und ins Typisch-Vertraute erhoben - es ist bitter, was berichtet wird, und doch zum Lachen.
Ansonsten stoßen wir auf die bestens erprobten Muster: Wieder ist es eine verkrachte, karg behauste Existenz, ein müder, kraftloser Protagonist um die vierzig mit Neigung zur Polygamie auf der Suche nach einem geregelten Leben und gleichzeitig auf der Flucht davor, der jede seelische Regung genauestens registriert, sich davon deprimieren, sich aber auch zu einem kalten, ja manchmal auch bösen Blick bestimmen lässt, der sich konsequent aufs unscheinbare, oft unterpriviligierte Leben richtet. Auf die Idee, seine Helden in die Frankfurter Goethestraße zu schicken, an der die Leute ihre Maseratis oder Porsches abstellen, um ihr Geld in den sündhaft teuren Bekleidungsgeschäften zu lassen, käme Genazino im Leben nicht - diese Art von vordergründiger, rein opportunistischer Kapitalismuskritik ist mit ihm nicht zu machen.
Im bleiernen Grau auch dieses Romans, das die heil- und hoffnungslose, aber gegen anhaltende Erschütterungen doch ganz gut gefeite Ich-Perspektive grundiert, ist allerdings eine Fülle an Sentenzen auszumachen, die einen Enzensberger eigentlich erblassen lassen müsste. Genazino schreibt wie ein Musiker, der Melodie und Rhythmus bedient; äußere Handlung und Nachdenken sind unentwirrbar miteinander verwoben. Das nahezu stillstehende Leben produziert Bilder wie von Edward Hopper. Das aufrichtige Anerkennen der Unabänderlichkeit gewisser Charaktereigenschaften mag manchen Leser dabei entmutigen. Genazinos besonderer Realismus wirft aber äußerst scharfe Blicke auf die sozialen Tatsachen.
"Mehrmals täglich durchzog mich das unabweisbare Gefühl, dass sich bei mir eine falsche Biografie an die Stelle einer nicht auffindbaren richtigen Biografie schob und dass die falsche Biographie auch noch attraktiv war, weil durch sie das Erscheinen der bloßen Romanhaftigkeit des Lebens begann." Diese tiefsinnige Poetik in eigener Sache mag, auf den Protagonisten bezogen, kein rechter Trost sein - dem Schriftsteller Wilhelm Genazino wird sie hoffentlich noch ganz viele gute böse Romane möglich machen.
EDO REENTS.
Wilhelm Genazino: "Bei Regen im Saal". Roman.
Verlag Carl Hanser, München 2014. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Vielleicht sein bestes Buch." Edo Reents, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.14 "Genazino schenkt den leise schwindenden Männern in seinen Büchern durch seine Sprache weiterhin kleine Alltagsepiphanien, die ein einvernehmliches Auskommen mit dem gewöhnlichen Unglück ermöglichen." Ulrich Rüdenauer, Süddeutsche Zeitung, 30.07.14 "Genazinos Romane fallen zunehmend aus der Zeit, in der sie freilich nie wirklich feststecken. Das ist wieder eine Freude." Judith von Sternburg, Frankfurer Rundschau, 30.07.14 "Wilhelm Genazinos Poetik der Beharrlichkeit ist darum gleichzeitig ein Gegenentwurf zu einer literarischen Betriebsamkeit, die immer schneller und effizienter Wirklichkeit in Literatur verwandeln möchte und mitunter vergisst, dass sich an
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den Widerhaken einer stoischen Aufmerksamkeit die schönsten und bemerkenswertesten Geschichten verfangen". Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 29.07.14 "Genazino schreibt wie ein Musiker, der Melodie und Rhythmus bedient; äußere Handlung und Nachdenken sind unentwirrbar miteinander verwoben. Das nahezu stillstehende Leben produziert Bilder wie Edward Hopper." Edo Reents, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.14 "Man liest Genazinos Bücher ungefähr so, wie man sich Woody-Allen-Filme anschaut ... Man wartet auf die kurzen Momente, da die alltäglichen Dinge zu schillern beginnen, in einem neuen Licht erscheinen und der Schrecken, der sich aufbaut, in Komik umschlägt." Claus-Ulrich Bielefeld, Die Welt, 26.07.14 "Genazino liefert die glaubwürdige Nutzanwendung auf die deutschen Zustände des Jahres 2014 mit ihren ganz anderen Verhältnissen, Ansprüchen und Toleranzen. Es atmet den Geist eines leicht muffigen, doch zarten Trosts; und man muss sich in den Mut der Verzagtheit finden, um ihn anzunehmen". Burkhard Müller, Die Zeit, 07.08.14
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Antriebsarm in Frankfurt...
Langeweile in Fankfurt am Main. Tauben humpeln übers regennasse Pflaster. Wahrscheinlich haben sie auch Langeweile. Autor Genazinio führt eine Berufswelt vor, die es gar nicht gibt. Da haben Redakteure noch Zeit und eigene Sekretärinnen. Vielleicht …
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Antriebsarm in Frankfurt...
Langeweile in Fankfurt am Main. Tauben humpeln übers regennasse Pflaster. Wahrscheinlich haben sie auch Langeweile. Autor Genazinio führt eine Berufswelt vor, die es gar nicht gibt. Da haben Redakteure noch Zeit und eigene Sekretärinnen. Vielleicht hätte er vorher recherchieren sollen? Hat er offenbar nicht gemacht. Und so verläuft dieses Buch mit den Luxusproblemen der antriebsarmen Titelfigur weitgehend im Sande. Was soll es?
Da hat ein Autor, dem nicht mehr so viel einfällt, einfach ein neues Buch herausgebracht. Schade...
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Die Romanhaftigkeit des Lebens
Das Markenzeichen des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino ist ‹der gedehnten Blick›, den er in seinem gleichnamigen Essay konkret beschrieben hat und der auch den Roman «Bei Regen im Saal» prägt. Gemeint ist damit eine …
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Die Romanhaftigkeit des Lebens
Das Markenzeichen des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino ist ‹der gedehnten Blick›, den er in seinem gleichnamigen Essay konkret beschrieben hat und der auch den Roman «Bei Regen im Saal» prägt. Gemeint ist damit eine zeitlich gedehnte, intensive Wahrnehmung auch kleinster, banaler Details des Alltags. Erst bei längerer Betrachtung erschließe sich «die Tiefendimension eines Gegenstandes oder einer Situation», und damit verliere sich auch das Triviale, hat er im Interview erklärt. Ein weiteres Merkmal seiner Prosa ist der elegische, resignative Grundton, die Protagonisten sind misanthropische Antihelden, das Milieu ist durch die «kleinen Leute» gekennzeichnet im Kampf mit dem alltäglichen Wahnsinn unserer immer komplizierter werdenden, modernen Zeit.
Der erst ganz am Ende als Reinhard ‹benamste› Ich-Erzähler ist ein 43jähriger, promovierter Philosoph, ein Verlierertyp, der sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt und schließlich als Redakteur bei einer Lokalzeitung landet. Als unverbesserlicher Eigenbrötler wohnt er im Chaos seiner spartanisch möblierten, verschmutzten Wohnung, ein schlecht gekleideter, schlecht rasierter, schmuddeliger und ungepflegter Mann. Er ist antriebslos und verrichtet seine Arbeit gleichgültig, ohne jeden Ehrgeiz. Seinem tristen Zuhause, seiner ereignislosen Existenz entflieht der Flaneur durch häufige Streifzüge durch die Stadt, er beobachtet dabei mit scharfem Blick sein ihm immer unverständlicher werdendes, urbanes Umfeld. Einziger Lichtblick in seinem ansonsten bindungsarmen Leben ist seine Freundin Sonja, eine dralle Finanzbeamtin, mit der er ein äußerst erfülltes Sexualleben führt. Der auch vom Aussehen her wenig attraktive Mann mit seinen Marotten ist ein ausgesprochener Busenfetischist, BHs und Brüste üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Und erstaunlicher Weise machen ihm viele Frauen recht deutlich Avancen, weil sie seine Begehrlichkeit spüren, er aber weicht dem immer aus, seine eh schon schwach ausgeprägte Bindungsfähigkeit lässt ihn vor flüchtigen Affären zurückschrecken, seine Liebe gilt allein Sonja.
Eine Handlung ist in diesem kurzen Roman kaum auszumachen, das Wenige davon hier auszuplaudern wäre unfair, denn eine gewisse Spannung ergibt sich trotzdem, - es geht ja schließlich um Liebe, und die ist immer für Überraschungen gut! Die Geschichte als Ganzes lebt von den als Gedankenstrom erzählten Grübeleien und inneren Monologen des ewigen Flaneurs, den jede noch so kleine Begebenheit interessiert und oft zu abseitigen, philosophischen Betrachtungen animiert. Das Große im Kleinen zu erkennen, die tiefere Bedeutung auszuloten ist das erklärte Anliegen des Autors. Wobei politische, religiöse, ökonomische oder soziologische Aspekte ausgeklammert bleiben, das alltäglich Banale des menschlichen Seins steht im Fokus, hinzu kommen gelegentlich auch Beobachtungen in der Natur. Als Ergebnis solcher Selbstreflexion, als Extrakt dieser willkürlichen, sprunghaften Denkprozesse ergeben sich dann häufig völlig absurde, eigenwillige Einsichten und skurrile Assoziationen.
Wilhelm Genazino überrascht seine Leser zuweilen mit gelungenen Wortschöpfungen in einer angenehm lesbaren, den narrativ vorherrschenden Bewusstseinsstrom stimmig abbildenden, schnörkellosen Sprache. Zu der allfälligen Kritik an seinen handlungsarmen Plots hat der sich selbst als randständig verortende Schriftsteller in einem Interview angemerkt: «Denn unter den Lesern sind natürlich auch sehr viele, die nicht die entsprechende Muße aufbringen und stattdessen mehr Action wollen. Für diese Leser muss es viel mehr vordergründige Handlungsmuster geben, da müssen irgendwelche Scheidungen stattfinden und Liebesabenteuer usw. Wenn das nicht stattfindet, dann legen diese Leser so ein Buch wie eines von mir schnell beiseite und sagen: ‹Ach, wie langweilig›!» Die Romanhaftigkeit des Lebens ist selten actionreich, das wird beim Lesen dieses Romans sehr deutlich.
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