“Sie haben mir von dem Zauberglas erzählt, das kleine Dinge groß macht. Ein Stäubchen, sagten Sie mir, kann so groß gemacht werden wie eine Wüste, und wenn man das Stäubchen versteht, dann ist einem auch die Wüste bekannt. Dieses Haus ist das Stäubchen, aus dem ich alles verstehe. Innerhalb dieser
Wände ist die Gesamtheit des Lebens.”
Auf manche Bücher stößt man auf wunderbare Weise. Jedes Jahr…mehr“Sie haben mir von dem Zauberglas erzählt, das kleine Dinge groß macht. Ein Stäubchen, sagten Sie mir, kann so groß gemacht werden wie eine Wüste, und wenn man das Stäubchen versteht, dann ist einem auch die Wüste bekannt. Dieses Haus ist das Stäubchen, aus dem ich alles verstehe. Innerhalb dieser Wände ist die Gesamtheit des Lebens.”
Auf manche Bücher stößt man auf wunderbare Weise. Jedes Jahr im Dezember tausche ich mit einer ehemaligen Nachbarin Weihnachtsgrüße per Post. Wir schreiben, neben den üblichen Wünschen für ein frohes Fest, einige Bücher auf die wir in den abgelaufenen zwölf Monaten gelesen und die uns besonders gefallen haben. In diesem Jahr standen in der Karte die ich erhielt zwei Bücher von Pearl S. Buck: “Die gute Erde” und “Die Frauen des Hauses Wu”.
Zu Weihnachten bekam ich dann nicht (wie erhofft) Bücher von Alice Munro, sondern einen Gutschein unseres örtlichen Buchladens, den ich nach den Feiertagen sofort einlösen ging, um mir die gewünschten Bücher zu kaufen. Was ich jedoch als erstes fand, war eben jenes Buch über die “Frauen des Hauses Wu” von Pearl S. Buck. Zufall oder Fügung? Nach der Lektüre bin ich letzterem zugeneigt.
Madame Wu feiert ihren 40. Geburtstag. Als weibliches Familienoberhaupt einer reichen und mächtigen Kaufmannsdynastie genießt sie höchsten Respekt und großen Einfluss. Dennoch entschließt sie sich zu einem drastischen Schritt, der ihre Stellung zu gefährden droht. Sie führt ihrem Mann eine Zweitfrau zu. Obwohl sorgsam geplant und umgesetzt, wird die Harmonie in der Familie empfindlich gestört. Madame Wu sieht sich mit vielfältigen Problemen konfrontiert, die nicht nur ihren Mann, ihre Söhne und deren Ehefrauen betreffen, sondern auch die junge Frau, die sie ihrem Mann zugedacht hat.
Pearl S. Buck hat ihren Weltruhm als Schriftstellerin mit ihrem Roman “Die gute Erde” begründet, für den Sie Anfang der 1930er Jahre des Pulitzerpreis erhielt. 1938 wurde Sie überdies, als zweite Frau überhaupt, mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. “Die Frauen des Hauses Wu” ist ein späteres Werk als “Die gute Erde”. Die Erstveröffentlichung datiert aus dem Jahr 1946. Madame Wu ist die zentrale Figur, um die sich alles dreht. Sachlich und nüchtern trifft sie weitreichende Entscheidungen, die mir als “westlicher” Leserin eines anderen Jahrhunderts zunächst gefühllos erschienen. Die Ruhe und Besonnenheit die jeder Handlung zugrunde lagen und Bucks eingängiger Stil weckten in mir aber bald Verständnis. Zum einen für die Kultur Chinas und ihre historischen Aspekte, zum andern für die Entwicklung in Chinas Gesellschaft in Bezug auf die Rolle der Frau.
Für chinesische Frauen der Oberschicht war es zu jener Zeit nicht schicklich jenseits der vierzig noch schwanger zu werden. Madame Wus Entscheidung ist also nichts anderes, als eine Art der Verhütung. Das ihr dies gefühlsmäßig nicht nahegeht, liegt daran, dass sie ihren Mann nie geliebt hat. Sie ist mit ihm verheiratet worden und war ihm eine gute Ehefrau. Nun will sie den Rest ihres Lebens damit zubringen, ihren Geist und ihre Seele zu sammeln. “Ich will meinen Körper sorgsam pflegen, nicht dass er noch einem Mann gefalle, sondern weil er mich beherbergt.“
Ihr unbeabsichtigter Egoismus zerstört das Familiengefüge. Chiumang, die neue Frau, kann die Erwartungen nicht erfüllen und versucht sich umzubringen. Die Söhne und Schwiegertöchter rebellieren, der Ehemann sucht Befriedigung bei einer Prostituierten. Erst als mit dem italienischen Priester André ein Lehrmeister für ihren Sohn ins Haus kommt, der auch Madame Wu unterrichtet, ändert sich alles. Das eingangs erwähnte “Zauberglas” sind die Lehrstunden bei ihm. Die philosophischen Gespräche die Buck den beiden in den Mund legt, sind die oben zitierten “Staubkörnchen“.
Das besondere dieses Buches ist jedoch die Weisheit, die aus jedem Satz spricht. Madame Wu wächst durch die Liebe zu André über sich hinaus. Pearl S. Buck hat diese Entwicklung verewigt.