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Das Versetzen von Ortstafeln, das Anbringen einer neuen Aufschrift, der Streit um Gedenktage - solche Veränderungen machen deutlich, wie stark politisch-gesellschaftliche Ereignisse realer und symbolischer Landkarten und zeitlicher Bezugspunkte bedürfen. Auch das "Volk der Leser" braucht eine eigene Landkarte und die korrespondierenden Daten. Peter Handke hat für sie, für uns in seinen Essays die Rolle des Kartographen und Chronisten der letzten vier Jahrzehnte übernommen: In Schrift-Text-Bildern breitet er in allen Dimensionen die persönliche Karte der Kunstkontinente aus - von Prosa, Drama, Lyrik, Essay, Film und bildender Kunst.…mehr

Produktbeschreibung
Das Versetzen von Ortstafeln, das Anbringen einer neuen Aufschrift, der Streit um Gedenktage - solche Veränderungen machen deutlich, wie stark politisch-gesellschaftliche Ereignisse realer und symbolischer Landkarten und zeitlicher Bezugspunkte bedürfen. Auch das "Volk der Leser" braucht eine eigene Landkarte und die korrespondierenden Daten. Peter Handke hat für sie, für uns in seinen Essays die Rolle des Kartographen und Chronisten der letzten vier Jahrzehnte übernommen: In Schrift-Text-Bildern breitet er in allen Dimensionen die persönliche Karte der Kunstkontinente aus - von Prosa, Drama, Lyrik, Essay, Film und bildender Kunst.
Autorenporträt
Handke, Peter
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman Die Hornissen. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks Publikumsbeschimpfung in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann. Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfaßt, erinnert sei an: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Wunschloses Unglück (1972), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die linkshändige Frau (1976), Das Gewicht der Welt (1977), Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Bildverlust (2002), Die Morawische Nacht (2008), Der Große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013). Auf die Publikumsbeschimpfung 1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, Kaspar. Von hier spannt sich der Bogen weiter über Der Ritt über den Bodensee 1971), Die Unvernünftigen sterben aus (1974), Über die Dörfer (1981), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990), Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), über den Untertagblues (2004) und Bis daß der Tag euch scheidet (2009) über das dramatische Epos Immer noch Sturm (2011) bis zum Sommerdialog Die schönen Tage von Aranjuez (2012) zu Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der L

andstraße (2016). Darüber hinaus hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Formenvielfalt, die Themenwechsel, die Verwendung unterschiedlichster Gattungen (auch als Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur ist Peter Handke aufgetreten) erklärte er selbst 2007 mit den Worten: »Ein Künstler ist nur dann ein exemplarischer Mensch, wenn man an seinen Werken erkennen kann, wie das Leben verläuft. Er muß durch drei, vier, zeitweise qualvolle Verwandlungen gehen.« 2019 wurde Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.01.2008

Die Absolution wird erst auf der Zielgeraden erteilt
Wer stört denn da schon wieder die Poesis? Peter Handkes wunderbare Einlassungen zur Literatur sind unduldsam gegen jede Grinsgeselligkeit
Am Ende seiner Danksagung für die Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Salzburg hat sich Peter Handke ein für alle Mal aus der Öffentlichkeit verabschiedet. „Liebe Leute”, hat er damals gesagt, „es hat mich gefreut, dass ich hier sein durfte. (. . .) Ab jetzt könnt ihr mich vor Gericht bringen, wenn ich noch einmal im Leben öffentlich auftreten sollte.” Das war 2004, und es war, als öffentlich vollzogene Auftrittsverweigerung, noch einmal ein richtiger Handke-Auftritt, der letzte womöglich in einer langen Reihe von publikumswirksamen und -verstörenden Auftritten, deren erster wohl jener in Princeton 1966 gewesen war, als Handke die versammelte Gruppe 47 der Unerheblichkeit zieh. Aber war Salzburg nun, wie angekündigt, wirklich Handkes letzter Auftritt? Darauf fiele eine Antwort leichter, wenn man wüsste, was die Wörter „öffentlich” und „auftreten” in diesem, in Handkes, Zusammenhang bedeuten. Tatsächlich hat Handke keine Ehrendoktorate mehr angenommen, keine Lesungen bestritten und keine Reden mehr gehalten. Ihm wurden zwar Literaturpreise zuerkannt, aber er brauchte sich nicht öffentlich für sie zu bedanken, weil sie ihm noch vor der Verleihung wieder aberkannt wurden – so bekanntlich geschehen mit dem Heine-Preis der Stadt Düsseldorf.
Ganz öffentlichkeitsabstinent ist Handke dann allerdings doch nicht gewesen. Auf Slobodan Milosevics Beerdigung hat er ein Gedenkwort gesprochen, aber war das nun ein öffentlicher Auftritt? In Handkes Wahrnehmung mag es eine private Geste gewesen sein, aber eine solche Wahrnehmung würde verkennen, dass Handkes Verhältnis zur Öffentlichkeit, gleich ob, wie und wo er auftritt, private Gesten nicht mehr zulässt. Auch wenn Handke in einem serbischen Dorf im Kosovo zu Ostern Gaben verteilt und den Gottesdienst besucht, wird daraus unweigerlich eine feuilletonistische Performance. Dafür macht Handke in der Regel die Öffentlichkeit verantwortlich, die Öffentlichkeit aber könnte zu bedenken geben, dass Handke es war, der ihr Licht gesucht und in ihm nicht schlecht gelebt hat. Wie man es auch dreht und wendet, Handkes Verhältnis zur Öffentlichkeit ist zerrüttet. Aber diese Zerrüttung ist zugleich wieder ein Gegenstand des öffentlichen Interesses, und das hat für den Autor immerhin den Vorteil, dass es um sein Werk nie so medienstill wird, wie er es sich in seinen öffentlichen Verlautbarungen immer wieder einmal wünscht.
Meutendrang und Zotenhang
„Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln” heißen die gesammelten Essays, Reden, Laudationes, Kritiken und anderen kleinen Arbeiten, die nun zu Handkes 65. Geburtstag in einem dicken Band vereint wurden. Weil es bei Handke keine (oder nur) Nebensachen gibt, keine Gefälligkeiten und auch keine Gelegenheitsarbeiten mit ermäßigtem Ernst, brennt in seinem öffentlichen Schreiben und Reden jederzeit eine Lunte. Peter Handke kann sich mühelos in Rage reden, nicht nur über österreichische Polizisten, die ihn grundlos anherrschen („Meutendrang, Zotenhang, Grinsgeselligkeit”), sondern über alle möglichen Spielverderber, Friedensstörer und „Seins-Nichtse”, die sich nicht in die spezifische Gestimmtheit seines Weltzugangs fügen wollen. Das Grundmuster solcher Ausbrüche ließe sich vielleicht als „gestörte Poesis” beschreiben. Zwei Beispiele: Irgendwann in den sechziger Jahren fühlt sich Handke in einem Berliner Kino beim Schauen von Peckinpahs „Sacramento” durch andere Zuschauer gestört. „Auf diesen unendlich schönen, ruhigen und traurigen Film, in dem man aufatmen und schauen konnte, reagierten die linken Nachtvorstellungsbesucher, die blind mit ihren elendblöden, lauten Zicken in die Nachtvorstellung geraten waren, mit besoffenem Grölen, Brüllen und Schreien.” Natürlich gehört die Sympathie des Lesers dem einsamen Kinogeher und nicht der tumben Meute, und das gilt auch ein paar Jahrzehnte später, wenn Handke in seinem folgenreichen Essay „Abschied des Träumers vom Neunten Land” davon schwärmt, dass er sich in Slowenien beim Wein, im Bus oder beim Kirchturm als „Gast der Wirklichkeit” habe erleben dürfen und beklagt, wie dieses Erlebnis nun von der FAZ, von westlichen Regierungen und slowenischen Nationalisten gemeinsam zerstört worden sei. „Mein Wunsch”, damals im Berliner Kino: „dass man sie zusammentun würde, die linke und die rechte Scheiße, die liberale Scheiße dazu, und eine Bombe drauf schmeißen.” Ist es die Wut über die (planmäßig?) von Anderen vereitelte oder beeinträchtige Poesis, die Handke manchmal im Handumdrehen in einen Krieger verwandelt? Gäbe es die rhetorisch heiß laufenden Ausfälle etwa gegen die Nato, die westliche Presse und andere Feinde Serbiens und/oder der Poesie in Handkes Arbeiten nicht, man würde sie nicht wirklich vermissen. Aber es gäbe ohne sie den ganzen übrigen Handke eben auch nicht.
Zum Glück ist in diesem Buch vom Serbien-Komplex nur sehr am Rande die Rede, auch deshalb, weil es sich ja vorwiegend um ältere Texte handelt. Für den Anlass sind sie noch einmal neu sortiert worden, wobei sichtbar wird, womit sich Handkes öffentliches Reden in den vergangenen Jahrzehnten vorrangig befasste: mit der Literatur, und das heißt mit Dichtern, Übersetzern und, im Singular, dem Verleger, dem beinahe einzigen, den Handke hatte, nämlich Siegfried Unseld. „Zu den unverwöhnbaren Dichtern” heißt das allein fast 300 Seiten füllende Kapitel, und es lohnt sich, dem schönen Wort „Unverwöhnbarkeit” eine kurze Betrachtung zu widmen. Auch hier geht es wieder um das Verhältnis des Dichters zur Öffentlichkeit, um den von Handke beargwöhnten Typus der literarischen „Öffentlichkeitsinstanz”, die er in „Gastpoeten”, „Poetiklehrern”, „Dichterprofessoren” und anderen Günstlingen des „Betriebs” verkörpert sieht – Namen fallen nicht. Dem gegenüber will Handke für die und von den „Unverwöhnten” sprechen, die im Schatten stehen und die es sich dort gewollt-ungewollt eingerichtet haben. Und hier fallen natürlich Namen: Karl Philipp Moritz, Adalbert Stifter, Hermann Lenz, Ludwig Hohl, Nicolas Born und viele andere. Peter Handke, das zeigen diese drei Dutzend „Essays”, „Bemerkungen”, „Lektüren” oder was immer, ist der sorgfältigste, unerbittlichste, großzügigste und freundlichste Leser, den man sich vorstellen kann.
O möge es nicht aufhören!
Am aufschlussreichsten sind diese Texte dort, wo sie mit Autoren beschäftigt sind, denen Handkes uneingeschränkte Zuneigung nicht gilt. Das sind vielfach jene Autoren, die er mit anderen Juroren für den Petrarca- und später den Hermann-Lenz-Preis ausgewählt hat. Herbert Achternbusch, Arnold Stadler und Ralf Rothmann werden allesamt streng herangenommen für etwas je verschieden Tadelnswertes (das Verbindende auch hier wieder: der Verdacht einer halbherzigen, jedenfalls nicht wirklich inständig versuchten „Poesis”), ehe ihnen auf der Zielgeraden doch noch die Absolution erteilt wird. Man wünscht sich von diesen Einlassungen auf Literatur, dass sie nicht aufhören (es wäre schlecht für die Literatur), gleich wie Peter Handke und die Öffentlichkeit ihr kompliziertes Verhältnis in Zukunft gestalten wollen.CHRISTOPH BARTMANN
PETER HANDKE: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967 – 2007. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 624 Seiten, 25 Euro.
Peter Handke Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2008

Der Täufer und der liebe Gott

Bei Ranke las er sich Mut an für den täglichen Kampf gegen Springer und andere: Peter Handkes Reden und Essays aus vierzig Jahren verströmen heiligen Zorn.

Bei seiner eigenen Arbeit, sagt der Dichter, während er über einen anderen Dichter spricht, sei ihm oft ein Mann aus der Bibel in den Sinn gekommen, "den ich mir dann, als den Patron für uns Schriftsteller, oder überhaupt für die Künstler, dachte". Wer mag das wohl sein? "Man möge ruhig darüber lachen: Es ist Johannes der Täufer." Denn ebenso, wie jener immer von dem Größeren sprach, der nach ihm käme, "so empfinde auch ich immer, es nicht zu schaffen, doch einer, oder nicht bloß einer, würde auftreten . . . und schreibend sagen, was der Fall ist: einfacher, dringlicher, erlösend".

So einfach und dringlich steht es in der Lobrede, die Peter Handke 1984 auf den slowenischen Dichter und Petrarca-Preisträger Gustav Janus gehalten hat. Und natürlich kam schon damals niemand auf den Gedanken, über diese Sätze zu lachen, denn wie immer, wenn er über das Handwerk des Schreibens spricht, meinte Handke es bitterernst. Es ist derselbe missionarische Ernst, der aus der Philippika gegen die "bieder-wahnsinnigen Unholde", die "selbstversessenen Mietlinge" der deutschen Literaturkritik und das "minderwertigste, schändlichste, menschenunwürdigste Spektakel" der Klagenfurter Dichterlesungen spricht, mit dem die Janus-Preisrede anfängt. Und es ist derselbe heilige Zorn, mit dem Handke schon fünfzehn Jahre vorher, anlässlich eines enttäuschend verlaufenen nächtlichen Kinobesuchs, "die linke Scheiße und die rechte Scheiße" zusammensperren "und eine Bombe draufschmeißen" will und mit dem er zehn Jahre später, in einer Laudatio auf den Filmwissenschaftler Helmut Färber, die "Schalterleute" der Kinokritik mit ihren "blödlässigen ahnungslosen Kintoppvisagen" beschimpft. Wenn es um Kunst geht, wird Handke stets persönlich, ganz gleich, ob er lobt oder verdammt. Und so sind auch seine Aufsätze, Reden und Miszellen aus den vergangenen vierzig Jahren, die der Band "Meine Ortstafeln - Meine Zeittafeln" versammelt, vor allem eines: Aussagen zur Person.

Es beginnt mit Angst und Scham. "Ich wollte mich überallhin verkriechen." Und: "Mit dem Weihwasser betupfte ich mir beim Verlassen der Kirche die Pickel auf der Stirn." So erinnert sich der einstige Zögling des Priesterseminars Maria Saal im Krawalljahr 1968 an die Zeit, als er fünfzehn war, an die späten fünfziger Jahre. Dreieinhalb Jahrzehnte später reist Handke nach Athen, um im Stadtteil Kolonos nach Spuren des sophokleischen Ödipus zu suchen, des Mannes, der sich vor Scham und Schuld die Augen ausstach. Ein Kenner Griechenlands warnt ihn, in Kolonos sei nichts los: "c'est nul". Er setzt hinzu: " . . . und also werde es mir dort gefallen." So ist es. Der Text, in dem Handke von seiner Pilgerfahrt berichtet, ist einer der schönsten dieses Sammelbandes, weil er aus dem Nichtfinden ein Finden, aus dem Scheitern ein zauberisches Gelingen macht. Es gibt nichts zu sehen in der Athener Vorstadt, noch nicht einmal, von fern, die Akropolis; trotzdem ist alles da, was ein Schriftsteller braucht. Handke hat es, außer in seiner Prosa, auch mit Kamera und Zeichenstift festgehalten: Straßenschilder ("Jokastestraße"), Olivenbäume, Wasserlachen, ein gepflasterter Weg aus der Antike. "Bank, Gras, Orangenschalen, Steinchen." Nichts Weltbewegendes. Und doch eine Welt. Das sind die zwei Gebärden des Schriftstellers Peter Handke: eine, die sucht, und eine, die segnet. Die des Pilgers und die des Johannes. Beide treffen zusammen in den Lobreden auf die "unverwöhnbaren Dichter", die den größten Teil des Bandes ausmachen, gut dreihundert von sechshundert Seiten: Hermann Lenz, Nicolas Born, Ludwig Hohl, Ralf Rothmann, Arnold Stadler, Klaus Hoffer, John Berger und viele, viele andere. Handke ist zu ihnen gepilgert, er hat sich in ihre Texte und, wie im Fall von Hermann Lenz, auch in ihre Lebenswelt versenkt. Nun nimmt er sie mit ans Ufer seines Jordans und tauft sie: im Namen nicht einer Religion, sondern der einen und ewigen Literatur.

Sie, die Literatur, ist das Ding an sich des Wortgläubigen Peter Handke. "Die Natur ist. Die Kunst ist." So steht es in der Dankrede für den Franz-Kafka-Preis, die in Wahrheit eine Rede gegen Kafka ist, den "schadenfrohen, rechthaberischen Widersacher", den Ironiker, den Nominalisten. Die Hoffnungslosigkeit von Kafkas Helden ist Handke ein Graus; ihm erscheint die Schöpfung als Herausforderung, die er - "vielleicht, vielleicht" - schöpferisch bestehen will. Allzu groß darf man dieses Vielleicht nicht schreiben. Handkes Schriftstellerei ist, so oft sie auch vom Scheitern und Versagen redet, aufs Gelingen angelegt, auf Erfüllung. Ein "Erlösungsspiel" nennt er Kafkas Fragment vom "Naturtheater von Oklahoma", das einzige Kafka-Werk, von dem eine Brücke zu Handke führt. Und in der Petrarca-Preisrede auf Alfred Kolleritsch spricht er von der "Bescherung einer unverhofft lebendigen Zeit" durch dessen Gedichte.

Bescherung, Erlösung: Die Sprache der Priesterschule klebt an den Schuhen des entsprungenen Schülers Handke, während er die Menschen- und Dingwelt durchstreift. Daher sein heiliger Zorn, sein unheiliges Geschimpfe. Wer es weniger ernst meint als er, kommt in den Karzer seines Keifens. Wen er aber erkennt als seinesgleichen, dem gibt er sich gänzlich hin. Nicht der Leser, heißt es in der Preisrede auf Jan Skácel, habe dessen Gedichte sich einverleibt, vielmehr sei es umgekehrt gewesen - die Lektüre als mystische Kommunion. Sie gewährt eine Empfindung "wie die von wärmendem Sommergras unter den bloßen Sohlen".

Niemand kann besser, schöner, genauer rühmen als Handke, wenn er, wie Dantes Höllenwanderer, unter den Sündern im literarischen Fegefeuer einen Landsmann trifft. Mit Inbrunst zitiert und kommentiert er die "Einzelsätze" eines Hermann Lenz ("Der Kühler hatte Regentropfen") und die "herrischen Wortsetzungen" eines Jürgen Becker. Wer von Handke getadelt wird, wie Herbert Achternbusch, dem er eine "Lebenshaltung der selbstbetörten Geschmerztheit" bescheinigt, darf sich zugleich geadelt fühlen, denn die Kritik endet mit Bewunderung - "für die Sätze im Schwarzen, aus dem Stand geschossen". Jedem Pfeil, den er verschießt, schickt Handke eine Rose nach.

Es gibt auch eine Reihe von Kinotexten in diesem Buch, eine Folge von Kunstaufsätzen und einen Abschnitt, der "Politisches" überschrieben ist. Hier kann man etwa nachlesen, dass der frühe Handke, in der lärmend-umständlichen Sprache jener Jahre, "das ökonomische Modell des Marxismus als das einzige noch mögliche Modell einer halbwegs annehmlichen Ordnung" ansah und sich bei Leopold von Ranke Mut anlas für den täglichen Kampf gegen den Springer-Konzern. Aber solche Fundstücke erzählen mehr über die Zeit, in der sie entstanden, als über den, der sie schrieb. Der wichtigste, umstrittenste Aufsatz Handkes, die vielfach publizierte "Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina" von 1996, fehlt ohnehin in der Sammlung, nur der "Abschied des Träumers vom Neunten Land" kündet von Handkes Windmühlenkampf um das verlorene Reich Jugoslawien. So ist die Spur des "politischen" Peter Handke um ein Loch herum gezeichnet.

Der bei weitem größte Teil der Texte dieses Bandes ist schon in früheren Sammlungen erschienen. Das könnte den Handke-Leser dazu verleiten, das Buch links liegenzulassen. Es wäre ein Fehler. Denn diese "Orts- und Zeittafeln" sind keine Fußnoten zum Werk des Dichters, sie sind der ganze Handke noch einmal. Was die Romane und Erzählungen auf sechstausend Seiten entfalten, verdichten sie auf sechshundert. Man kann in diesem Buch wie in einem Album blättern oder es wie eine Gerichtsakte studieren; am besten aber liest man es als Porträt: als allmähliche Verfertigung eines Selbstbilds beim Schreiben. So, als Wunschfigur, hat Leonardo da Vinci den Täufer gemalt: mit hoch aufgerecktem, kerzengeradem Zeigefinger und Wanderstab. Und mit einem Lächeln.

ANDREAS KILB

Peter Handke: "Meine Ortstafeln - Meine Zeittafeln". 1967 - 2007. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 624 S., geb., 25,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dieser Band versammelt Nebenwerke des Dichters Peter Handke. Eigentlich aber, so der Rezensent Christoph Bartmann, gibt es so etwas im Werk dieses Autors gar nicht. Darum geht es durchaus auch in diesen Essays, Preisreden und anderen kleineren (in einem Fall aber, einem Artikel über Handkes Verleger Siegfried Unseld, 300 Seiten langen) Texten immer ums Ganze. Auf die polemischen Ausfälle Handkes gegen Kollegen, die Presse, die Öffentlichkeit und manchmal die ganze Welt könnte der Rezensent dabei noch am ehesten verzichten, wie er versichert. Beeindruckt zeigt er sich aber vom Leser Peter Handke, der als Leser ein Liebender sein kann. Fast interessanter noch wird es aber, so Bartmann, da, wo er Einwände erhebt, gegen Herbert Achternbusch etwa oder Arnold Stadler, um dann am Ende doch zum Lob zu gelangen. Davon würde der Rezensent gerne auch in der Zukunft noch viel lesen.

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