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An einem Tag wie diesem ändert Andreas sein Leben. Ihn packt eine Sehnsucht, die zwischen Heimweh und Fernweh nicht mehr unterscheidet. Er wirft alles hin, verkauft seine Wohnung und kündigt seine Stelle in Paris, um nach einem halben Leben zu der Frau zurückzukehren, die er einmal geliebt hat. Die Gleichheit der Tage war sein einziger Halt, jetzt hofft er auf ein Wunder und darauf, dass alles neu beginnt. Seine Reise führt ihn in die Provinz seiner Jugend und wieder weg bis ans Ufer des Atlantiks, in die Arme einer Frau, deren Liebe er beinah verspielt hatte.
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.Literaturpreise:Rheingau Literatur Preis 2000Bodensee-Literaturpreis 2012Friedrich-Hölderlin-Preis 2014Cotta Literaturpreis 2017ZKB-Schillerpreis 2017Solothurner Literaturpreis 2018Schweizer Buchpreis 2018

Produktdetails
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- Artikelnr. des Verlages: 1011740
- 3. Aufl.
- Seitenzahl: 208
- Erscheinungstermin: 7. Juli 2006
- Deutsch
- Abmessung: 210.00mm
- Gewicht: 316g
- ISBN-13: 9783100751256
- ISBN-10: 3100751256
- Artikelnr.: 20852327
Herstellerkennzeichnung
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Das große Schulterzucken
Peter Stamm beschreibt einen emotionalen Totalschaden
An einem Tag wie diesem geht ein Mann zum Arzt und erfährt, daß er sterbenskrank ist. An einem Tag wie diesem kündigt er seine Stelle als Deutschlehrer in Paris, veräußert seine Wohnung, kauft ein Auto und macht sich auf den Weg - ohne Ziel zunächst, doch mit dem Wunsch, etwas wiederzufinden, was er vor langer Zeit verloren hat. An einem Tag wie diesem hört das tägliche Einerlei plötzlich auf, tröstlich zu sein. Es reicht nicht mehr, Tage wie diesen gleichgültig aneinanderzureihen, ein Leben wie dieses mit sich geschehen zu lassen. Es muß dieser eine Tag, dieses eine Leben von Bedeutung sein. Vom Versuch eines Mannes, sich zur Teilnahme
Peter Stamm beschreibt einen emotionalen Totalschaden
An einem Tag wie diesem geht ein Mann zum Arzt und erfährt, daß er sterbenskrank ist. An einem Tag wie diesem kündigt er seine Stelle als Deutschlehrer in Paris, veräußert seine Wohnung, kauft ein Auto und macht sich auf den Weg - ohne Ziel zunächst, doch mit dem Wunsch, etwas wiederzufinden, was er vor langer Zeit verloren hat. An einem Tag wie diesem hört das tägliche Einerlei plötzlich auf, tröstlich zu sein. Es reicht nicht mehr, Tage wie diesen gleichgültig aneinanderzureihen, ein Leben wie dieses mit sich geschehen zu lassen. Es muß dieser eine Tag, dieses eine Leben von Bedeutung sein. Vom Versuch eines Mannes, sich zur Teilnahme
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an der eigenen Existenz zu bewegen, erzählt Peter Stamm in seinem neuen Roman "An einem Tag wie diesem".
Schon lange hat Andreas das Gefühl, den entscheidenden Augenblick verpaßt zu haben, an dem er die Weichen anders hätte stellen können. Genauer gesagt: seit er sich vor zwanzig Jahren in Fabienne verliebte, die als französische Austauschschülerin in seine Schweizer Dorfheimat kam, und seinen - angeborenen? anerzogenen? antrainierten? - Gleichmut sprengte. Ein flüchtiger Kuß, dann verliebte sie sich in seinen Freund Manuel, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. Andreas, der ihr seine Gefühle nie gestanden hat, warf sich statt Fabienne deren Heimat Frankreich an den Hals, zog nach Paris, wurde Lehrer, hat parallel Affären mit zwei Frauen, ohne auch nur eine davon zu mögen oder selbst von einer der beiden besonders gemocht zu werden. Er fühlt sich haltlos, aber nicht unbehaglich, wenngleich ihm die eigene Unbestimmheit immerzu bewußt ist. Selbst die Liebe zu Fabienne, die einzige Konstante in seinem Leben, stellt er infrage, wenn er vermutet, daß ihm "die Bedingungslosigkeit jenes Gefühls, das ihn noch zwanzig Jahre später ratlos machte", wichtiger ist als Fabienne selbst.
Als ihm die vierundzwanzigjährige Delphine begegnet, die sich seiner nicht nur erotisch, sondern auch kameradschaftlich umstandslos annimmt, und ihm zur selben Zeit die Diagnose Krebs gestellt wird - und damit eine existentielle Bedrohung ausgesprochen wird, die seine Apathie bereits vorweggenommen hat -, macht sich Andreas auf den Weg in die Vergangenheit - mit der undeutlichen Vorstellung, die ehemals verpaßte Weiche im Nachhinein umstellen zu können. Daß er aufgewühlt ist, Schmerz empfindet oder Verzweiflung oder gar Angst, ahnt man nur, weil er die Menschen in seiner Umgebung sinnlos vor den Kopf stößt und verletzt. Seinen Bettgefährtinnen erteilt er rüde Abfuhren. Sodann versucht er, mit der Frau eines befreundeten Kollegen zu schlafen; anschließend demütigt er ihren Mann, indem er ihm erzählt, Delphine halte ihn für einen Idioten. Delphine wiederum fordert er mitten in der Nacht auf, nach Hause zu gehen. Mit anderen Worten: Er stellt seine Gleichgültigkeit so aggressiv zur Schau, daß es etwas Beleidigendes hat. Delphine, die sich von seinen Distanzierungsattacken wenig beeindruckt zeigt, weiht er immerhin als einzige in die ärztlichen Untersuchungen ein; die Ergebnisse jedoch verhehlt er ihr, behauptet sogar, es sei alles in Ordnung. Als er sich mit dem klapprigen 2 CV - den er offenbar gekauft hat, weil Manuel, Fabienne und er damals, in jenem magisch gefühlten Sommer, in einem 2 CV zum Weiher gefahren sind - auf den Weg in die Schweiz macht, nimmt Andreas Delphine mit. Doch selbst diese Liebesgeschichte bestreitet er mit Verweigerungen: "Als Delphine endlich zurückkam, sagte er, sie müßten aufpassen, sich nicht ineinander zu verlieben."
Das Verschwommene, Diffuse, Ungefähre, das es Peter Stamm schon in früheren Werken, vom Debütroman "Agnes" (1998) über den Kurzgeschichtenband "Blitzeis" (1999) bis hin zu "In fremden Gärten" (2005), angetan hat, wird meisterlich beschworen. Andreas reflektiert die eigene Unbeteiligtheit mit schulterzuckender Klarheit: "Sein Leben war eine endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigaretten und Mahlzeiten, Kinobesuchen, Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihm im Grund nichts bedeuteten, unzusammenhängende Listen kleiner Ereignisse. Irgendwann hatte er es aufgegeben, dem Ganzen eine Form geben zu wollen, eine Form darin zu suchen."
Peter Stamm unternimmt das genaue Gegenteil. Der Teilnahmslosigkeit seines Protagonisten und des lakonischen, kunstvoll schlichten Erzähltons, der impassibilité stehen ein unbedingter Formwille und ein Stilbewußtsein gegenüber, die in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen suchen. Während Andreas seit Jahren auf einem Fleck verharrt, bewegt sich der Roman unaufhörlich vorwärts und nimmt den Leser mühelos mit. Diese Dynamik, in der ständig, doch unaufdringlich Entfernungen zwischen Menschen, Orten und Gegenständen vermessen werden, trägt dazu bei, daß man den Roman nicht aus der Hand legen kann, obwohl er uns Andreas' Interpretation der Ereignisse und damit jede Dramatik konsequent vorenthält.
Peter Stamm hat mit seinem wenig sympathischen Protagonisten, der keinerlei Überheblichkeit in seine Unbelebtheit legt, einen Nachfahren von Albert Camus' "Fremdem" Meursault geschaffen. Andreas steht als Mittvierziger mit emotionalem Totalschaden stellvertretend für eine Befindlichkeit, die sich nicht einmal aus sich selbst etwas macht - und bei der es sich keineswegs nur um eine wohlfeile literarische Erfindung oder gar Einbildung handelt. Stamm führt die Teilnahmslosigkeit einer Generation vor, der auch ohne einschneidende Erfahrungen der Sinn abhanden gekommen scheint - ohne sie damit zu denunzieren. Als Leserin kann man sich indes eines gewissen Widerwillens, ja einer Genervtheit angesichts dieser gebündelten Mattigkeit nicht erwehren. Daß ausgerechnet dieser Mann ohne Eigenschaften, der ohne jedes innere Engagement misantrophisch vor sich hin vegetiert, das Erregungspotential besitzen soll, dauernd mit irgendwelchen Frauen zu schlafen, die er nicht einmal begehrt, nimmt man ihm nicht recht ab.
Die Reise in die Schweiz führt Andreas zu Fabienne, die er noch immer zu lieben meint, obwohl sie ihm fremd geworden ist. Das Wiedersehen besiegelt den endgültigen Abschied von einer längst verlorenen Leidenschaft. "Er wollte nicht mehr so lieben wie mit zwanzig, aber manchmal vermißte er die Intensität der Gefühle von damals. Und jene Momente, in denen plötzlich alles vorbei war, dieses Gefühl volllkommener Bedeutungslosigkeit und zugleich größter Freiheit . . . Er konnte sich an das Gefühl erinnern, aber er empfand es nicht mehr." Passagen wie diese zählen in ihrer Trostlosigkeit zu den besten des Romans. Doch Peter Stamm hat keine Ode auf die Gleichgültigkeit geschrieben. Andreas besucht das Grab seiner Eltern, das demnächst aufgehoben werden soll. Und hier, als der todkranke Sohn mit seinem Bruder am Grab der Eltern steht, schließt sich ein Kreis. Als der ahnungslose Bruder zum Abschied sagt, das nächste Mal müsse er etwas länger bleiben, nimmt das Leben den verlorenen Faden wieder auf. "Plötzlich glaubte Andreas daran, daß es ein nächstes Mal geben würde." Und als er kurz darauf am Steuer eindöst und nur knapp einem Unfall entgeht, schlägt sein Herz heftig - Indiz dafür, daß er doch mehr sein will als "ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft".
Camus' "Fremder", Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale" und Georges Perec, dessen "Ein Mann der schläft" der Roman viel mehr als nur den Titel verdankt, haben Pate gestanden und dieser bisweilen fast heiteren Langeweile, diesem "Leben ohne alles" den Ton vorgegeben. Aber nicht nur die französische Literatur und die Zurückgenommenheit des nouveau roman, sondern auch das Kino eines Eric Rohmer hat hingetupfte Spuren hinterlassen. Wer etwa kürzlich Francois Ozons Film "Die Zeit, die bleibt", das Porträt eines Sterbenden, gesehen hat, fühlt sich zumal am Ende des Romans auf geradezu unheimliche Weise daran erinnert: Wie Ozons Romain findet sich auch Andreas an einem bevölkerten Strand wieder, legt sich in den Sand und entfernt sich vom Menschsein. Daß er noch einmal aufwachen darf und an jenem Strand mit Delphine ein Gefühl wiederfindet, kann man, je nach Temperament und Lesart, als Aufbruchsignal deuten - oder als letzten Versuch eines Mannes, der zu sterben beschlossen hat, sich mit einem Leben zu versöhnen, das nie zu ihm zu gehören schien.
Karl Kraus fand, das Leben sei eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre. Mit Peter Stamm möchte man ergänzen: Des Schreibens zum Beispiel. Stamm hat das Porträt eines Lebensvermeiders geschrieben, mit dessen Lektüre man sich das eigene Leben kurzfristig vom Hals halten kann. Doch man mache sich nichts vor: "An einem Tag wie diesem" ist ein leicht zu lesender, doch schwer zu verkraftender Roman. Man sollte ihn lesen. Noch heute.
Peter Stamm: "An einem Tag wie diesem". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 205 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schon lange hat Andreas das Gefühl, den entscheidenden Augenblick verpaßt zu haben, an dem er die Weichen anders hätte stellen können. Genauer gesagt: seit er sich vor zwanzig Jahren in Fabienne verliebte, die als französische Austauschschülerin in seine Schweizer Dorfheimat kam, und seinen - angeborenen? anerzogenen? antrainierten? - Gleichmut sprengte. Ein flüchtiger Kuß, dann verliebte sie sich in seinen Freund Manuel, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. Andreas, der ihr seine Gefühle nie gestanden hat, warf sich statt Fabienne deren Heimat Frankreich an den Hals, zog nach Paris, wurde Lehrer, hat parallel Affären mit zwei Frauen, ohne auch nur eine davon zu mögen oder selbst von einer der beiden besonders gemocht zu werden. Er fühlt sich haltlos, aber nicht unbehaglich, wenngleich ihm die eigene Unbestimmheit immerzu bewußt ist. Selbst die Liebe zu Fabienne, die einzige Konstante in seinem Leben, stellt er infrage, wenn er vermutet, daß ihm "die Bedingungslosigkeit jenes Gefühls, das ihn noch zwanzig Jahre später ratlos machte", wichtiger ist als Fabienne selbst.
Als ihm die vierundzwanzigjährige Delphine begegnet, die sich seiner nicht nur erotisch, sondern auch kameradschaftlich umstandslos annimmt, und ihm zur selben Zeit die Diagnose Krebs gestellt wird - und damit eine existentielle Bedrohung ausgesprochen wird, die seine Apathie bereits vorweggenommen hat -, macht sich Andreas auf den Weg in die Vergangenheit - mit der undeutlichen Vorstellung, die ehemals verpaßte Weiche im Nachhinein umstellen zu können. Daß er aufgewühlt ist, Schmerz empfindet oder Verzweiflung oder gar Angst, ahnt man nur, weil er die Menschen in seiner Umgebung sinnlos vor den Kopf stößt und verletzt. Seinen Bettgefährtinnen erteilt er rüde Abfuhren. Sodann versucht er, mit der Frau eines befreundeten Kollegen zu schlafen; anschließend demütigt er ihren Mann, indem er ihm erzählt, Delphine halte ihn für einen Idioten. Delphine wiederum fordert er mitten in der Nacht auf, nach Hause zu gehen. Mit anderen Worten: Er stellt seine Gleichgültigkeit so aggressiv zur Schau, daß es etwas Beleidigendes hat. Delphine, die sich von seinen Distanzierungsattacken wenig beeindruckt zeigt, weiht er immerhin als einzige in die ärztlichen Untersuchungen ein; die Ergebnisse jedoch verhehlt er ihr, behauptet sogar, es sei alles in Ordnung. Als er sich mit dem klapprigen 2 CV - den er offenbar gekauft hat, weil Manuel, Fabienne und er damals, in jenem magisch gefühlten Sommer, in einem 2 CV zum Weiher gefahren sind - auf den Weg in die Schweiz macht, nimmt Andreas Delphine mit. Doch selbst diese Liebesgeschichte bestreitet er mit Verweigerungen: "Als Delphine endlich zurückkam, sagte er, sie müßten aufpassen, sich nicht ineinander zu verlieben."
Das Verschwommene, Diffuse, Ungefähre, das es Peter Stamm schon in früheren Werken, vom Debütroman "Agnes" (1998) über den Kurzgeschichtenband "Blitzeis" (1999) bis hin zu "In fremden Gärten" (2005), angetan hat, wird meisterlich beschworen. Andreas reflektiert die eigene Unbeteiligtheit mit schulterzuckender Klarheit: "Sein Leben war eine endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigaretten und Mahlzeiten, Kinobesuchen, Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihm im Grund nichts bedeuteten, unzusammenhängende Listen kleiner Ereignisse. Irgendwann hatte er es aufgegeben, dem Ganzen eine Form geben zu wollen, eine Form darin zu suchen."
Peter Stamm unternimmt das genaue Gegenteil. Der Teilnahmslosigkeit seines Protagonisten und des lakonischen, kunstvoll schlichten Erzähltons, der impassibilité stehen ein unbedingter Formwille und ein Stilbewußtsein gegenüber, die in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen suchen. Während Andreas seit Jahren auf einem Fleck verharrt, bewegt sich der Roman unaufhörlich vorwärts und nimmt den Leser mühelos mit. Diese Dynamik, in der ständig, doch unaufdringlich Entfernungen zwischen Menschen, Orten und Gegenständen vermessen werden, trägt dazu bei, daß man den Roman nicht aus der Hand legen kann, obwohl er uns Andreas' Interpretation der Ereignisse und damit jede Dramatik konsequent vorenthält.
Peter Stamm hat mit seinem wenig sympathischen Protagonisten, der keinerlei Überheblichkeit in seine Unbelebtheit legt, einen Nachfahren von Albert Camus' "Fremdem" Meursault geschaffen. Andreas steht als Mittvierziger mit emotionalem Totalschaden stellvertretend für eine Befindlichkeit, die sich nicht einmal aus sich selbst etwas macht - und bei der es sich keineswegs nur um eine wohlfeile literarische Erfindung oder gar Einbildung handelt. Stamm führt die Teilnahmslosigkeit einer Generation vor, der auch ohne einschneidende Erfahrungen der Sinn abhanden gekommen scheint - ohne sie damit zu denunzieren. Als Leserin kann man sich indes eines gewissen Widerwillens, ja einer Genervtheit angesichts dieser gebündelten Mattigkeit nicht erwehren. Daß ausgerechnet dieser Mann ohne Eigenschaften, der ohne jedes innere Engagement misantrophisch vor sich hin vegetiert, das Erregungspotential besitzen soll, dauernd mit irgendwelchen Frauen zu schlafen, die er nicht einmal begehrt, nimmt man ihm nicht recht ab.
Die Reise in die Schweiz führt Andreas zu Fabienne, die er noch immer zu lieben meint, obwohl sie ihm fremd geworden ist. Das Wiedersehen besiegelt den endgültigen Abschied von einer längst verlorenen Leidenschaft. "Er wollte nicht mehr so lieben wie mit zwanzig, aber manchmal vermißte er die Intensität der Gefühle von damals. Und jene Momente, in denen plötzlich alles vorbei war, dieses Gefühl volllkommener Bedeutungslosigkeit und zugleich größter Freiheit . . . Er konnte sich an das Gefühl erinnern, aber er empfand es nicht mehr." Passagen wie diese zählen in ihrer Trostlosigkeit zu den besten des Romans. Doch Peter Stamm hat keine Ode auf die Gleichgültigkeit geschrieben. Andreas besucht das Grab seiner Eltern, das demnächst aufgehoben werden soll. Und hier, als der todkranke Sohn mit seinem Bruder am Grab der Eltern steht, schließt sich ein Kreis. Als der ahnungslose Bruder zum Abschied sagt, das nächste Mal müsse er etwas länger bleiben, nimmt das Leben den verlorenen Faden wieder auf. "Plötzlich glaubte Andreas daran, daß es ein nächstes Mal geben würde." Und als er kurz darauf am Steuer eindöst und nur knapp einem Unfall entgeht, schlägt sein Herz heftig - Indiz dafür, daß er doch mehr sein will als "ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft".
Camus' "Fremder", Gustave Flauberts "L'Éducation sentimentale" und Georges Perec, dessen "Ein Mann der schläft" der Roman viel mehr als nur den Titel verdankt, haben Pate gestanden und dieser bisweilen fast heiteren Langeweile, diesem "Leben ohne alles" den Ton vorgegeben. Aber nicht nur die französische Literatur und die Zurückgenommenheit des nouveau roman, sondern auch das Kino eines Eric Rohmer hat hingetupfte Spuren hinterlassen. Wer etwa kürzlich Francois Ozons Film "Die Zeit, die bleibt", das Porträt eines Sterbenden, gesehen hat, fühlt sich zumal am Ende des Romans auf geradezu unheimliche Weise daran erinnert: Wie Ozons Romain findet sich auch Andreas an einem bevölkerten Strand wieder, legt sich in den Sand und entfernt sich vom Menschsein. Daß er noch einmal aufwachen darf und an jenem Strand mit Delphine ein Gefühl wiederfindet, kann man, je nach Temperament und Lesart, als Aufbruchsignal deuten - oder als letzten Versuch eines Mannes, der zu sterben beschlossen hat, sich mit einem Leben zu versöhnen, das nie zu ihm zu gehören schien.
Karl Kraus fand, das Leben sei eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre. Mit Peter Stamm möchte man ergänzen: Des Schreibens zum Beispiel. Stamm hat das Porträt eines Lebensvermeiders geschrieben, mit dessen Lektüre man sich das eigene Leben kurzfristig vom Hals halten kann. Doch man mache sich nichts vor: "An einem Tag wie diesem" ist ein leicht zu lesender, doch schwer zu verkraftender Roman. Man sollte ihn lesen. Noch heute.
Peter Stamm: "An einem Tag wie diesem". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 205 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Noch nie hat Peter Stamm "so erregend aus der Mitte der Existenz heraus erzählt", schreibt Rezensent Roman Bucheli. Dabei steht zumindest das Ende aus seiner Sicht zunächst "unter dringendem Kitschverdacht". Trotzdem erkennt der Rezensent in der Szenerie - mit Sonnenuntergang und Meeresrauschen, Kuss und schemenhafter Umarmung - "eine innere Folgerichtigkeit". Nur noch die Silhouette bleibt von einem Mann, der für den Rezensenten einen bestimmten Menschentypus darstellt. Kraflos, kinderlos, blass, von "leisem Ennui" gezeichnet. Es geht, wie wir lesen, um einen Mann Anfang Vierzig, dem eine drohende Krebserkrankung plötzlich eine tiefe Lebensintensität aufzwingt. Stamms Erzählduktus beschreibt der Rezensent als einfach, sein Spiel mit dem Protagonisten als sehr durchtrieben. Insgesamt kniet der Rezensent vor der "sinnlichen Fülle" und der "erzählerischen Prägnanz" dieser Prosa und der Geschichte eines Mann, der es verlernt hat, ein "authentisches" Leben zu führen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Gebundenes Buch
Der Mann ohne Leidenschaften
Mit seinem 2006 erschienenen dritten Roman «An einem Tag wie diesem» hat der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm ein Werk geschaffen, das Kritiker und Leser mit seiner stilistisch zurück genommenen, verhaltenen Erzählweise ziemlich irritiert …
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Der Mann ohne Leidenschaften
Mit seinem 2006 erschienenen dritten Roman «An einem Tag wie diesem» hat der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm ein Werk geschaffen, das Kritiker und Leser mit seiner stilistisch zurück genommenen, verhaltenen Erzählweise ziemlich irritiert hat. Diese sprachliche Reduktion diene dazu, hat der Autor erklärt, die narrativ heraufbeschworenen Bilder realer erscheinen zu lassen, aber auch der Inhalt einer Geschichte dürfe keinesfalls von deren erzählerischer Qualität ablenken. Wirklich?
Andreas, aus einem Schweizer Dorf stammend, ein Junggeselle Anfang vierzig, der seit achtzehn Jahren in Paris als Deutschlehrer arbeitet, ist der Protagonist dieser Geschichte. Die Freude an seinem Beruf hat er allmählich verloren, Paris ist ihm fremd geblieben, er ist bindungsunfähig, äußerst genügsam und lebt so vor sich hin, ein monotones, ereignisarmes, zielloses Leben. Seine zwei Geliebten trifft er regelmäßig jeweils an einem Jour fixe, wobei diese Beziehungen rein sexueller Natur sind, er behandelt die Frauen recht lieblos. Als sein Arzt mit ihm über das Untersuchungsergebnis einer Gewebeprobe sprechen will, verlässt er kurz entschlossen das Wartezimmer. Der starke Raucher fürchtet sich vor der Diagnose, er beschließt resigniert eine Zäsur, will aus seinem bisherigen Leben ausbrechen. Spontan kündigt er in seiner Schule, löst seinen Haushalt auf, verkauft seine kleine Eigentumswohnung, - vom Erlös wird er einige Jahre lang leben können. Und er legt sich einen alten Citroen 2CV zu, das Auto seiner Jugendtage. Als er im Lehrerzimmer seine Sachen zusammenpackt, lernt er die junge Praktikantin Delphine kennen, die sich spontan in ihn verliebt und ihn auf seiner geplanten Autotour begleiten will. Was folgt ist eine Reise in die Vergangenheit, magisch nämlich zieht es Andreas zu jenem Dorf hin, in dem er geboren wurde und wo seine Jugendliebe Fabienne immer noch lebt. Er hat ihr seine Liebe nie gestanden, und sie hat später dann seinen Freund geheiratet.
Trotz der minimalistischen Erzählweise mit kurzen Hauptsätzen, adjektivarm, metaphernlos, uninspiriert, zieht die Geschichte ihre Leser mit, kommt trotz aller Vorhersehbarkeit so etwas wie Spannung auf, man will wissen, wo dieser Selbstfindungstrip letztendlich hinführen soll. Über dem Geschehen liegt eine apathische Stimmung, alles was geschieht ist belanglos und undramatisch. Der Held bleibt dem Leser im besten Falle gleichgültig in seiner emotionslosen Lethargie, die er selbst als Bescheidenheit bezeichnet, er ist und bleibt Unsympath bis zum eher kitschigen Ende. Völlig unplausibel aber ist, wie denn ein derart blutleerer Typ, teilnahmslos, ohne erkennbare Leidenschaft oder gar sexuelle Gier, die Frauen so scheinbar mühelos erobern kann. Selbst seine Traumfrau Fabienne lässt sich mal eben zwischendurch auf einer hölzernen Aussichtsplattform von ihm vernaschen, - das erste und das letzte Mal zugleich, ihre Ehe steht nicht zur Disposition, sie ist glücklich verheiratet. Und Delphine, die er ungerührt fortgeschickt hat, lächelt ihn beim kinoartigen Showdown mit Sonnenuntergang am Meer glücklich an, als er, ihr nachreisend, sie auf einem Campingplatz wieder findet, - und auch seinen Arzt will er nun endlich mal anrufen!
Sinnverlust, Burnout, Midlifecrisis, die Panik vor einem unerfüllten oder gar ungelebten Leben ist zweifellos ein ergiebiges und hoch interessantes literarisches Thema. So ist dem Roman denn auch ein Zitat von Georges Perec vorangestellt: «Es ist ein Tag wie dieser hier, ein wenig später, ein wenig früher, an dem alles neu beginnt, an dem alles beginnt, an dem alles weitergeht». Ein berühmter Lebensverweigerer in der Literatur ist auch der Ulrich in Musils Roman «Der Mann ohne Eigenschaften», wo der Held an der schieren Überfülle von Möglichkeiten scheitert. Leidenschaft allerdings, die in Peter Stamms Roman nicht mal ansatzweise vorkommt, kann man dem Ulrich nicht absprechen, seine Liebe zur Schwester gipfelt schließlich im Inzest.
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Seit 18 Jahren lebt der Schweizer Andreas als Lehrer in Paris, ein Tag so unspektakulär wie der andere. Seit er die Chance vertan hat, sich seiner Jugendliebe Fabienne zu offenbaren, nimmt er das Leben wie es kommt und verschwendet keine Energien darauf, den Ablauf seines Daseins zu …
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Seit 18 Jahren lebt der Schweizer Andreas als Lehrer in Paris, ein Tag so unspektakulär wie der andere. Seit er die Chance vertan hat, sich seiner Jugendliebe Fabienne zu offenbaren, nimmt er das Leben wie es kommt und verschwendet keine Energien darauf, den Ablauf seines Daseins zu verändern oder Beziehungen zu vertiefen. Nichts berührt ihn wirklich, seine Freundschafts- wie auch Liebesverhältnisse und die Verbindungen zu seiner Familie bleiben oberflächlich, als ob mit der Nichterfüllung seiner Liebe zu Fabienne jegliches Interesse an Anderen erloschen sei. Erst als der Verdacht entsteht, er habe eine ernsthafte Krankheit, beschließt er aus dieser Monotonie seines Lebens auszubrechen.
Obwohl ich das Buch gerne gelesen habe, fällt es mir nicht leicht, es Anderen zu empfehlen. Die Handlung ist weder übermäßig spannend geschweige denn humorvoll, der Protagonist dröge und eher langweilig - weshalb sollte man es dann lesen? Vielleicht weil es ein Abbild des wahren Lebens ist, gerade in dieser Gleichförmigkeit, wo sich kaum ein Tag vom anderen unterscheidet. Doch letzten Endes liegt es nur an einem selbst, dies zu ändern. Andreas' Krankheit veranlasst ihn dazu: Statt in seinen Träumen weiter zu verharren und den verpassten Chancen nachzutrauern, ergreift er selbst die Initiative und erkennt, dass die Träume nur wenig bis nichts mit der Realität zu tun haben. Das echte Leben befindet sich genau vor ihm, er muss nur den Schritt hineinmachen.
Ein Buch, das weniger Unterhaltung bietet als Stoff zum Nachdenken.
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