Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt in diesem Jahr hat sein langjähriger Weggefährte und Mitarbeiter Egon Bahr seine Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre mit diesem großen deutschen Kanzler aufgeschrieben. Dabei begann ihre tiefe Freundschaft mit einem Missverständnis. Im Februar 1960 war Egon
Bahr seit kurzer Zeit der Pressesprecher des Berliner Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt. Endlich…mehrZum 100. Geburtstag von Willy Brandt in diesem Jahr hat sein langjähriger Weggefährte und Mitarbeiter Egon Bahr seine Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre mit diesem großen deutschen Kanzler aufgeschrieben. Dabei begann ihre tiefe Freundschaft mit einem Missverständnis. Im Februar 1960 war Egon Bahr seit kurzer Zeit der Pressesprecher des Berliner Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt. Endlich ergab sich an einem Abend die Zeit für ein persönliches Gespräch. Bahr will sich vorstellen und sagt: „Eigentlich kennen wir uns noch gar nicht.“ Aber Willy Brandts Gesichtszüge erstarren bei diesen Worten. Egon Bahr schreibt dazu, Brandt habe offenbar das Gefühl gehabt, er wolle ihm zu nahe treten. Brandt war demnach ein Mensch, der angesichts seines Lebenslaufs überaus empfindlich.
Bahr schildert in seinem Buch, dass man Brandt nur näher kommen konnte, wenn man ihm tatsächlich nicht zu nahe kommen wollte. Die Freundschaft der beiden Sozialdemokraten kam ohne große Worte aus. 14 Jahre lang arbeiteten sie eng zusammen. Der populäre Politiker im hellen Rampenlicht und sein diskreter Stratege im Hintergrund.
Ihr gemeinsames Schlüsselerlebnis war der Bau der Mauer um Westberlin. Fortan hatten sie großes Vertrauen zueinander, so wird es von Bahr geschildert. Und eine gemeinsame historische Mission – sie wollten beide die Teilung Deutschlands überwinden. Als Brandt später Bundeskanzler wird, hat Egon Bahr viele Aspekte der künftigen Ostpolitik bereits konkret formuliert und ausgearbeitet. Jetzt werden sie gemeinsam umgesetzt. Bahr ist dabei der Unterhändler in Osteuropa – und der Kanzler lässt ihm freie Hand.
Bahr ist dabei, als Brandt Geschichte schreibt. So besucht der Bundeskanzler als erster westlicher Regierungschef den sowjetischen Parteichef Leonid Breshnew. Im Dezember 1970 reisen Brandt und Bahr nach Polen, wo Willy Brandt das ehemalige Warschauer Ghetto besucht. Es kommt zum historischen Kniefall – Bahr bewundert seinen Freund für diese Geste.
Der Wiederwahl von 1972, mit dem besten Ergebnis, das die SPD bis heute bei Bundestagswahlen erzielt hat, folgt der schnelle Niedergang. Die Anstrengungen der Kanzlerschaft haben enorme Kraft gekostet. Brandt ist verletzlicher geworden, und als der DDR-Spion Guillaume verhaftet wird, tritt er als Bundeskanzler zurück. Egon Bahr berichtet, dass er Brandt zum Rücktritt geraten habe, weil er nicht wollte, dass sein Freund weiter beschädigt wird. Kurz vor Brandts Tod viele Jahre später sehen sie sich ein letztes Mal - ihre tiefe Freundschaft bleibt bis zuletzt ohne große Worte.
Ein überaus lesenswertes Buch, nicht nur für zeitgeschichtlich interessierte. Es bietet tiefe Einblicke in das Denken und Handeln dieser beiden Architekten der deutschen Ostpolitik.