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Wiener Schmäh an der Spree
Als wir Xane Molin kennenlernen, ist sie vierzehn Jahre alt und verbringt ein paar Sommertage bei ihrer Freundin Judith. Es scheint nicht viel zu passieren in diesen flirrend heißen Ferien: Die beiden Freundinnen liegen in der Hängematte, rauchen verbotene Zigaretten und lästern über die Dritte im Bunde, die gemeinsame Freundin Claudia. Und doch wird am Ende dieses Sommers nichts mehr so sein, wie es vorher war.
Dreizehn Kapitel später erfahren wir, dass die inzwischen zur alten Dame gewordene Xane noch einmal einen sehr mutigen Schritt wagt, ihrem Leben eine
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Produktbeschreibung
Wiener Schmäh an der Spree

Als wir Xane Molin kennenlernen, ist sie vierzehn Jahre alt und verbringt ein paar Sommertage bei ihrer Freundin Judith. Es scheint nicht viel zu passieren in diesen flirrend heißen Ferien: Die beiden Freundinnen liegen in der Hängematte, rauchen verbotene Zigaretten und lästern über die Dritte im Bunde, die gemeinsame Freundin Claudia. Und doch wird am Ende dieses Sommers nichts mehr so sein, wie es vorher war.

Dreizehn Kapitel später erfahren wir, dass die inzwischen zur alten Dame gewordene Xane noch einmal einen sehr mutigen Schritt wagt, ihrem Leben eine neue Richtung gibt. Dazwischen liegen Jahrzehnte, in denen wir Xane durch die Augen sehr verschiedener Menschen aus ihrer näheren und weiteren Umgebung sehen. Ein Professor schildert Xane als begehrenswerte junge Frau und Teilnehmerin einer von ihm geleiteten Ausschwitz-Exkursion. Ihr Vermieter, ein älterer Wiener Herr, der viel Wert auf Konventionen legt, ist von ihrem turbulenten Leben in Wiener Künstlerkreisen befremdet und dennoch bald von seiner jungen Mieterin so angerührt, dass er ein Geheimnis mit ihr teilt. Später, als sie bereits mit Mann und drei Kindern in Berlin lebt, entwirft eine ihrer Stieftöchter ein wenig schmeichelhaftes Bild der mittlerweile beruflich äußerst erfolgreichen Xane. Eine Ärztin in der Kinderwunschklinik, deren Patientin sie ist, kommt ebenso zu Wort, wie ein Mann, der sich in sie verliebt hat, ein Angestellter ihrer Werbeagentur, eine alte Freundin, ihr Vater und der einzige Sohn. Einem Mosaik gleich fügen sich die vielen kleinen oder größeren Begebenheiten und Erlebnisse zu einem einzigen großen Bild zusammen.

So nähert sich die Autorin Eva Menasse der Frage „Wer ist Xane Molin?“ gleichsam von außen an, beschreibt das Wesen ihrer Protagonistin, indem sie mal weite mal enge Kreise um sie herum zieht und sie aus den unterschiedlichsten Außenperspektiven beschreibt. Allein in einem einzigen Kapitel, dem zentralen siebten Kapitel, kommt Xane selbst zu Wort und spricht über ihr Leben als glückliche Ehefrau und Mutter: „Es geht uns gut. Die Lebensmittel ist sicher und berechenbar wie eine ungestaffelte Warmmiete. ... Und trotzdem genügt das alles manchmal nicht. Trotzdem wird jedes Paradies irgendwann zum Käfig. Das liegt dem Menschen im Blut. Irgendein Zweifel fällt ein, ein Schatten, eine minimale Verschiebung des Lichts.“ So sehr Xane auch angekommen ist in ihrem Leben, so bleibt sie dennoch auch eine Suchende. Identität ist keine feste Größe in diesem Roman.

Die Besonderheit der titelgebenden Quasikristalle besteht darin, eine regelmäßige, jedoch nicht symmetrische Struktur aufzuweisen. Wie diese ungewöhnlichen Kristalle, die in der Vergrößerung ganz besonders schöne Muster erkennen lassen, entfaltet sich vor uns eine schillernde Persönlichkeit mit vielen unvorhergesehenen Seiten. Eva Menasse lässt uns tief eintauchen in die unterschiedlichsten Szenarien, in denen sich ihre Hauptfigur Xane bewegt. Sie wechselt dabei immer wieder gekonnt die Erzählperspektive und skizziert dabei eloquent die oftmals tragische Komik einer Situation. Dieses Talent, eine Beobachtung überaus pointiert zuzuspitzen, scheint die Autorin mit ihrer Protagonistin zu teilen. So beschreibt ein Angestellter von Xane Molin seine Chefin: „Sie war flink mit Worten, sie war originell, und das konnte unangenehm sein, beinahe gefährlich. Meinungsstark ist ja nur, wer von Meinungsschwachen umgeben ist. Sie brachte die Mehrheit auf Kosten von ein oder zwei Bedauernswerten zum Lachen. Und die Menschen lachen gerne, da sind sie korrumpierbar. Aber während sie lachen, geben sie sich auf. Denn wer nicht erträgt, im selben Ausmaß verspottet zu werden, wie der, über den er gerade selbst lacht, muckt nie wieder auf.“

Besonders eindrücklich sind jene Kapitel, die die Frauenfreundschaften von Xane Molin schildern. Wie die Freundinnen gemeinsam den Zumutungen des Lebens trotzen, Spaß haben, solidarisch sind und sich gleichzeitig doch Neid und Missgunst, Aggression und Verrat subtil ihre zerstörerischen Wege in die Freundschaft bahnen – diese Ambivalenzen und Abgründe schildert Menasse in großer atmosphärischer Dichte. Dabei sind die Charaktere oft mit einer gewissen Portion latenter Bösartigkeit durchsetzt. So scheint sich hier der Wiener Schmäh mit einer charmanten Berliner Aufbruchsstimmung zu vermählen, was das Buch zu einem ebenso faszinierenden wie bitter-amüsanten Lesestoff macht – nicht nur, aber auch für kurzweilige Kaffeehausbesuche an Donau und Spree.

Autorenporträt
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman 'Vienna'. Es folgten Romane und Erzählungen ('Lässliche Todsünden', 'Quasikristalle', 'Tiere für Fortgeschrittene'), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman 'Dunkelblum' war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2013

Ein Mosaik von einem Menschen
In ihrem neuen Roman "Quasikristalle" zerlegt Eva Menasse eine Frau in erstaunliche Einzelteile

Um den Titel eines Romans zu erklären, muss man meistens nicht besonders weit ausholen. In diesem Fall aber schon, in diesem Fall ist der Titel wichtig, und deshalb geht es zunächst ins spanische Granada.

Wer dort schon einmal die Alhambra besucht hat, dieses Meisterwerk, den Inbegriff islamischer Kunst, wird sie nicht mehr vergessen können, die Mosaike, die man dort sieht. Fünf Kachelvarianten verwendeten die arabischen Künstler, als sie im 13. Jahrhundert die Mosaike legten. Das aber erkennt man bei erster Betrachtung kaum, so harmonisch ist das Bild, das sie zusammengefügt miteinander ergeben. Seit einiger Zeit weiß die Wissenschaft, dass ein ähnliches Phänomen auch in der Natur zu finden ist: Durch ein Elektronenmikroskop erblickte ein israelischer Chemiker vor einigen Jahren eine Struktur, die harmonisch wirkte wie ein Kristall, jedoch keiner sein konnte, da dessen typische Struktur nicht zu sehen war. In Kristallen reihen sich in absoluter Perfektion Atome aneinander, deren Muster sich mit exakter Regelmäßigkeit wiederholt. Nicht so bei dem Stoff unter dem Elektronenmikroskop: Hier gab es keine Wiederholung eines Atommusters, dennoch eine große Harmonie.

Ganz ähnlich also, und damit noch mal kurz zurück nach Granada, wie bei den Mosaiken der Alhambra. Der Forscher nannte seine Entdeckung "Quasikristalle", 2011 wurde ihm dafür der Chemie-Nobelpreis verliehen. Und "Quasikristalle" heißt auch der neue Roman von Eva Menasse. Man sollte den Hintergrund dieses Titels im Kopf behalten, wenn man ihn aufschlägt und nicht mehr aufhören kann zu lesen, weil man das nächste Mosaiksteinchen aufheben will.

Die Frau, um die der Roman kreist, heißt Xane Molin. Wir lernen sie als 14 Jahre alte Schülerin kennen, barfuß, braungebrannt und unbekümmert im Haus und Garten ihrer besten Freundin Judith herumtollend, bei der sie die letzten Ferientage dieses Sommers verbringt - ein dramatisches Ereignis wird den schönen Tagen ein jähes Ende bereiten. Als Nächstes begegnet uns Xane als blutjunge Studentin wieder, sie feiert Partys, bezieht in Wien ihre erste eigene Wohnung, aus der sie irgendwann ihren Verlobten rausschmeißt. Sie geht nach Berlin, heiratet, ist nun Professorengattin, Patchworkmutter und Besitzerin einer aufstrebenden Werbeagentur. Einige Jahre später, mit Ende dreißig, will sie mit Hilfe der Medizin ein Kind bekommen, bevor es endgültig zu spät dafür ist. Sie wird Mutter eines Sohnes, er wächst zu einem Teenager heran. Schließlich, die Kinder sind längst aus dem Haus und haben inzwischen eigene, treffen wir sie als alte Frau wieder, die nach dem Tod ihres Mannes ihrem Leben noch einmal eine neue Richtung geben will. So weit die Kurzversion.

Die Augen der anderen

Tatsächlich breitet Eva Menasse Xane Molins ganzes Leben vor uns aus, und das könnte schrecklich langweilig sein. Ist es aber nicht, denn die Autorin erzählt aus vielen Perspektiven und lässt die Menschen zu Wort kommen, denen Xane in den unterschiedlichen Phasen ihres Lebens begegnet ist. Durch deren Augen lernen wir Xane kennen: durch die Augen eines Angestellten in ihrer Werbeagentur etwa, dem Xane als Chefin gerade die Kündigung nahegelegt hat; durch die Augen der pubertierenden Stieftochter Viola, die überzeugt ist, dass Xane ihren Mann betrügt, eine Affäre hat.

Die Ärztin wiederum, eine Spezialistin für künstliche Befruchtung, zu der Xane wegen ihres unerfüllten Kinderwunsches geht, mag ihre Patientin gern, weil sie ihre Emotionen unter Kontrolle hält. Ganz anders sieht das der Bürgerkriegsflüchtling Nelson, der in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof als Zeuge aussagen soll und der sich, nachdem er ihr zufällig in Berlin begegnet, in Xane verliebt. Sie sei eine Frau, denkt er nach ihrem ersten Treffen, die "beim zweiten und dritten Blick schöner wurde, so dass man sich über den eigenen ersten, den flüchtigen, beinahe zu ärgern begann". Auch der Vermieter von Xanes Wiener Wohnung hat eine Meinung über sein "Molinchen", obwohl er sie nur von kurzen Gesprächen beim Unkrautjäten und von Beobachtungen im Treppenhaus kennt. Er sagt: "Wiedersehen möchte man sie eigentlich nicht mehr."

Eva Menasse wirft nur Schlaglichter auf diese Leute, deren Weg Xane im Laufe ihres Lebens kreuzt. Dennoch treten die Konturen ihres Tun und Denkens dabei so scharf hervor, dass man versteht, warum jeder von ihnen etwas anderes in ihr zu erkennen glaubt und worin die unterschiedlichen Empfindungen und Erwartungen begründet liegen. Sicherlich, die Urteile, die sie fällen, mögen für sich genommen einseitig sein. Falsch aber sind sie nicht. Die Wahrheit, zumindest ein Stück von ihr, schwingt immer mit. Oft kommt sie witzig und federleicht daher, dann wach und bitter.

Und so weiß man nach jeder Episode, die Eva Menasse in einzelne Kapitel gliedert, ein bisschen mehr. Wie Mosaiksteine, die für sich genommen sehr verschieden sind, fügen sich die Beobachtungen zu einem Bild, einem Quasikristall zusammen: daher der Titel. Immer deutlicher wird diese Frau namens Xane Molin in ihm sichtbar. Mit all den liebenswerten Seiten, die sie hat, und mit mindestens genauso vielen Macken. Xane ist sich keineswegs bewusst, dass sie die hat. Wie so viele Menschen verwechselt sie den eigenen Blick auf sich und die Welt mit dem der anderen.

Was wir von uns wissen

Eva Menasse stellt große Fragen in diesem Buch: Was bedeutet man anderen Menschen? Was wissen wir wirklich über uns selbst und was vom anderen? Wie stehen Außendarstellung und Selbstwahrnehmung zueinander? Welches Bild macht sich der andere von uns und wie verändert das seine Reaktion? Welche Begegnungen bleiben haften und verändern uns? Warum mögen uns manche Menschen und warum andere nicht? Aus einer flüchtigen Bekanntschaft kann Freundschaft werden, vielleicht auch Liebe; genauso kann aus einem guten Freund ein Fremder werden, den man irgendwann aus den Augen verliert. Die Erinnerung bleibt jedoch haften. Bewusst oder unbewusst bestimmt sie jede neue Begegnung mit. Und was ist das überhaupt, eine Begegnung?

Wie sehr die eigene Realität und die des anderen auseinanderklaffen können, zeigt am besten die Episode, in der Xane eine Bekannte aus Jugendtagen wiedertrifft. Es ist purer Zufall, Xane, beruflich schon ganz weit oben angekommen, ist auf einer Vernissage, als vor ihr auf der Toilette plötzlich Sally steht, die kleine Schwester von Judith, die Xane lange nicht gesehen hat.

Damals, als sie die letzten Tage des Sommers bei Judith verbrachte, war Sally in ihren Augen nur die nervende kleine Schwester. Jetzt jobbt Sally in Berlin auf Abendveranstaltungen als Kellnerin, ist alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter, von der sie Xane aber nichts erzählt. Denn Xane überfällt Sally mit einer Begeisterung und Hilfsbereitschaft, die auf die Jüngere erdrückend wirkt.

Für Xane, die ihrer Heimatstadt Wien nachtrauert, ist Sally die lang ersehnte beste Freundin. Für Sally hingegen ist Xane eine Spießerin, die nur um sich selbst kreist, die Freundschaften an- und ausknipst, je nachdem, ob sie sich gerade dunkel fühlt oder hell. Sally entfernt sich deshalb wieder von ihr. Jahre später wird sie mit einer anderen Freundin Xanes zusammensitzen und über sie lästern.

Xane Molin ist in gewisser Weise blind für ihre Umgebung. Anders gesagt: Sie sieht nur das, was sie sehen kann, so sehr ist sie in sich gefangen. Hat man das einmal erkannt, stellt man ganz unwillkürlich auch die eigene Wahrnehmung in Frage. Es geht in dem Roman um Xane Molin, letztendlich aber auch um jeden selbst.

KAREN KRÜGER

Eva Menasse: "Quasikristalle". Kiepenheuer & Witsch, 432 Seiten, 19,99 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Tim Caspar Boehme berichtet von einer eher durchwachsenen Lektüre: Zwar weckt die strukturelle Gestaltung von Menasses Schilderung eines Lebens aus kapitelweise unterschiedlichen Perspektiven durchaus seine Neugier und das versammelte Figurenensemble - darunter ein selbstzerstörerisch veranlagter Holocaustforscher - ist zuweilen recht wuchtig. Doch stellt sich dem Rezensenten auch bald die Frage nach der Erkenntnis, die er aus dieser "Binnenansicht eines eher geschlossenen Milieus" und den Nöten von Intellektuellen im Alltag ziehen soll: Vieles ist reichlich unspektakulär, findet Boehme, der dann auch noch in Menasses sprachlicher Eleganz die eigentliche Krux des Buches identifiziert: Gerade deren Makellosigkeit unterstreiche die Belanglosigkeit einiger Passagen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.02.2013

Eine Metapher macht
noch keine Frau
Eva Menasses Roman „Quasikristalle“ versteht sich
als Versuchsanordnung – doch die Chemie stimmt nicht
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Mit naturwissenschaftlichen Gleichnissen sollte die Literatur vorsichtig umgehen – nicht trotz, sondern wegen Goethe, der in seinen „Wahlverwandtschaften“ das Verhalten chemischer Verbindungen gerade nicht als Metapher benutzte, sondern als Formel, die er auf die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Beziehungen übertrug. In den meisten Fällen dienen solche Analogien jedoch nur dazu, dicken Qualm zu erzeugen, der das Publikum einnebelt und dessen Wahrnehmung trübt. Wann immer der blubbernden Kulturproduktion Begriffsblasen wie „Versuchsanordnung“ oder „Experiment“ entquellen und sich die Künste als „Labor“ verstehen, sollte man sich schnell in Sicherheit bringen, denn dergleichen ist der Abc-Alarm für die Kritik. Wenn sich die Kunst den weißen Kittel der positiven Wissenschaften überstreift, kann man davon ausgehen, dass darunter nichts als Gewaber und Gelaber steckt, das sich ein strenges Aussehen gibt. Anders gesagt: Naturwissenschaftliche Vergleiche sind allzu oft ein Ablenkungsmanöver, und das Feuer, das unter den schraubigen Glaskolben der künstlerischen Erforschung brennt, in denen allerlei bunte Substanzen zirkulieren, ist in aller Regel ein Strohfeuer.
  Im Fall von Eva Menasses neuem Roman muss der naturwissenschaftliche Analphabet schon Google konsultieren, um zu erfahren, was sich hinter dem sperrigen Titel „Quasikristalle“ verbirgt. Dort ist zu erfahren, dass es in der Natur Kristalle gibt, die eine scheinbar ungeordnete, weil nichtperiodische Struktur aufweisen. Und verhält es sich nicht ebenso mit dem verschlungenen Lebensweg eines Menschen? Er mag regellos erscheinen und gibt erst aus der Distanz sein Muster zu erkennen. In dreizehn Kapiteln schildert Eva Menasse die Biografie einer Frau, von der Jugend bis ins Alter, aber sie erzählt dieses Frauenleben aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dadurch ist diese Xane Molin (Mol wie die chemische Maßeinheit) in verschiedenen Rollen zu erleben: als Mutter und Mieterin, Tochter und Freundin, Patientin und Chefin, vor allem aber als Frau. Nur in einem Kapitel ergreift sie selbst das Wort.
  Wie durch ein Prisma gebrochen und entmischt, wird hier der farblose Stoff namens Leben in seine Spektralfarben zerlegt – das ist, angelehnt an Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“, eine probate Antwort auf das zentrifugale Menschenbild der Moderne, auf Patchwork-Biografien, Selbstmodellierung und verflüssigte Identitäten, den ganzen postmodernen Sums vom Ich als bloßem Konstrukt. Und es ist ein Alibi, behauptet doch die multiperspektivische, polyphone Narration eine formale Avanciertheit, die der im Übrigen kreuzbrav und konventionell heruntererzählte Roman sofort widerlegt. Im Laufe der Lektüre entpuppt sich der intellektuelle Überbau zunehmend als Hilfskonstruktion eines Buches, dessen Anspruch in einem eklatanten Missverhältnis steht zu seiner Ausführung. Denn weder werfen die geschilderten EpisodenSchlaglichter auf die Protagonistin, noch erweist sich dieses Licht als so gefiltert, dass der Beobachter selbst zum Beobachteten wird. Es ist vielmehr, als stünden zwei Spiegel einander gegenüber: Das Bild flieht ins Unendliche und verliert dabei an Schärfe.
  So überkonstruiert das formale Gerüst anmutet, so handfest ist wiederum das Sujet der Kapitel, von denen sich jedes als in sich geschlossene Erzählung lesen lässt. Die meisten von ihnen nehmen sich aus wie Variationen über ein bestimmtes Thema aus dem zeitgenössischen Schlagwortkatalog: „Shoa-Business“ etwa, „Altersdemenz“ oder „künstliche Befruchtung“, und selbst dort, wo Xane Molin nicht nur einen Gastauftritt hat, erscheint sie als Person entbehrlich und ihre Mitwirkung willkürlich, da diese Geschichten genauso gut funktionieren, ohne dass sie es ist, die sie erlebt. Nur wäre es dann halt nicht der Roman geworden, der irgendwie fällig ist bei Eva Menasse, deren Debüt mit dem Familienschmunzelroman „Vienna“ auch schon bald ein Jahrzehnt zurückliegt.
  Eine Fülle von disparatem Erzählmaterial, zusammengehalten von einer künstlichen Klammer, wird hier zum Roman erklärt, einem Roman, in dessen Kapitel die Heldin mitunter nachträglich hineinretuschiert zu sein scheint und in dem allerhand Querverweise wie Ostereier versteckt wurden. Doch der sekundäre Reiz eines literarischen Suchspiels kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es am Entscheidenden fehlt: an erzählerischer Verdichtung, an einer Sprache, die über sich selbst hinausweist. Keine einzige denkwürdige Szene, nicht ein exemplarischer Dialog lässt sich finden, in dem die Figuren sich losreißen vom Gängelband der Absicht und ein Eigenleben entwickeln. Immer behält die Erzählstimme das letzte Wort, die zungenfertige Conférence. Man hat den Eindruck: Die Gattung des Romans liefert eine Art Betonskelett, das nichts Gewichtigeres zu tragen hat als eine Glasmenagerie, eine Sammlung von rhetorischen Preziosen, feuilletonistischen Launen und Idiosynkrasien.
  Am Anfang begegnen wir Xane Molin als braver Gymnasiastin, deren Kindheit durch den plötzlichen Tod einer Freundin jäh beendet wird. Im nächsten Kapitel begleitet sie als Studentin eine Reisegruppe nach Auschwitz und flirtet mit dem erotomanen Reiseleiter. Dann sehen wir sie wieder als aufmüpfige Wiener Jungfilmerin, Objekt von Verdächtigung und Begierde ihres erzkonservativen Vermieters. Sie geht nach Berlin, reüssiert als Teil der digitalen Bohème mit einer eigenen Webeagentur, bemuttert erst eine Freundin mit „leicht übergriffiger Hilfsbereitschaft“, bevor sie als Spätgebärende selbst ein Kind bekommt. Sie gerät in Versuchung, ihren Mann mit einem Politiker zu betrügen, hadert mit ihrer Rolle als Patchwork-Mutter und „zertifizierter Wahnsinns-Frau“ sowie mit ihrem wohltemperierten Leben. Jahre später lässt sie sich auf eine Affäre mit einem jungen Musiker ein, geht Pleite mit ihrer Firma, verliert Job und Mann und kehrt schließlich als Witwe nach Wien zurück. Wir erleben sie als temperamentvolle Tochter, als überfürsorgliche Mutter, als knallharte Chefin und als dünnhäutige Egomanin, als „Drama-Queen“ zumal, wie ihre alten Freundinnen sie nennen.
  Mit Charme und Schmäh, heller Spottlust und melancholischer Reizbarkeit ob der schreienden Widersprüche des Schicksals schildert Eva Menasse die Wechselfälle eines Frauenlebens und beweist ein feines, hochnervöses Gespür für die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Ihr gelingen wunderbar böse Seitenhiebe, wenn sie schreibt: „Es gibt Frauen, die als Clowns geboren werden. Als plappernde Kumpels. Sie finden später schweigsame Männer, die Windjacken zum Bürstenschnitt tragen und die, gemeinsam mit ihren pferdestehlenden Clowns-Frauen, ihr Leben lang nicht erfahren, was die Liebe wirklich ist, wie hysterisch, widerlich, grausam, göttlich und vernichtend sie sein kann.“ Sie findet Sprachbilder von treffsicherer Komik: Auschwitz-Besucher, die aussehen „wie bestürzte Eichhörnchen“, fortschrittliche Männer, die „ihre Jovialität versprühen wie Raumspray“ und Ehestreits, die sind „wie eine Brandschutzübung“.
  Doch abgesehen von solchen kabarettreifen Sottisen ist die Sprache des Romans ebenso wenig anspruchsvoll wie die darin formulierten, eher schlichten Einsichten über das angebliche Verfallsdatum weiblicher Attraktivität oder den Tod, den vor Augen man sich keine Ironie mehr leisten kann. Es ist eine Art Kolumnen-Bescheidwissen, die hier vorherrscht, und den dazu passenden aufgekratzten Ton hört man immer wieder heraus bei diesem doch eigentlich orchestral angelegte Stimmenkonzert. Für glaubwürdige Rollenprosa reicht es nicht, den inneren Monolog einer Pubertierenden durch eingestreute Zeilen aus Pop-Songs authentisch machen zu wollen. Vor allem aber: In diesem Buch ist jede Sache zu oft „wie“ eine andere, es herrscht das Prinzip einer umfassenden Metaphorisierung, in der die Dinge kaum je für sich selber sprechen. Alles ist stets schon eingeordnet, gedeutet, zugerichtet zum Requisit und als Regieanweisung. Nie wagt sich die Sprache ins Offene und Ungesicherte. Das Buch bleibt ein einziges großes „so wie“ und ist daher nur ein Quasi-Roman geworden. Die Chemie, der es seine Entstehung verdankt – sie stimmt einfach nicht.
In dreizehn Kapiteln schildert
Menasse die Biografie einer Frau,
von der Jugend bis ins Alter
Hier herrscht eine Art
Kolumnen-Weisheit, dazu passt
der aufgekratzte Ton
Charme, Schmäh und postmoderne Gewieftheit sind die Mittel der Erzählerin Eva Menasse.
FOTO: EKKO VON SCHWICHOW
  
    
  
  
    
Eva Menasse:
Quasikristalle. Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 432 Seiten,
19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Eva Menasse [...] lässt liebende wie ratlose Zeugen erzählen, [...] umkreist, umzingelt, erspürt ihre komplexe Heldin - so wird Quasikristalle zum raffinierten, vielstimmigen Porträt.« stern 20130214
Eine Frau braucht viele Gesichter

Unordnung und frühes Leid: Eva Menasse erzählt in ihrem neuen Roman "Quasikristalle" aus dem Leben ihrer Heldin, die sich immer wieder neu erfindet.

Lange Zeit glaubte man, kunstvolle Muster wie etwa die berühmten Ornamente der Alhambra von Granada kämen in der Natur nicht vor. Es schien unmöglich, das von arabischen Baumeistern raffiniert entworfene Wechselspiel aus Ordnung und Unordnung als Ganzes zu wiederholen. Groß war daher die Überraschung, als vor einigen Jahren ein Wissenschaftler ebensolche "verbotenen Symmetrien" unter seinem Mikroskop entdeckte. Inzwischen ist klar, dass es auf der Erde nicht nur Kristalle in der bekannten wohlgeordneten Struktur gibt, sondern eben auch in gebrochener Form.

Diese sogenannten "Quasikristalle", für deren Entdeckung Daniel Shechtman 2011 den Nobelpreis erhielt, hat sich Eva Menasse nicht nur für den Titel ihres neuen Romans geborgt. Vielmehr hat sie deren chemische Struktur kongenial in Literatur verwandelt. Denn indem sie sich anschickt, dem komplizierten, sich widersprechenden, jedenfalls meist unergründlichen Lebensweg ihrer Heldin schreibend Stück für Stück nachzugehen, ohne dies am Ende je in eine höhere Ordnung zu führen, kommt Eva Menasse dem Rätsel des Daseins erstaunlich nah, das sich, wenn überhaupt, stets nur fragmentarisch offenbart: "Das Leben ist gleichzeitig festgefahren und fragil", heißt es an einer Stelle des Romans, "ein Fahrzeug, das in einer steilen Kurve hängen geblieben ist."

Es ist interessant, wie sich die 1970 in Wien geborene, seit Jahren in Berlin lebende Schriftstellerin mit jedem Buch neu erfindet. Zu schreiben begann Eva Menasse als Journalistin, unter anderem auch als Redakteurin dieser Zeitung. Dann legte sie 2005 mit ihrem an Torbergs Tante Jolesch geschulten Debüt "Vienna" einen Familienroman voller abenteuerlicher Schicksale, verrückter Episoden und skurriler Typen aus dem Wien des letzten Jahrhunderts vor. Vier Jahre später folgte, in gänzlich anderem Ton, "Lässliche Todsünden", ein durchkomponierter Erzählband, in dem die Autorin unterschiedlichste Formen menschlichen Scheiterns mit bösem Witz durchdeklinierte. In "Quasikristalle" nun sucht sie die formale Herausforderung, indem sie die Lebensgeschichte ihrer Heldin von mehreren Protagonisten und aus immer neuen Perspektiven beschreiben lässt: von einer Schulfreundin, einem Angestellten, einem Vermieter.

Dieses multiperspektivische Erzählen, das wir von Yasushi Inoues schicksalshafter Ehegeschichte "Das Jagdgewehr" ebenso kennen wie von Lloyd Jones' jüngst auf Deutsch erschienener "Frau im blauen Mantel", stellt mehrere heterogene Versionen eines Lebens nebeneinander, die sich freilich nicht mehr synthetisieren lassen. Es gibt keinen verlässlichen Spiegel einer objektiven Wirklichkeit. In den dreizehn Kapiteln ihres Romans, von denen nur eines, das zentrale siebte, in der Ich-Form von der Protagonistin Xane Molin erzählt wird, lässt Eva Menasse das oszillierende Bild einer weiblichen Biographie entstehen. Was hier Wahrnehmung und was Wahrheit ist, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen, weil unser Wissen nur aus dieser Überlieferung stammt. "Nichts war einfach, bekannt, sicher, geglaubt, verbürgt" - den Satz der neuseeländischen Schriftstellerin Janet Frame hat Eva Menasse programmatisch vor das erste Kapitel gestellt. Jedes neue Kapitel geht einen Schritt voran in dem Versuch, Xane Molins Wesen zu erfassen. Dass ihre Züge bisweilen in der Unschärfe verharren, ja mehr noch: diese sich in den verschiedenen Spiegelungen teilweise widersprechen, macht den Reiz des Romans aus.

Das erste Mal begegnen wir Xane, die auf ihre namensgebende persische Königin Roxane ebenso pfeift wie auf den Song von "The Police", als Vierzehnjähriger, die in den Schulferien ihre Freundin Judith besucht. Ein Schatten liegt auf diesem Sommer, und das nicht nur, weil die Mädchen sich nach den Ferien durch den Wechsel auf die höhere Schule trennen müssen. Es ist mehr noch Judiths Vater, der unkontrolliert zuschlägt. Und dann stirbt überraschend das dritte Mädchen im Bunde, was umso schlimmer ist, als diese Claudia von den beiden andern gerade aus dem Kleeblatt verstoßen worden war. Die Kindheit ist über Nacht vorbei, und der Tod scheint zum ersten Mal als Variable auf, um sich gleich im nächsten Kapitel in monströser Form zu zeigen.

Xane hat sich, inzwischen eine junge Frau, einer Exkursion nach Auschwitz angeschlossen. Professor Bernay, der die Gruppe führt, erkennt in dem "viel zu jungen Blusenmädchen" nicht nur seine eigene Rettung. Für ihn ist sie ein "klassischer Fall halbjüdischer Doppelhelix": dieses schwer auflösbare Geflecht aus Angst, Schmerz und unklarer Zugehörigkeit, ironischer Distanzierung und Selbstüberschätzung auf der Suche nach der angemessenen Haltung. Bernay ist selbst nicht weniger beschädigt als seine Reisegefährten, die sich mit angestrengtem Sarkasmus an Himmlers Sauna abarbeiten, während er sich mit Neonkleidung samt Reflektorstreifen vor der Ungeheuerlichkeit dieses Ortes zu schützen sucht. Nichts, was man hier denken konnte, weiß er, war unschuldig. Aber auch das groteske Auschwitz-Kapitel bleibt ein Zwischenspiel, der Roman entführt uns nach Wien, wo wir Xane Molin als Mieterin einer ominösen Villa begegnen, deren Besitzer an die jüdischen Bewohner von einst keine Erinnerung geblieben ist, wohl aber ein kostbares Grödner Jesulein an der Wand. Wie Xane von Wien nach Berlin kommt, bleibt wie vieles andere ungesagt, dort aber treffen wir sie wieder als erfolgreiche Unternehmerin, stark und selbstsicher, die sich über die pralle Hauptstadtwichtigtuerei um sie herum lustig macht.

"Es gibt Frauen, die als Clown geboren werden. Als plappernde Kumpel. Sie finden später schweigsame Männer, die Windjacken zum Bürstenschnitt tragen und die, gemeinsam mit ihren pferdestehlenden Clown-Frauen, ihr Leben lang nicht erfahren, was Liebe wirklich ist, wie hysterisch, widerlich, grausam, göttlich und vernichtend sie sein kann." So klingen die Gedanken von Xane Molin. Sie halten sich nicht vornehm zurück, sondern grätschen ins Leben. Das ist nicht immer schön, aber meistens trifft es einen Kern. Dabei zerlegt die Autorin das Porträt ihrer Figur in so viele verschiedene Rollen, dass, wenn man sich im wirklichen Leben darüber im Klaren wäre, einem schwindelig würde. Xane gibt es als Freundin, als Patientin mit Kinderwunsch und als flüchtige Gefährtin ebenso wie als überforderte Stiefmutter, selbstgefällige Chefin und treulose Ehefrau. Zuletzt lernen wir sie sogar als alte Frau kennen, die ihren Mann überlebt und noch einmal ein Wagnis eingeht.

Stück für Stück setzt sich etwas zusammen, von dem wir doch zögern, es Identität zu nennen. Vielmehr stellt der Roman Fragen danach, was wir über uns wissen und was das Bild, das andere sich von uns machen, in uns bewirkt.

"Das beste Leben ist das gegenwärtige, aber meistens kommt einem die Gegenwart blass vor, so dass man furchtlos und ermüdend an Vergangenheit und Zukunft herumzupft." Der das sagt, ist ein Mann, dessen gesamte Familie in einem Bürgerkrieg ausgelöscht wurde. Während die Ärztin in der Kinderwunschpraxis nicht begreifen will, warum ihre Patientinnen stets nach Erklärungen suchen, dabei rechne jeder Blumenzüchter mit Erfolg und Misserfolg, "das liegt im Wesen der Zucht". Und es gibt Xane Molin, die als Chefin ein Biest sein mag, aber als Mutter verblüffend aufrichtige Einsichten hat. Etwa die, von der "schmerzlich, erschrockenen Liebe zu den eigenen Kindern", die keine Theorie je ersetzen könne, sondern nur das Leben lehrt - und ein Roman von Eva Menasse.

SANDRA KEGEL.

Eva Menasse: "Quasikristalle". Roman.

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2013. 426 S., geb., 17,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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