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Euphorische
Männlichkeit
„Ich möchte mir kein Geschlecht erobern …“.
Linus Giese erzählt, wie er sich als trans Mann outete
VON NORA NOLL
Mal ist es eine Rakete, die rosa Funken in den Himmel schießt, mal eine Sahnetorte mit blauem Zuckerguss. „Gender-Reveal-Partys“ zeigen eindrücklich unsere Obsession mit dem binären Geschlechtssystem. Werdende Eltern laden Familie und Freundinnen ein, um ihnen das Geschlecht des Fötus zu offenbaren – mit einer farbcodierten Überraschung. Juhu, der Ultraschall zeigt endlich die primären Geschlechtsorgane unseres Babys, das muss gefeiert werden.
Das zwanghafte Einteilen in Mann und Frau ist allgegenwärtig. Die Autorin und Aktivistin für Transrechte Julia Serano nennt es auf den Alltag bezogen „Gendering“: Mit dem ersten Blick auf eine fremde Person steckt man sie in die vermutete Schublade. Cis Menschen, also Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei Geburt zugeschrieben wurde, fällt dieser alltägliche Mechanismus im Zweifelsfall nicht auf. Für Menschen, die nichtbinär oder trans sind, bedeutet „Gendering“ ein ständiges Überprüfen, Bewerten und Einordnen in eine womöglich falsche Schublade.
Wir leben in einer durchgegenderten Welt. Es braucht die Perspektive von genderqueeren und trans Menschen, um auf die fixen Gender-Normen aufmerksam zu machen. Linus Giese trägt mit seiner Autobiografie „Ich bin Linus“ zu dieser Bewusstwerdung bei. Er erzählt von seinem Outing als trans Mann, von Selbstliebe und Zweifeln, von Solidarität und Transfeindlichkeit, und macht anhand seiner eigenen Erfahrungen deutlich, was die Lebensrealität von trans Menschen über unsere Gesellschaft verrät.
Giese hat sich mit dem Buch viel vorgenommen. Er will anderen trans Menschen Mut machen und ein Vorbild sein, zugleich richtet er sich an ein Publikum, das mit Begriffen wie trans, cis oder Geschlechtsidentität nicht viel anfangen kann. Das führt manchmal zu stilistischen Spannungen, wenn ein pädagogischer Duktus neben radikaleren Forderungen steht, aber insgesamt gelingt es Giese, allgemein verständlich zu schreiben, ohne an Komplexität einzubüßen.
Als cisgeschlechtliche Leserin lernt man dabei viel Neues – zum Beispiel wie eine Peniskonstruktion funktioniert, was der „eggmode“ ist und ob die Hormonspritze eigentlich weh tut. Neben praktischen Fragen schreibt Giese viel zu sprachlicher und gesellschaftlicher Repräsentation. Bestimmte Formulierungen lehnt er ab: „Transmensch“ oder „Transmann“ signalisiert in seinen Augen eine Art Subkategorie von Mensch oder Mann, die durch das Suffix definiert wird. Er bevorzugt deshalb „trans“ als Adjektiv, das eine von vielen individuellen Eigenschaften bezeichnet. Ein „biologisches Geschlecht“ gibt es laut Giese nicht, denn die Bewertung einer bestimmten Kombination von Chromosomen, Hormonen und Geschlechtsorganen als männlich oder weiblich ist Produkt unserer Kultur. Statt „Geschlechtsumwandlung“ sollte von Transition gesprochen werden, weil ein trans Mann auch schon vor seinem Outing ein Mann war – ungeoutet eben. Er fordert mehr Sichtbarkeit von trans Menschen in Medien und Kultur, mehr Aufklärung für junge Menschen und Eltern. Und er träumt von einer Gesellschaft, die nicht jedes Attribut, sei es ein Kleidungsstück oder ein Körperteil, geschlechtlich auflädt.
Damit berührt Giese ein vermeintliches Paradox in Bezug auf trans Identitäten. Wie passt es zusammen, sich als männlich oder weiblich zu verstehen, und gleichzeitig die herkömmliche Geschlechtsbinarität zu hinterfragen? Warum brauchen wir die Kategorien Mann und Frau überhaupt noch, wenn sie offensichtlich nicht die Realität abbilden? Giese kann nicht erklären, worin genau sich sein Mann-Sein begründet – so wie Sie als Leser oder Leserin wahrscheinlich ebenfalls nicht wissen, was genau Sie nun zum Mann oder zur Frau macht. Aber er sieht den Beweis seiner Männlichkeit gerade nicht in dem Gefühl verankert, „falsche“ körperliche Merkmale zu haben. Dieses Gefühl der Dysphorie beruhe schließlich zum Teil auf der internalisierten Annahme, dass Männer mit Brüsten oder Frauen mit großem Adamsapfel „falsch“ sind.
Für Giese kann deshalb von trans Menschen nicht erwartet werden, bis zur vollkommenen Assimilation in eine Geschlechterrolle zu schlüpfen. „Ich möchte mir kein Geschlecht erobern, ich möchte Männlichkeit komplett vernichten und mit meinen eigenen Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen ersetzen”, schreibt er. Es ist für ihn kein Paradox, Mann zu sein und die starre Geschlechtsbinarität abzulehnen, sondern gerade in dieser Kombination seine grundlegende Überzeugung. Angesichts des Hasses, der Giese seit seinem öffentlichen Outing entgegenschlägt, wirkt die Vision offener Geschlechterrollen noch weit weg.
Giese, der als Buchblogger und aktiver Twitternutzer eine große Internet-Reichweite hat, wird von einer Gruppe „Anti-Fans“ beleidigt und bedroht. Zuerst auf die digitale Sphäre beschränkt, gingen die anonymen Belästiger irgendwann so weit, ihn bis zum Arbeitsplatz und in sein Wohnhaus zu verfolgen.
Es wird gerne unterschätzt, welche Diskriminierung queere Menschen immer noch erfahren. Entgegen der transfeindlichen Behauptung, ein sogenannter „Trans-Trend“ würde „Gender-Gaga“ propagieren, ist die konventionelle Geschlechterzweiteilung noch fest in den Köpfen verankert. Auch wenn Gender-Reveal-Partys nicht viel mit dem obsessiven Stalking eines trans Mannes zu tun haben, so lässt sich doch beides als Symptom unserer Gesellschaft verstehen. Gut ist, was „normal“ ist – entweder „normale“ Frau oder „normaler“ Mann.
Giese schreibt nicht nur über die Gewalt von außen, er geht auch auf Selbstverleugnung und Selbsthass ein. Er vermittelt eine Ahnung davon, wie schmerzhaft es sein muss, jahrelang einen Teil der eigenen Identität zu verdrängen. Dennoch will er nicht auf den Part seiner Geschichte reduziert werden, der weh tut. Er betont stattdessen lieber Momente der Euphorie: Als er zum ersten Mal seinen Bart rasierte, zum ersten Mal in der Herrenabteilung shoppen ging oder auch zum ersten Mal seine Nägel lackierte. Gieses Leben nach dem Outing ist ein befreites. Unfrei sind die, die sich durch seine Existenz bedroht fühlen.
Mit dem ersten Blick auf eine
fremde Person steckt man sie
in die vermutete Schublade
Giese schreibt über die Gewalt
von außen und geht auch auf
Selbstverleugnung ein
Linus Giese: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 224 Seiten, 15 Euro.
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