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Die ironische und brillante Analyse eines Menschen, der am alltäglichen Dasein verzweifelt.
»Ein schrecklich guter Krisenroman.« Focus
Der Arbeitsmarkt kennt keine Gnade, erst recht nicht für promovierte Philosophen. Daher nimmt Gerhard Warlich einen Job in einer Großwäscherei an und richtet sich ein in seiner wenig aufregenden, aber sicheren Existenz. Doch als sich seine Freundin Traudel ein Kind wünscht, gerät Warlich, der am liebsten nur halbtags leben möchte, völlig aus dem Tritt. Genazino erzählt diese Geschichte eines traurigen Helden, eines an Details leidenden…mehr

Produktbeschreibung
Die ironische und brillante Analyse eines Menschen, der am alltäglichen Dasein verzweifelt.
»Ein schrecklich guter Krisenroman.« Focus

Der Arbeitsmarkt kennt keine Gnade, erst recht nicht für promovierte Philosophen. Daher nimmt Gerhard Warlich einen Job in einer Großwäscherei an und richtet sich ein in seiner wenig aufregenden, aber sicheren Existenz. Doch als sich seine Freundin Traudel ein Kind wünscht, gerät Warlich, der am liebsten nur halbtags leben möchte, völlig aus dem Tritt. Genazino erzählt diese Geschichte eines traurigen Helden, eines an Details leidenden Alltagsmelancholikers, und seiner viel weniger traurigen Freundin mit verblüffender Lakonie.
Autorenporträt
Wilhelm Genazino (1943-2018) wurde in Mannheim geboren, arbeitete zunächst als Journalist, später als Redakteur und Hörspielautor. Als Romanautor wurde er 1977 mit seiner ¿Abschaffel¿-Trilogie bekannt und gehörte seither zu den wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem erhielt er 1998 den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 2004 den Georg-Büchner-Preis. 2007 wurde er mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet, 2010 mit dem Rinke-Sprachpreis. 2011 wurde Genazino in die Akademie der Künste gewählt. 2013 erhielt er den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, 2014 den Samuel-Bogumil-Linde-Preis für sein literarisches Werk.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2009

In den Sommer mit Büchern von zu Hause

Sie wollen Buchtipps für die Ferien? Die Gegend, in der Sie leben, hält sie für Sie bereit. An Rhein und Main wohnen Schriftsteller, deren Bücher zum Urlaub passen, hier sind aber auch Literaturpreise zu haben, die Jahr für Jahr bedeutende Autoren nach Darmstadt oder Frankfurt locken. Sie alle haben uns in diesem Sommer das eine oder andere zu sagen.

Von Florian Balke

F. C. Delius:

Die Frau, für die ich den Computer erfand

In seinem neuen Roman, den Friedrich Christian Delius während seiner Zeit als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim beendet hat, geht es um hohe und gewichtige Dinge: um die Erfindung des Computers und eine große Liebe. Aber Delius wäre nicht er selbst, wenn das Hohe nicht ausgesprochen geerdet daherkäme. Eine ganze Nacht lang erzählt ein alter Mann, dessen Lebenslauf dem des deutschen Ingenieurs Konrad Zuse folgt, einem Journalisten von seiner Rolle bei der Erfindung des Computers. Und von seiner tiefen Zuneigung zu Lord Byrons Tochter Ada Lovelace, die sich schon im 19. Jahrhundert mit dem Bau einer Rechenmaschine herumschlug. Herausgekommen ist ein wundervoller Monolog, der den Leser voller Tempo durch Geschichte und Technik führt und dabei einige kluge Bemerkungen zur Logik, zum Erfinden und zur Kunst zu machen hat. Zu kaufen gibt es das Buch erst nach dem 17. Juli, aber Fans aus dem Rhein-Main-Gebiet haben Glück. Am Tag, an dem der Roman herauskommt, stellt Delius ihn in Frankfurt vor - am 17. Juli um 20 Uhr in der Berger Nikolauskapelle, Marktstraße 56.

Friedrich Christian Delius, "Die Frau, für die ich den Computer erfand", Rowohlt Berlin, Hamburg 2009, 288 S., geb., 19,90 Euro.

Eva Demski:

Gartengeschichten

Als Sommerlektüre braucht dieses Buch über Freud und Leid des Gärtnerns keine besondere Fürsprache mehr. Leser, die die Geschichten, die neben der Kultivierung von Pflanzen auch von der Hege und Pflege des Lebens handeln, noch nicht gekauft, weiterempfohlen oder verschenkt haben, dürfen sich freuen, weil man sie auf den Erfolgstitel der Frankfurter Schriftstellerin noch hinweisen kann. Ein Buch aus kleinen Leseportionen, das die meisten in einem Rutsch lesen.

Eva Demski, "Gartengeschichten", Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009, 234 S., geb., 19,80 Euro.

Claudio Magris:

Ein Nilpferd in Lund

Ja, es wirkt alles ein wenig abgestanden, was der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels in diesem Band an Reisebeobachtungen versammelt. Viele der Texte stammen aus den späten achtziger und frühen neunziger Jahren, als Europa den Kalten Krieg abschüttelte und Claudio Magris ihm seine habsburgische Mitte und das wieder in den Blick des Westens rückende Osteuropa erklärte. Dafür, dass seitdem andere Weltgegenden wichtiger geworden sind, kann allerdings Osteuropa nichts, und viel von dem, was Magris dort gesehen und gedacht hat, ist noch immer gültig. So wie die Formulierung, zwischen den mechanischen Musikinstrumenten des Grafen Gerersdorfer in Zagreb begreife man, wie unsinnig es sei, "in der Technik das Ende der Poesie zu sehen". Daran sollten Sie am Strand denken, wenn das Radio aus der Sandburg nebenan zu Ihnen herüberplärrt. Und von einer Iran-Reise des Jahres 2004 bringt Magris ein Zitat mit, das die Lage vor und nach der gefälschten Präsidentenwahl dieses Jahres bündig zusammenfasst: "Du kannst tun, was du willst, aber sie können mit dir machen, was sie wollen." Insofern kann man sich mit der Tatsache, dass Magris im Oktober in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis erhält, fast schon wieder aussöhnen.

Claudio Magris, "Ein Nilpferd in Lund - Reisebilder", Carl Hanser Verlag, München 2009, 224 S., geb., 17,80 Euro.

Walter Kappacher:

Selina oder das andere Leben

Hand aufs Herz: Als die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt mitteilte, den diesjährigen Büchner-Preis erhalte Walter Kappacher, was haben Sie da getan? Einen Sekt aufgemacht, weil er ihn endlich bekommen hat, oder Ihrer Umgebung verschwiegen, dass Sie nicht wussten, wer Kappacher war? Eben. So wie Ihnen ging es vielen, aber bis Herbst ist genügend Zeit, Ihre Unwissenheit zu korrigieren. Zum Beispiel mit der Lektüre von "Selina oder das andere Leben". Nach diesem Roman werden Sie mit dem Büchner-Preisträger dieses Herbstes völlig einverstanden sein. Obwohl er seine Leser an der Nase herumführt: "Selina" tut so, als sei das andere Leben des Titels nur das gute Leben, das Stefan, ein österreichischer Lehrer, zwei Sommer lang in der Renovierung eines verfallenen Bauernhauses in der Toskana erhaschen will. Dabei geht es, während der Leser noch in dieser Illusion befangen ist, schon lange um viel mehr - um den Tod und die Vergänglichkeit, das aber so ruhevoll, gelassen und klar, dass der Roman trotz dieser Wendung in vielerlei Hinsicht der perfekte Ferienroman ist.

Walter Kappacher, "Selina oder das andere Leben", Deuticke, München 2005, 254 S., geb., 19,90 Euro.

Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten

Wenn Sie diesen Genazino mit in den ersehnten Urlaub nehmen, wissen Sie, dass das Buch auf Ihrer Seite ist: "Ausgepumpte, fast reglos in ihren Stühlen liegende Menschen empfinde ich als besonders schön", heißt es gleich in den ersten Zeilen. Geben Sie sich dieser Schönheit hin - in den Strandkörben an der Ostsee oder den Liegestühlen von Sossenheim. Sie tun auf diese Weise etwas für Ihren Smalltalk nach der Rückkehr aus den Ferien. Schließlich kann es gut sein, dass Ihnen das Buch im August auf der Longlist oder im September auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises wiederbegegnet. Wenn der Preis zum Auftakt der Buchmesse im Frankfurter Römer vergeben wird, wissen Sie, wovon die Rede ist. Außerdem bilden Sie durch die Lektüre dieses Romans Ihr Herz. Die Geschichte von Gerhard, den die Lebensforderungen seiner Freundin Traudel aus der Bahn werfen, zeigt Ihnen nichts weniger als den Menschen, lächerlich und groß zugleich. Zum Schluss des ganzen Unglücks stolpern Sie über Gerhards Gedanken, "Fremdkompliziertheit" habe ihn dorthin gebracht, wo er sich jetzt befindet. Dann wissen Sie: Der Roman hat kein Happy End, macht aber trotzdem glücklich.

Wilhelm Genazino, "Das Glück in glücksfernen Zeiten", Carl Hanser Verlag, München 2009, 160 S., geb., 17,90 Euro.

Ulrich Peltzer:

Vom Verschwinden der Illusionen - und den wiedergefundenen Dingen

Ende August löst Ulrich Peltzer seinen Vorgänger F. C. Delius als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim ab. Im Festzelt auf dem Berger Marktplatz werden er und sein Laudator Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" Reden halten, auf die man gespannt sein darf. Wenn Sie sich bis dahin auf Peltzer einstimmen wollen, lesen Sie die Rede, die er im vergangenen Jahr vor Abiturienten der saarländischen Stadt Merzig hielt - eine Reihe mit Tradition, auch Wilhelm Genazino hat dort schon gesprochen. Peltzers Rede enthält viel Biographisches und viel von dem, was ihn beim Verfassen seiner Romane interessiert. Ein Zitat: "Wer seine Neugierde verliert, der steht schon vor der Zeit mit einem Fuß im Grab, und das ist nicht der Sinn der Sache - sollte sie denn einen haben."

Ulrich Peltzer, "Vom Verschwinden der Illusionen - und den wiedergefundenen Dingen: Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2008", herausgegeben von Ralph Schock, Gollenstein Verlag, Merzig 2008, 55 Seiten, brosch., 9 Euro.

Ursula Krechel:

Shanghai fern von wo

Für dieses Buch hat Ursula Krechel in den vergangenen Monaten gleich drei Preise bekommen - erst den Rheingau-Literatur-Preis, dann den mit 50 000 Euro dotierten Joseph-Breitbach-Preis der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und zum Schluss den Kunstpreis des Landes Rheinland-Pfalz. Die etwas entmutigende Panzerung mit Auszeichnungen sollte die Leser allerdings eher dazu bringen, auch weiterhin zu diesem Roman zu greifen, der die Geschichte der deutschen Juden schildert, denen kurz vor dem Krieg die Flucht nach Shanghai gelang. Und was der Apfelstrudel mit der Frühlingsrolle zu tun hat, erfährt man auch.

Ursula Krechel, "Shanghai fern von wo", Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2008, 500 S., geb., 29,90 Euro.

Reinhard Jirgl:

Die Stille

Zum Schluss ein weiteres Buch, das sein Verfasser während seiner Stadtschreiberzeit in Bergen-Enkheim beendet hat. Jirgls "Stille" ist unter den hier empfohlenen Titeln das Buch mit den meisten Seiten, dem größten Anteil an deutscher Geschichte und der auf den ersten Blick am schwierigsten zu lesenden Sprache - lauter dem Autor liebe Eigenheiten in der Schreibung der Wörter sehen aus, als seien sie absichtlich aufgestellte Verständnisfallen. Das sind sie nicht, alles macht Sinn - verwiesen sei nur auf die wunderbar erfundenen "wirrtuellen Welten". Nebenbei ist "Die Stille", ein Roman über zwei Familien zwischen Kaiserreich und Nachwendezeit, auch ein großer Roman über Deutschland im 20. Jahrhundert.

Reinhard Jirgl, "Die Stille", Carl Hanser Verlag, München 2009, 533 S., geb., 24,90 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2009

Das Zwangsabo Wirklichkeit
Wilhelm Genazino erfindet einen Helden, der am liebsten nur halbtags leben würde und „Das Glück in glücksfernen Zeiten” umkreist Von Helmut Böttiger
Ungefähr alle zwei Jahre legt Wilhelm Genazino mit verlässlicher Regelmäßigkeit einen cirka 150 Seiten umfassenden Roman vor. Das geht schon seit Jahrzehnten so, abseits zunächst und hinter dem Rücken der einschlägigen Tagestrommler, dann plötzlich mitten im Rampenlicht. Genazino lässt sich davon nichts anhaben. Seine Figuren wirken immer wie verkappte Ich-Figuren, aber sie gehen im Gegensatz zu ihrem Schöpfer eher unscheinbaren Tätigkeiten nach, sie sind kleine kaufmännische Angestellte oder kleine Dozenten in der Volkshochschule, sie irren in den zeitgenössischen Fußgängerzonen herum und halten sich bevorzugt in Stehimbissen auf, mit Resopal-Furnieren und zweckmäßigem abwaschbarem Plastikgeschirr. Sie wissen, dass im Grunde alles Wahnsinn ist, und sind ständig damit beschäftigt, ihm zu entkommen. Das ist auch jetzt wieder so, in dem kleinen Roman mit dem Titel „Das Glück in glücksfernen Zeiten”.
Und doch hat sich etwas verschoben, unmerklich zwar, aber im Lauf der Zeit immer deutlicher. „Das Glück in glücksfernen Zeiten” wirkt wie eine Formel, wie eine Beschwörung für das Programm, das Genazino bisher in all seinen überraschenden Variationen und Bühnenbildern entworfen hat. Es handelte sich jedes Mal um eine prekäre Balance des Glücks. Jetzt aber, da es im Klartext benannt wird, ist das Glück eine noch fragwürdigere Größe geworden, und man ist den Waagschalen recht hilflos ausgeliefert.
Gerhard Warlich ist ein promovierter Philosoph um die Vierzig, der das Problem des „Überqualifizierten” in unserer Gesellschaft glaubwürdig verkörpert. Er hat als Organisationsleiter einer Großwäscherei ein Auskommen gefunden und reagiert auf die Schwingungen der Wirklichkeit mit empfindlichen Distanzstrategien. Er versenkt sich in die Betrachtung eines auf einem Autodach liegen gelassenen Kuchenstücks, er betrachtet ein Mädchen, das seinen Hund kämmt, oder er hängt seine Hose auf den Balkon und genießt es, wie sie immer mehr verwittert: ein „Tagebuch der Verwitterung” würde seinem Lebensgefühl am ehesten entsprechen. So kann er dem unbeirrbar voranschreitenden Leben einen eigenen Rhythmus abgewinnen.
Warlich plädiert entschieden dafür, nur „halbtags” leben zu dürfen: die zweite Tageshälfte benötige man, um sich von der ersten wieder zu erholen. Das ist der alte literarische Trick von Genazinos Figuren, doch diesmal wendet Warlich seine privaten Entschleunigungsmaßnahmen weit über Gebühr an. Schon seit vielen Jahren ist er mit Traudel liiert, einer wie meistens bei Genazino weitaus pragmatischeren Person als die männliche Hauptfigur. Und sie ist wieder mit einem der sehnsuchtsvollen Vornamen aus jener frühen Zeit der Republik ausgestattet, in der sich alles noch zum Besseren hätte wenden können. Traudel ist Bankangestellte, dem Leben zugewandt und unkompliziert. Nun wünscht sie sich ein Kind.
Damit ist das „Zwangsabonnement der Wirklichkeit”, dem sich Gerhard Warlich ausgeliefert fühlt, noch einmal verteuert worden. Und nun wird etwas durchgespielt, was Genazino in seinen Romanen nach dem frühen „Abschaffel”, wo dies eher slapstickhaft schon einmal vorkommt, vermieden hat: Die Konsequenz daraus, dass man mit den Normen der Wirklichkeit und der enervierend mit ihr mittuenden Menschen nicht zurechtkommt, ist eine „Verrückung” im Inneren. Warlich zeigt zusehends absonderliche Züge. Als er neue Großkunden für seinen Reinigungsbetrieb akquirieren soll, die umliegenden Hotels abklappert und in einem Foyer in eine Horde von Rentnern gerät, schmeißt er kurzerhand ein Stück Kuchen auf den Boden und trampelt darauf herum.
In der Innenstadt setzen ihm „schamhafte Flaschensammler, niedergekauerte Alkoholiker, umherschweifende Jungfaschisten, gehetzte Prospektverteiler, traurig blickende Pförtner” zu und er glaubt, „an einer plötzlich hereinbrechenden Überempfindlichkeit sogar sterben” zu können. Er hat immer öfter „Kontakt mit meiner Verrücktheit”. Bei einem Spaziergang durch die Fußgängerzone steckt er sich bei einem Imbiss ein Stück Brot in die Anzugtasche, wandert ein bisschen damit herum (von dem Brot ging „eine sanfte Beruhigung” aus), drückt es einer alten Freundin in die Hand, die er zufällig trifft und bekommt einen Weinkrampf. Traudel lässt ihn in die Psychiatrie einweisen.
Genazinos Figuren haben seit jeher Probleme mit der „allgemeinen Ödnis des Wirklichen” gehabt, von der auch Gerhard Warlich gleich auf den ersten Seiten des Buches spricht. Alle haben sich immer darüber gewundert, wie die Kollegen in ihren Büros oder die Mitkonsumenten in den Innenstädten „mit der öffentlichen Armseligkeit so gut zurechtkommen”. Mit dem Verrückt-Werden als ästhetischer Konsequenz nähert sich Genazino nun so weit wie noch nie einer realen literarischen Projektionsfolie an, dem Schreiben Robert Walsers, dessen feuilletonistischen Blick und dessen Verschränkung von Oberfläche und Hintersinn sich Genazino für die heutigen Gegebenheiten virtuos anverwandelt.
So vertraut und alltäglich Genazinos Alltagsschilderungen auch wirken, sie haben immer einen doppelten literarischen Boden und verweisen auf frühere Autoren, und das verhieß jedes Mal auch ein bisschen Rettung. In surreal überblendeten Szenarien hat Genazino dies in seinen letzten Büchern vorangetrieben, bis hin zu zu Anleihen an einen phantastischen Realismus aus Lateinamerika. Seine neue Figur Warlich ist nun leiser und zugleich radikaler geworden. Er tritt scheinbar harmlos als Ich-Erzähler in Aktion und vermittelt so suggestiv und eindringlich seine Weltsicht, dass man als Leser automatisch Teil seiner Wahrnehmungsstrategien wird. Warlich wirkt sehr plausibel. Unter der Hand vermittelt er, wie Literatur sich immer weiter von der vorgefundenen Wirklichkeit entfernen kann und sie dennoch so durchdringen, dass sie unter dem Strich viel realistischer anmutet als die Wirklichkeit selber.
Auf theoretischer Ebene hat sich Wilhelm Genazino mit der bewussten Verlangsamung von Geschehnissen, die zu einer anderen Wahrnehmung von Wirklichkeit führt, mehrfach beschäftigt. In seinem Essayband „Der gedehnte Blick” beschreibt er dieses Verfahren minuziös. Er hat schon des öfteren aufgezeigt, dass die Literatur das Verrückte ist. Auch Warlich beobachtet die Ausformungen der Zivilisation so genau, konzentriert sich so auf einzelne Details, dass sie immer unwirklicher und größer werden.
Sie verselbständigen sich, und ihre Umgebung beginnt zu verschwimmen. Im Hotel-Foyer, als er um einen Auftrag für seine Wäscherei vorspricht, stößt Warlich auf eine Gruppe von Reisebüro-Mitarbeitern, die gerade vom Österreichischen Tourismus-Verband mit Werbegeschenken geködert werden: „Ich betrachte das weiße Gesicht einer ganz jungen Reisebüro-Fachfrau, die sich ihre Schreibgarnitur verliebt gegen die linke Wange drückt.”
Die einfache Sprache Genazinos wirkt immer abgeklärter und ist voller Tücken. Denn sie beweist, dass aus der ungeheuren Anpassungsleistung, die Tag für Tag von den mündigen Bürgern verlangt wird, zwangsläufig Melancholie erwachsen müsste. Alle Abwehrstrategien, die unablässig das Feld beherrschen, verblassen gegen diese große, unwiderlegbare und alles überstrahlende Melancholie. Aber indem Genazino das alles einfach aufschreibt, liefert er Spickzettel für ein ganz anderes Leben, das unverhofft am Horizont auftaucht. Dies ist seine Form negativer Dialektik. Wer weiß, wo die nächste Romanfigur landen wird! Genazinos Literatur versöhnt nicht, und sie ist nicht kämpferisch. Sie ist eine einzige Paradoxie, und ihre Kunst besteht darin, diese Paradoxie immer weiterzutreiben.
Schon im Alter von neun Jahren weiß Warlich: „Mein Leben würde nur darin bestehen, das Eintreffen der Desaster ruhig abzuwarten und ihre Verschmelzung mit meinem Leben zu beobachten.” Auch den Absonderlichkeiten der Sexualität gewinnt der Autor wieder neue Volten ab, diesmal in den Gepflogenheiten einer Mit-Konfirmandin in der Schultoilette. Warlich wollte einmal ein großes philosophisches Werk verfassen: „Es sollte Zaudern und Übermut heißen. Phänomenologie des . . . dann wusste ich nicht weiter.” Das schonungslose Benennen hat etwas Befreiendes. Die Literatur hilft zwar rein gar nichts, aber es ist gut, dass es sie gibt.
Wilhelm Genazino
Das Glück in glücksfernen
Zeiten
Roman. Carl Hanser Verlag, München. 157 Seiten, 17,90 Euro.
Ein „Tagebuch der Verwitterung” würde seinem Lebensgefühl am besten entsprechen
„Mein Leben würde nur darin bestehen, das Eintreffen der Desaster ruhig abzuwarten”
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Helmut Böttiger entdeckt in dem Helden von Wilhelm Genazinos jüngstem Roman eine fast unmerkliche Weiterentwicklung gegenüber den früheren Hauptfiguren des Autors, die der Rezensent allesamt als "Ich-Figuren" Genazinos deklariert. Gerhard Warlich, promovierter Philosoph und als Organisationsleiter einer Großwäscherei tätig, hält die Armseligkeiten des Alltags und die von ihm geforderten Anpassungsleistungen nicht mehr aus, zeigt ein zunehmend sonderliches Verhalten und wird schließlich von seiner Frau in die Psychiatrie gebracht, teilt der Rezensent mit. Dabei wirke die "Verrücktheit" Warlichs sehr "plausibel" und dessen Wahrnehmungen für die Leser ganz realistisch, so Böttiger weiter. Bei Genazino sei das Verrücktwerden "ästhetische Konsequenz", werde also zur Literatur, meint der Rezensent, der hinter Genazinos scheinbar harmlosen Alltagsschilderungen immer einen "doppelten Boden" entdeckt. Und wenn diese Art Literatur auch weder zur Kampfschrift taugt, noch der Trostliteratur zuzuschreiben ist, so freut es Böttiger dennoch, "dass es sie gibt", wie er betont.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Aber in Büchern weht kein Wind, den nicht ein Autor geblasen hätte. Und so ist auch das Tragische von Genazino so genau und überlegt bemessen wie das Komische, das Absurde, das Satirische, das Lächerliche, das Rührende und alles andere, was auf diesen 150 meisterhaft komponierten Seiten zusammenfindet." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.01.09

"Die Leserin, der Leser jedoch blickt mit dem Hohlspiegel dieses Romans in ein Unendliches, wo die Grazie der Poesie mit der Kühnheit der Reflexion sich aufs Schönste verbindet und ein Drittes hervorbringt: das Glück des Lesens." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 03.02.09

"Ein komisches Buch. Doch wer lacht, sollte sich schämen. Ein kluges und weises Buch, das die Tragik gegenwärtigen Lebens in heiterer Form präsentiert, ohne sie abzumildern. Eben: ein Alterswerk. Das Beste, was Genazino bisher geschrieben hat." Martin Lüdke, Frankfurter Rundschau, 16.02.09