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jenvo82
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Oberschöna

Bewertungen

Insgesamt 212 Bewertungen
Bewertung vom 11.02.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


sehr gut

Und der Erfolg des Buches, welches sich weltweit schon über zwei Millionen mal verkaufte und mittlerweile erfolgreich verfilmt wurde gibt ihr jene Stimme, die ihre Protagonistin so gerne hätte, ein Wort welches nicht nur eine leere Phrase ist, sondern wirklich Veränderungen herbeizuführen vermag.

Der Schreibstil des Buches ist eher distanziert, man spürt die Emotionen weniger direkt als vielmehr unterschwellig im Verhalten der Akteure. Dieser Abstand zwischen den tatsächlichen Gefühlen wie Wut, Scham, Verletzlichkeit, Unverständnis und Anpassung wird aber gerade durch diese sachliche Intonation sehr generalistisch und präsent. Denn die Autorin führt sehr langsam und Schritt für Schritt an diese geballten Vorwürfe heran, die sie eigentlich nicht als solche entlarvt und die dennoch genau das sind: Vorwürfe, warum es auch in der Gegenwart nicht möglich ist, als Frau freie Entscheidungen zu treffen. Dabei klagt sie nicht nur eine Person an, sondern de facto das Zusammenspiel aller Faktoren, welches sich möglicherweise durch Erziehung und Konsequenz ergibt.

Sie geht auch zurück in die Generation der Mütter und Großmütter, die sich bei der Geburt eines Mädchens schon schlecht fühlten und später sogar zu Abtreibungen angehalten wurden, damit dem Land um Himmels Willen keine männlichen Nachkommen vorenthalten werden. Sie thematisiert das stigmatisierte Heranwachsen der Mädchen, die schon als kleine Kinder all jene Fähigkeiten beigebracht bekommen, die sie später als gute Frau und Mutter beherrschen müssen. Sie macht ebenso deutlich, dass sich die Bildungschancen zwar für beide Geschlechter gebessert haben, aber Geld und Einfluss eine große Rolle spielen, wer, wann, welchen Posten oder welche Ausbildung bekommt. Spätestens wenn die Frauen sich für eine eigene Familie entscheiden, ist ihr berufliches Fortkommen ad acta gelegt, denn die Männer in der Gesellschaft wollen keine arbeitenden Mütter und staatliche Unterstützung bleibt aus, ganz im Gegenteil, sie ist entweder nicht bezahlbar oder nicht lohnenswert, und wenn die Frau dennoch arbeiten möchte, lassen sich weder die Zeiten noch das geringe Einkommen damit vereinbaren. Warum sollte denn eine Mutter arbeiten gehen, wenn doch der Mann der Versorger ist?

Fazit

Ich vergebe sehr gute 4,5 Lesesterne für diesen fiktiven Roman, der so viele Wahrheiten auf wenigen Zeilen hervorzuheben vermag. Der Wert einer Frau, ihr Wirken in der Welt, ihr tatsächlicher Einfluss außerhalb der Familie – all das wird auf bedrückende Art und Weise vermittelt.

Die Geschichte selbst umspielt eine gewisse Zeitlosigkeit, eine Einfachheit, die jeder irgendwo kennt und in mehr oder weniger hohem Maße bestätigen kann. Dadurch wird der Text universell und eignet sich für fast jeden Leser, egal ob für die Verfechter der Frauenrechte oder für Männer, die die Sorgen und Nöte der eigenen Frau nicht verstehen, wenn diese plötzlich Mutter geworden ist. Möglicherweise wird so ein Roman in entsprechenden Kulturen, die eher rückschrittlich orientiert sind, noch mehr Aufruhr verursachen, denn in vielen kleinen Nebensätzen ergießt sich das ganze Ausmaß der Kritik, die hier schön sachlich und wohldosiert verpackt wird.

Schade nur, dass ich den direkten Bezug zu den Personen vermisst habe– dadurch das es eine so universelle Geschichte ist, fehlt ihr eine für mich nennenswerte Individualität. Deshalb ziehe ich ein halbes Sternchen ab, verbunden mit der Bitte, dass sich möglichst viele Leser an die Lektüre wagen und ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.

Bewertung vom 23.01.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


sehr gut

Und obwohl Vati selbst, ein undurchschaubarer Charakter war, der zwischen der Liebe zu seiner Frau, der Liebe zu jedem Buch, welches er in die Hände bekam und seinen persönlichen Erlebnissen im Krieg zerrissen wird – möchte sich seine zweitgeborene Tochter doch gerne an diesen Mann erinnern, der trotz etlicher Perioden Abwesenheit, immer wieder in den Schoß der Familie zurückkehrt ist und bis zu seinem Tod seinen Grundsätzen treu blieb.

Meinung

Bereits vergangenes Jahr konnte mich die Autorin mit dem ebenfalls biografisch orientierten Roman „Die Bagage“ sehr für sich einnehmen, so dass ich nun nicht nur die Geschichte ihrer Großeltern mütterlicherseits kennenlernen wollte, sondern gern auch ihre unmittelbaren Erlebnisse mit den eigenen Eltern, im speziellen mit ihrem Vater. Und auch hier wird schnell deutlich, wie wichtig der Vorgängerroman auch für diese Erinnerungen war, denn die Familie ihrer Mutter, pflegt einen ungewöhnlich engen Kontakt, wobei sich Schwestern und Brüder gleichermaßen verantwortlich fühlen und füreinander einstehen, gerade, wenn einer von ihnen in eine Krise gerät.

Deshalb nehmen die Tanten und Onkel der Autorin einen sehr großen Stellenwert in dieser Erzählung ein. Sie alle erfüllten im Leben von Monika gewissermaßen auch Erziehungsaufgaben gerade, nachdem Vati einen Selbstmordversuch hinter sich gebracht hat und auch später, als Mutti nach einem kurzen heftigen Krebsleiden ihrer Krankheit erlag. Das Auf und Ab der bewegten Familiengeschichte mit allen erdenklichen Nebenfiguren wird sehr vielschichtig und authentisch vermittelt. Es gibt Trennungen, Krankheiten, Sorgen und Nöte und meist wenig Geld – aber was immer im richtigen Moment zur Verfügung steht ist familiäre Einigkeit, die über alle unvermeidlichen Schicksalsschläge hinwegtäuscht und auch den Kindern zu einem stabilen Nervenkostüm verhilft, selbst wenn der Vater einmal nicht da ist und die Mutter nicht mehr. Gerade durch diese fehlenden Konstanten, die selten gleichzeitig wegbrachen, entwickelt sich auch zwischen den Geschwistern untereinander wieder eine starke Beziehung, selbst im Erwachsenenalter wissen sie, wie wichtig Familienbande ist.

Der Schreibstil liest sich sehr angenehm und immer angemessen distanziert, passend zu den tatsächlichen Inhalten. Denn ein Überschwang der Gefühle, knallende Türen und Schimpftiraden gab es eher selten, sowohl die Mutter als auch der Vater haben viele Gefühle für sich behalten und eine strikte Trennung zwischen Erwachsenen und Kindern vorgelebt. Aber die Zuneigung zueinander und den Familienmitgliedern ist dennoch spürbar, denn das vorherrschende Gefühl bei mir als Leser war Faszination. In meinen Augen ist es von entscheidender Bedeutung, wie Kinder aufwachsen, welche Werte ihnen vermittelt werden und wie stark man sich ihnen tatsächlich zuwendet, unabhängig von der investierten Zeit, denn was bringt es, wenn man Eltern hat, die zwar ständig da sind, aber niemals anwesend? Die vielen Unwegbarkeiten des Schicksals lassen sich in einem intakten Familienverband wesentlich leichter ertragen und genau den findet der Leser hier vor.

Fazit

Auch mit diesem Buch konnte mich die Autorin gut unterhalten, selbst wenn sich vieles wiederholt und es von Vorteil ist, auch „Die Bagage“ zu kennen. Ich vergebe gute 4 Lesesterne für eine einmalige, erinnerungswürdige Familiengeschichte aus Sicht diverser Protagonisten. Eine Erzählung über das Leben selbst, in Verbindung mit diversen Entscheidungen, mit feinsinniger Erzählstimme, aufgewertet durch Perspektivenvielfalt und abgerundet mit der Einsicht, dass der leichteste Weg nicht immer der beste sein muss.

Die Vaterfigur ist zwar meines Erachtens etwas blass geraten, die Wirkung von Vati eher unterschwellig greifbar, aber seine Liebe zu den Büchern scheint auch bei seiner Tochter prägende Spuren hinterlassen zu haben, die heute ihren eigenen Namen auf einem Buchrücken lesen kann, ganz so, wie sie es sich als Kind durch die Streifgänge der väterlichen Biblio

Bewertung vom 08.11.2020
Ada
Berkel, Christian

Ada


sehr gut

Dies war mein erstes Buch aus der Feder des deutschen Autors Christian Berkel, der nicht nur in der Filmbranche große Erfolge feiert sondern auch schon mit seinem Erstlingsroman „Der Apfelbaum“ für Aufsehen sorgte. Sein Debüt steht bei mir leider noch ungelesen im Regal, doch das werde ich demnächst ändern, denn obwohl ich diese Fortsetzungsgeschichte hier zuerst gelesen habe, hat mich der Erzählstil und die Art und Weise, wie es der Autor vermag seine Protagonisten lebendig werden zu lassen absolut überzeugt. Die Story ist ein gelungener Mix aus persönlicher, berührender Lebensgeschichte in Anlehnung an die historischen Rahmenbedingungen nach dem Krieg, an die Zeit des Wirtschaftswunders, des Mauerbaus und der 68er-Bewegung. Beides fließt gleichermaßen in den Text ein und erschafft ein umfassendes, wenn auch nicht ganz rundes Leseerlebnis mit zahlreichen Facetten und Einblicken in die Zeit meiner Elterngeneration.

Besonders einprägsam und animierend empfand ich die intensive und teilweise schockierende Ehrlichkeit, mit der die Ich-Erzählerin aufwartet. Sie scheint so gar nicht in das Weltbild ihrer Eltern zu passen, obwohl sie es doch in jungen Jahren noch wünscht, akzeptiert und geliebt zu werden. Ihre emotionale Abstumpfung gegenüber dem Elternhaus, ihr zwanghaftes Suchen nach anderen Wahrheiten hat mich definitiv bewegt, selbst wenn ich nicht immer nachvollziehen konnte, gegen was sie eigentlich rebelliert. Seltsamerweise hat sie im Erwachsenenalter anscheinend die richtige Mischung zwischen Nähe und Distanz gefunden, sie hat sich weitestgehend von ihren Eltern getrennt, doch hält selten aber manchmal noch Kontakt. Gerade der Mittelteil des Buches, in dem sie eine Jugendliche ist, hält viele Sachverhalte bereit, über die es sich nachzudenken lohnt, während mir zum Ende hin etwas gefehlt hat, irgendetwas, was Ada vielleicht an die nächste Generation hätte weitergeben können, doch sie tut es nicht, sie bleibt eine Gefangene ihres eigenen Weltbilds, hadert viel zu lange mit ihrer Vergangenheit und sucht überall auf der Welt nach Wahrheiten, die sie nicht findet oder die sich ganz anders entwickeln als sie dachte.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen flüssigen, intensiven Roman der oft wie eine Biografie wirkt, weil die Erzählstimme sehr dominant und nah an ihren eigenen Empfindungen bleibt. Der Text liest sich absolut top, man fliegt durch die Seiten, erlebt Szenen und Bilder hautnah, kann sich die Menschen und ihre Handlungen gezielt vorstellen und bekommt darüber hinaus noch das Gesellschaftsporträt einer ganzen Generation geliefert. Definitiv ein umfassender, detaillierter Roman mit Tiefgang. Gefehlt hat mir vor allem das Positive, die schönen Elemente, jenseits von wilden Drogenpartys, die auch nur dazu da waren, den Verstand abzutöten und den grauen Alltag zu vernebeln. Die nicht enden wollende Suche von Ada hat gerade im letzten Drittel des Buches einen eher schaalen Nachgeschmack, denn was meines Erachtens fehlt, ist Adas Aussöhnung mit ihrer Geschichte. Sie bleibt irgendwo zurück und schiebt viele Dinge von sich weg, was ihr versagt wurde, sucht sie nicht mehr, doch sie klagt nach wie vor an und kann nicht vergessen, was geschah, obwohl sie nun selbst zu den Erwachsenen gehört. Leider hat mich dieser letztlich negative Ausgang und die damit verbundene Aussage etwas enttäuscht, eben weil ich Menschen dieser Zeit kenne, die sich ganz anders und viel positiver entwickelt haben, die nicht so sehr im Selbstmitleid versunken sind, wie Ada. Demnach empfinde ich ihre Geschichte als eine äußerst individuelle und nicht als allgemeingültiges Dokument über die Entwicklung der Nachkriegsgeneration.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.11.2020
Die verschwindende Hälfte
Bennett, Brit

Die verschwindende Hälfte


sehr gut

Sehr positiv zu beurteilen ist die Charakterzeichnung der verschiedenen Figuren, denn diese ist nicht nur intensiv und aussagekräftig, sondern auch angepasst an die Handlung, die sich über einige Jahrzehnte erstreckt. Von den Müttern und ihrer besonderen Beziehung zueinander, rücken nun ihre Töchter ins Zentrum des Geschehens und auch deren Veränderungen über die Jahre, hin zu erwachsenen Frauen, die sich ebenfalls in ihrem Leben behaupten müssen, wenn auch unter ganz anderen Gesichtspunkten. Tatsächlich kann man hier mit jeder Figur Empathie empfinden, es sind ihre Verstrickungen untereinander, die Diskrepanz zwischen verschiedenen Hautfarben ist dabei zwar greifbar aber längst nicht der einzige Grund, warum sich die Frauen der Geschichte hier voneinander distanzieren und ihre Wege zum Ziel sind ebenfalls ganz differenziert zu betrachten. Gerade der Erzählstrang, warum sich Mütter und Töchter so ganz anders verhalten, vollkommen andere Prämissen für ihre Lebensgestaltung ansetzen und sich dennoch immer wieder fragen, warum das so ist, hat mir ausgezeichnet gefallen.

Dennoch bleibt dieser Roman für mich irgendwo stecken, eben weil er so viele Schlangenlinien verfolgt, die insgesamt zwar gut unterhalten, aber längst nicht so stark fesseln, wie ich mir das gewünscht hätte. Da gibt es den Lebensgefährten von Desiree, der sich als Privatdetektiv in der Weltgeschichte herumtreibt, um immer wieder zurückzukehren zu der Frau, die er schon seit Jahren liebt. Oder den Freund von Jude, der als Mädchen geboren wurde und sich nun über die Jahre zum Mann umoperieren lässt, sobald er es sich leisten kann – diese kleinen Ausflüge sind zwar interessant, führen in meinen Augen aber zu weit weg von der Kernhandlung, die immer mehr ins Abseits gedrängt wird. Viel lieber hätte ich noch mehr über Adele, die Mutter von Desiree und Stella erfahren, über ihr Leben in all den Jahren, ohne die Zwillinge und letztlich nur mit einer der beiden Töchter. Erst auf den letzten Seiten kommt die Autorin darauf zurück, dieser Passus war mir zu schwach ausgearbeitet.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für einen gut geschriebenen Roman über die Problematik verschiedener Hautfarben, über schwierige Mütter-Töchter-Beziehungen und letztlich über die Entwicklung ganzer Generationen, die zwar immer etwas Neues bewältigen müssen, die aber dennoch alle im gleichen Boot sitzen. Brit Bennett sensibilisiert den Leser für verschiedene Menschen, mit unterschiedlichen Interessen und Herangehensweisen, sie zeigt, das Verwandtschaft allein kein Garant für jedwede Beziehungsebene ist und das familiärer Zusammenhalt dennoch eine enorme Stütze sein kann, wenn das Leben sich wieder einmal von seiner erschreckenden Seite zeigt. Hätte sie sich mehr auf eine Linie festgelegt als so zahlreiche Fäden aufzunehmen, wäre meine Beurteilung sicher noch besser ausgefallen. Wer aber etwas darüber lernen möchte, wie viele Arten es gibt, sich einander fremd zu sein oder zu werden, der wird hier genau den passenden literarischen Text finden – die Interpretationsebene hingegen bleibt verhältnismäßig schwach ausgeprägt.

Bewertung vom 20.08.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


sehr gut

"Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf seinen Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis.“

Inhalt

Für den berühmten österreichischen Komponisten und Operndirektor Gustav Mahler ist es die letzte Reise zurück in die europäische Heimat, nachdem er in Amerika große Erfolge feiern konnte. Seine immer schlechter werdende Gesundheit zwingt ihn in die Knie und lässt sein grandioses Lebenswerk als Künstler unter dem Licht der Vergänglichkeit nochmals ganz anders erscheinen. Oben auf dem Schiffsdeck der „America“ eingewickelt in eine Decke, die gegen das Fieber nichts ausrichten kann, hängt Mahler seinen Erinnerungen nach und schließt Frieden mit einer Welt, aus der er sich bald verabschieden wird. Zurück bleibt die Überzeugung, dass er Vieles hätte anders machen können, nachdem seine ältere Tochter im Kindesalter verstorben ist, dass er in seiner Rolle als Mann und Vater nur mäßigen Erfolg hatte, ganz anders als auf den Bühnen der Welt. Seine große Liebe Alma begleitet ihn zwar auf dieser Reise, doch ihre Zuneigung hat sich schon längst auf ein Mindestmaß reduziert und orientiert sich mehr an den Verpflichtungen einer Ehe, denn an wirklicher Liebe. Und er wird sich immer sicherer: das Leben seiner Familie wird weitergehen, auch wenn er stirbt, sein Werk jedoch wird Bestand haben, obwohl ihm immer bewusster wird, dass er seine Prioritäten möglicherweise falsch gesetzt hat …

Meinung

Nun habe ich es endlich geschafft, einen Roman des in Wien geborenen Autors Robert Seethaler zu lesen, der bereits zahlreiche internationale Publikumserfolge erzielen konnte. Sein Schreibstil ist äußerst klar und zielgerichtet, wirkt reflektierend und angepasst an die traurige Handlung der Erzählung.

Fasziniert hat mich vor allem seine gekonnte Auswahl an Gedankengängen, die es dem Leser ermöglichen, ganz nah an die Person des Gustav Mahler heranzukommen. Insbesondere die minimalistische Benennung biografischer Sachverhalte, die mich direkt dazu animiert hat, mich parallel zu diesem Buch intensiver mit dem Künstler Mahler zu beschäftigen. Prinzipiell ein cleverer Schachzug, denn immer dann, wenn ich einen Gedanken im Kontext hatte, stockt die Erzählstimme und lässt die Neugier auf mehr Hintergründe wachsen.

Gleichzeitig sind diese Lücken aber auch ein Kritikpunkt meinerseits, denn hätte der Autor nicht so viele Fragmente geschaffen und sich stattdessen noch intensiver auf die historischen oder menschlichen Aussagen konzentriert, wäre meine Begeisterung für das Buch noch weit größer gewesen. Dieser Roman hätte gerne den doppelten Umfang haben können, oder die tatsächlich letzten Stunden des Protagonisten lebendig werden lassen. Der Schiffsjunge selbst, der die Abschlussszene gestaltet, ist doch eine viel zu blasse, willkürliche Person, die mir zu wenig Gewicht auf diesen persönlichen Rückblick legt.

Fazit

Ganz klar eine Leseempfehlung, der ich gute 4 Sterne gebe, gerade wenn man als Romanliebhaber auch mal in eine Biografie hineinschnuppern möchte. Wie der Klappentext bereits verspricht, erlebt man glasklare Momente der Schönheit und des Bedauerns – doch zu vieles bleibt ungesagt oder unbedacht. Ich lese definitiv noch ein anderes Werk des Autors, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen.

Bewertung vom 20.08.2020
Ein Sonntag mit Elena
Geda, Fabio

Ein Sonntag mit Elena


sehr gut

„Wir sind immer viel gereist. Unser Vater, Sonia, Ale. Von mir ganz zu schweigen – ich lebe praktisch aus dem Koffer. Aber zu Hause war ja Mama: Sie drehte sich mit uns, durch uns, und wir kreisten um die Wohnung am Lungo Po Antonelli wie Satelliten um einen Planeten.“

Inhalt

Giulia, die mittlere von drei Geschwistern erzählt hier rückblickend die Geschichte der eigenen Familie. Vom Vater, der nun allein in der Turiner Wohnung lebt, nachdem die Mutter bei einem tragischen Unfall das Leben verlor, von der großen Schwester, die mit ihrer Familie fortgezogen ist und vom kleinen Bruder, der als erfolgreicher Chemiker ständig um die Welt reist. Sie beschreibt den langsamen und erwartbaren Zerfall einer Familie, nachdem alle Kinder erwachsen geworden sind und ihrer eigenen Wege gehen. Dabei spart sie weder die kleinen noch die großen Verletzungen aus, die in der Vergangenheit geschehen sind, sie schildert ehrlich und manchmal auch anklagend all jene zwischenmenschlichen Verfehlungen, die nun dazu geführt haben, dass „Papa“ allein in seiner Wohnung sitzt und sich damit auseinandersetzen muss, den Lebensabschnitt des Alters neu zu strukturieren. Eine Zufallsbekanntschaft, die er eines Sonntags im Park trifft, wird ihm dabei helfen, ebenso wie er dieser unbekannten Frau mit dem Namen Elena neue Perspektiven eröffnet.

Meinung

Die Leseprobe zu diesem Buch hat mich sehr angesprochen und da ich Familienromane mit einer Botschaft sehr mag, habe ich zu dem aktuellen Roman des italienischen Autors Fabio Geda gegriffen, der eine komplexe und zugleich mühelose Handlung mit Empathie für seine Charaktere verspricht. Insgesamt bietet dieses Buch guten, weil bekannten und nachvollziehbaren Unterhaltungsstoff. Die Themen der Entfremdung und Annäherung zwischen Eltern und Kindern ziehen sich hier wie ein roter Faden durch die Geschichte. Und obwohl es inhaltlich nichts Neues ist und darüber hinaus ein ständiges Wechseln zwischen Haupt- und diversen Nebenhandlungen gibt, hat mich dieser Text dennoch bei der Stange gehalten. Dafür verantwortlich ist meines Erachtens der flüssige, liebevolle und weitsichtige Schreibstil des Autors, der in kurzen Kapiteln immer tiefer in die Geschehnisse zwischen den Familienmitgliedern hineinführt.

Am ehesten gestört hat mich die gewählte Erzählperspektive, die doch ungewöhnlich und auch nicht immer glaubhaft erscheint – die mittlere Tochter schildert hier ganze Passagen, die sie bestenfalls gehört haben könnte, jedoch nicht selbst erlebt hat. Als eine Möglichkeit, die Ereignisse intensiver und weniger individuell zu schildern kann man da noch mitgehen, allerdings hätte mir der Vater als Erzähler wesentlich besser gefallen. Wer kann schon aus zweiter Hand die Gedankengänge und Beweggründe eines anderen beschreiben?

Sehr sympathisch hingegen empfand ich die Kernaussage des Buches: Selbst wenn sich Lebenswege anders entwickeln als gehofft, bleibt die Chance, sich mit den Gegebenheiten auszusöhnen und einander wieder neu zu begegnen. Vielleicht nicht stereotypisch in der Rolle als Erziehender und Kind dafür aber auf Augenhöhe und mit der festen Absicht einander wichtig zu sein.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen generalistischen, ehrlichen Familienroman der durchaus Parallelen zum Geschehen anderer Familienverbände aufwirft. Hier kann man sich wiederfinden und hineindenken, muss wenig interpretieren oder hinterfragen, denn es fügt sich eins zum anderen. Wer eine schöne, harmonische Erzählung sucht, ist hier genau richtig. Besonders nachhaltig, anspruchsvoll und aussagekräftig ist die Lektüre aber nicht – also kein Buch, mit dem ich viele Erinnerungen teilen werde.

Bewertung vom 23.06.2020
flüchtig
Achleitner, Hubert

flüchtig


sehr gut

Meinung

Der Autor Hubert Achleitner, der sich bisher auf dem musikalischen Sektor zu Hause fühlte, startet mit seinem ersten Roman „flüchtig“ einen Ausflug in die literarische Schaffenskultur und schreibt eine warmherzige, ehrliche und menschennahe Geschichte über das Zerbrechen einer Partnerschaft, in der das Glück flüchtig ist und die Sehnsucht nach emotionaler Erfüllung immer mehr Wert gewinnt. Diese gut nachvollziehbare und verständliche Ausgangslage nimmt er als Anlass um sich der persönlichen Selbstfindung seiner Figuren zu widmen. Denn Maria, die nach ihrer Fehlgeburt in jungen Jahren, keine Kinder mehr bekommen konnte, hat sich mit diesem Zustand nie so wirklich auseinandergesetzt, die Kommunikation zwischen den Eheleuten ging schon lange gegen Null und dieser letzte Schritt, sich selbst von all den Verpflichtungen des Alltags loszusagen, scheint eine logische Konsequenz.

Der Text lebt durch seine vielen verschiedenen Perspektiven, mal ist es die einer jungen Frau, die Maria ein Stück des Weges begleitet hat, dann wieder die Überlegung der jungen Geliebten, die einer Beziehung mit Herwig und dessen Rolle als Vater nichts abgewinnen kann. Dadurch bekommt die bloße Schilderung einer Trennung und eines schmerzlichen Abschiednehmens einen gewissen Mehrwert und lässt auch die Nebenfiguren zum Teil des Ganzen werden. Nebenbei begleitet der Leser Maria auf ihrer Reise von den Bergen Österreichs hin zu dem weiten Blau vor der griechischen Küste, von ihrer traurigen Rolle als betrogene Frau hin zu einer Mittfünfzigerin, die auf der Suche nach Liebe und Glück ist. Aber auch Herwig, ein Mann der sich sein Leben so bequem wie möglich eingerichtet hat, stellt fest, dass es notwendig ist, über seinen Schatten zu springen, falls er jemals irgendetwas von seiner verschollenen Frau zurückgewinnen möchte.

Das Buch thematisiert deshalb auch stark die notwendigen Veränderungen innerhalb einer Paarbeziehung, um miteinander am Leben zu wachsen, bzw. zeigt es auf, dass Ignoranz und Desinteresse zu einer absolut gegenteiligen Entwicklung führen, die irgendwann zu einem willkürlichen Zeitpunkt in die scheinbare Schönheit eines leider leblosen Alltags einbricht.

Mein einziger wirklich geringfügiger Kritikpunkt an dieser sehr griffigen Erzählung ist der ausufernde Mittelteil, dort treffen viele Fäden zusammen, die diversen Stationen auf Marias Weg, das Leben als Mitglied eines Klosters, der Glaube an sich, die willkommene Einfachheit des Alltags für die griechischen Fischer. Stellenweise hat mich diese Schilderung gelangweilt und den Fokus nicht mehr auf Maria oder Herwig gelenkt, sondern auf die einzelnen Punkte eines Pilgerweges. Und letztlich ist es noch diese Traurigkeit, die sich ganz unterschwellig durch das ganze Buch zieht: irgendwann sind einfach zu viele gute Jahre verstrichen, die eigene kurz bemessene Lebenszeit speist sich in der zweiten Lebenshälfte vorwiegend aus Erinnerungen an die Vergangenheit. Ein Aufbruch ist zwar jederzeit möglich, doch irgendwie fehlt ihm die Orientierung, die Euphorie der Jugend und die Einsicht, dass ein rechtzeitiger Wandel mehr Wohlbefinden gebracht hätte.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen stimmigen, sympathischen Roman der mit viel Fingerspitzengefühl die Selbstfindung konkretisiert und die vergangenen Lebensstationen in Rückblicken lebendig werden lässt. Zwei Menschen, die ihr Leben miteinander geteilt haben, müssen einsehen, dass sie schon vor vielen Jahren den Draht zueinander verloren haben und finden nun im fortgeschrittenen Alter eine Lücke für sich selbst, um eigene Träume wahr werden zu lassen. Dieser Aspekt, dass Wünsche und Sehnsüchte nur dann ihre volle Schönheit entfalten, wenn sie gelebt werden, ist gleichermaßen ein wahrer wie trauriger Punkt, den diese Geschichte in den Fokus setzt.

Bewertung vom 23.06.2020
Ich bleibe hier
Balzano, Marco

Ich bleibe hier


ausgezeichnet

Der in Mailand geborene Autor Marco Balzano, Jahrgang 1978 arbeitet als Lehrer und folgt mit dem Schreiben seiner eigenen Passion - für sein literarisches Werk wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet und gilt als eine wichtige Stimme der italienischen Gegenwartsliteratur. „Ich bleibe hier“ ist bereits mein zweites gelesenes Buch von ihm, nachdem ich „Das Leben wartet nicht“ mit viel Begeisterung konsumiert habe.

Die Thematik des vorliegenden Romans widmet sich einerseits der Geschichte und der Veränderung einer Region, die zunächst durch den Krieg, später durch den Bau eines Staudamms nachhaltig verändert wurde und heute für viele ein lohnenswertes Ausflugsziel ist, zum anderen erzählt es eine sehr persönliche Geschichte über den mehrmaligen Verlust im Leben, über erzwungenes Loslassen an Dingen und Menschen, die man doch lieber für immer festgehalten hätte. Und so wird das Schicksal der Orte Graun und Reschen im Vinschgau mit all den Repressalien der damaligen Bevölkerung zur Hintergrundszene in einer emotional kraftvollen Erzählung über Unglück, Vertreibung, Flucht und dem Versuch sich den inneren und äußeren Mächten langfristig zu widersetzen.

Der Text richtet sich an die Tochter der Erzählerin und wirkt trotz der unfassbaren Ereignisse und den schicksalhaften Entwicklungen unaufgeregt und authentisch. In drei Teilen erzählt die Mutter vom Leben ohne das geliebte Kind, vom Leben im Krieg verbunden mit Flucht und späterer Rückkehr und letztlich vom Versuch sich die Heimat zurückzuerobern mit der Einsicht, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war. In jeder Zeile wird die Bedrückung und das Bedauern über die Zustände greifbar, aber ebenso das hoffnungsvolle Voranschreiten. Die Hauptprotagonistin ist zwar gefangen in den historischen Entwicklungen, sie kann dieser Zeit nur stellenweise entfliehen und richtet ihre Lebenskraft dennoch auf die Zukunft, auf ein besseres Leben, auf eine Entspannung in all den anstrengenden, lebensbedrohlichen Momenten, mit denen sie sich im Krieg konfrontiert sieht.

Besonders eindrucksvoll erscheint mir die Gesamtwirkung dieses Romans, der Fakten und Fiktion spannend verbindet, reale Ereignisse als Hintergrund spiegelt und doch vielmehr von den Menschen erzählt, die Rücksichtslosigkeit, Kriegshandlungen und politische Willkür erleiden müssen, ohne ihnen nennenswerten Widerstand bieten zu können. In Anbetracht der Erzählung wird man sehr nachdenklich, sie lässt darüber hinaus den heutigen Frieden und die politische Entwicklung als eine Errungenschaft erscheinen, die den Machtmissbrauch vergangener Tage als umso verachtenswerter wirken lässt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen wunderbaren Roman über eine starke Frau, eine schwere Lebenszeit, die ständige Herausforderung des Neubeginns, die Trauer, die einhergeht mit dem Verlust des liebgewonnenen Alltags und die Kraft, trotz jedweder denkbarer Rückschläge immer wieder aufzustehen und den nächsten Tag, die nächsten Jahre zu überstehen. Ganz klassisch und elementar steht hier nicht nur eine Person im Mittelpunkt, sondern übergreifend eine ganze Generation, deren Leben so oder ganz ähnlich verlief. Die Aussage des Textes ist tiefgreifend und bewegend, denn obwohl nichts so bleibt, wie es einmal war, gibt es doch immer einen inneren Frieden, den man finden muss und sich bewahren kann, um ohne Groll durchs Leben zu gehen.

Bewertung vom 22.04.2020
Marianengraben
Schreiber, Jasmin

Marianengraben


ausgezeichnet

Meinung

Die junge Autorin Jasmin Schreiber, die selbst als Sterbebegleiterin arbeitet, thematisiert in ihrem Roman „Marianengraben“ den traumatischen Verlust einer geliebten Person, die schwere Zeit danach und die ersten winzigen Schritte in eine Zukunft, in der das Leben weitergeht.

Dieses Buch hat einen ganz speziellen Ton, der recht ungewöhnlich für die traurige Wahrheit hinter dem ganzen Aktionismus ist, denn an vielen Stellen blitzt Humor auf, ergeben sich spektakuläre Zwischenfälle und dann auch wieder neue, traurige Entwicklungen. Zunächst war mir diese Art der literarischen Umsetzung etwas fremd, denn bedrückende Schwere und emotionale Verzweiflung kommen hier eher wenig vor. Paula führt mit Tim direkte Gespräche, sie erinnert sich an seine muntere, lebensbejahende Art und ihre geliebte Rolle als die große Schwester eines so intelligenten, fröhlichen kleinen Jungens, der schon mit 11 Jahren auf tragische Art und Weise sein Leben verloren hat.

Die Lebendigkeit wird auch in der Gegenwartshandlung sichtbar: eine spannende Reise mit spektakulären Erlebnissen und wenigen aber alles verändernden Gesprächen zwischen einem Mann mit Lebenserfahrung und einer jungen Frau, die es alleine nicht schafft, aus dem emotionalen Tief aufzutauchen und im Marianengraben ihres Herzens zu versinken droht. Der für mich zunächst befremdliche Erzählton hat mir aber immer besser gefallen und passt hervorragend zur Gesamtaussage des Romans und zu den jungen Menschen, die als Protagonisten auftreten. Überhaupt gelingt es der Autorin einprägsame, detaillierte Personenbeschreibungen anhand von kleinen Anekdoten aus dem Leben erlebbar zu machen. Sowohl Paula als auch Helmut bereichern die Geschichte ungemein und ergeben ein seltsames Paar, welches trotz aller Unterschiede doch auch genügend Gemeinsamkeiten aufweisen kann.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für einen traurig-schönen Roman über das Leben, das Sterben und sämtliche Nuancen des persönlichen Verlusts. Manchmal war mir der Stil zu lapidar, die Erlebnisse so humorvoll und lebensbejahend erzählt. Doch dazu muss man bedenken, dass Tims Todeszeitpunkt schon 2 Jahre zurückliegt, die Trauer also gar nicht mehr so neu für Paula ist und auch Helmut hat über viele Jahre seines Lebens verteilt immer wieder eine kleine Dosis von Abschieden hinnehmen müssen.

Idealerweise liest man das Buch ohne aktuellen Trauerfall oder dann, wenn man an dem Punkt angelangt ist, an dem man einsieht, dass der geliebte Mensch in dieser Welt nicht mehr greifbar sein wird, das eigene Leben aber auch einen Sinn besitzt und nicht nachlässig weggeworfen gehört. Für diese Zeit, in der es ganz langsam wieder aufwärts geht, macht die Reise von 11.000 km unter der Wasseroberfläche zurück nach oben viel Mut und bringt positive Aspekte mit sich. Ein richtig guter Roman, bei dem die Sentimentalität gezielt eingesetzt wird und auch nach dem Lesen eine Sinnhaftigkeit bestehen bleibt. Ungewöhnliche, aber lesenswerte Umsetzung über das Trauern in all seinen Facetten.

Bewertung vom 01.04.2020
Palast der Miserablen
Khider, Abbas

Palast der Miserablen


sehr gut

Dennoch gelingt es ihnen, dass beste aus der Situation zu machen. Als Jugendlicher findet Shams schließlich zu eine Gruppe Gebildeter, die sich in Privaträumen treffen und sich „Der Palst der Miserablen“ nennen. Dort erfährt er erstmals von Kunst und Literatur, die über das staatliche Reglement verfügbar ist, wenn auch illegal. Gemeinsam mit seinem Cousin, ebenfalls Mitglied der Gruppe, wagt er sich daran, verbotene Schriften zu verkaufen. Doch als eine der Mitgliederinnen ermordet wird, und sich zwei andere abseilen, zerfällt das wöchentliche Treffen und die Zurückgebliebenen, kämpfen abermals gegen Windmühlen.

Shams beschließt, sich nun ausschließlich seinen Abiturprüfungen zu widmen, um irgendwann der Heimat den Rücken kehren zu können, doch nur ein falscher Flügelschlag führt ihn ins Verderben, aus dem es unter der politischen Gewaltherrschaft Saddam Husseins kein Entrinnen mehr gibt.

Meinung

Die Hoffnung auf ein friedliches Leben ist die große Thematik der Romane von Abbas Khider, einem irakischen Autor, der selbst wegen politischer Aktivitäten verhaftet wurde und aus dem Gefängnis fliehen musste. Insofern merkt man der Lektüre an, wie schwer es sein kann, einfach nur ein normales Leben zu führen, wenn die Umstände vor der Haustür nach Rache, Vergeltung und Krieg schreien und es überhaupt keine Rolle spielt, wie wenig man als Individuum mit all dem zu tun haben möchte.

Sehr informativ und abwechslungsreich gestaltet er seinen aktuellen Roman. Ein Buch über das Erwachsenwerden unter der Gewaltherrschaft Saddam Husseins und der Ungleichheit der Bevölkerung innerhalb des eigenen Landes. Er schneidet dabei viele Probleme an, angefangen bei Armut, weiter zu fehlender Bildung und religiösem Fanatismus, bis hin zu ganz normalen Wünschen und Träumen eines Teenagers, der seinen Platz in der Welt sucht.

Besonders gut gefallen hat mir die Innensicht der Familie, die trotz schwerer Zeiten, miserabler Lebensumstände und persönlicher Fehlentscheidungen dennoch immer zusammengehalten hat, Eltern die sich zugewandt sind und die Eigenheiten des anderen akzeptieren, Geschwister, die füreinander einstehen und sich den Rücken frei halten und Liebe sowie Offenheit auch in Situationen, wo andere Familien auseinanderbrechen, weil sie dem äußeren Druck nicht gewachsen sind.

Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie schnell man durch persönliche Zuneigung ins Fadenkreuz der gesellschaftlichen Akzeptanz rücken kann, wie willkürlich das System an sich ist und wie radikal die exekutive Ausrichtung: Menschen verschwinden und tauchen nie wieder auf, Morde werden als Selbstmorde vertuscht und selbst das große Geld hilft nicht, die Willkür des Staates außer Kraft zu setzen. Letztlich zersetzt sich der Staat von innen, weil keiner einen Sinn und Zweck in dem Gemeinschaftskonstrukt sieht, in dem ein kleines Vergehen, derart hohe Wellen schlägt, während organisierter Mord anstandslos hingenommen wird. Wer fliehen kann, tut das, wer nicht muss untergehen …

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen bedrückenden Roman, der aus Innensicht eines Heranwachsenden geschrieben wurde und nicht nur die Armut und das Leid der Bevölkerung aufgreift sondern ihren Alltag abbildet. Zwar ist die Geschichte insgesamt etwas handlungsarm und formuliert keine allgemeingültige Aussage, sie wirkt fast biografisch, denn Shams hat die Rolle des omnipotenten Erzählers inne, der nur wenig andere Perspektiven zulässt, der nur sein Leid und die familiären Sorgen erörtert. Doch Vieles ist gerade durch die Nähe zu den Betroffenen spürbar.

Außerdem bereitet es dem Leser keine Probleme vom Einzelschicksal eines Jungen, auf die verfahrene Situation eines ganzen Volkes zu schließen. Die Schicksale werden einander ähneln, sind geprägt von Gewalt und Denunziation, vom alltäglichen Kampf und dem verzweifelten Hilferuf nach einem Ausweg, wie auch immer der aussehen mag. Insgesamt ein lesenswerter Gesellschaftsroman über die Strukturen eines Gewaltregimes und sein