»Noch zu seinen Lebzeiten sind die beiden Bücher zu einem ungeheuren Erfolg geworden. Sie lagen in den englischen Kinderzimmern wie in der Offiziersmesse in Kalkutta; sie wurden gelesen von Königin Viktoria wie von Oscar Wilde; sie werden heute im englischen Parlament ebenso selbstverständlich zitiert wie in der Reklameserie einer Elektrofirma; und ihr Lob steht in der Times nicht weniger zu lesen als in den Schriften der französischen Surrealisten Aragon und Breton.« Christian Enzensberger
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2015Zurück ins Wunderland
Zum 150. Jahrestag erscheint die komplette und ungekürzte „Alice“ neu
„Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer still zu sitzen und nichts zu tun.“ So lautet 1865 der erste Satz von Lewis Carrolls Alice im Wunderland, und was darauf folgt, hat in 150 Jahren nichts an Reiz verloren: nicht als Klassiker des britischen Humors, nicht als spitzzüngiges Spiel mit der Sprache und mit den Gespreiztheiten der Erwachsenen. 1865 ein Buch für Kinder, bis auf den heutigen Tag jedoch auch eine Fantasiereise für Menschen jeden Alters. Eine Geschichte, deren Figuren ein stotternder Mathematikprofessor für die zehnjährige Alice Lidell, die Tochter seines Dekans, erfindet und nur auf Drängen zu einem Buch ausarbeitet. Eine Liebeserklärung und eine Romantisierung der Kindheit, als Kunstwerk unumstritten, als Dokument der Freundschaft eines erwachsenen Mannes zu Kindern, vor allem zu Mädchen, den Zeitgenossen und der Nachwelt suspekt.
Lewis Carroll war kein glücklicher Mensch und ein schwieriger Partner für den ersten Illustrator, für den berühmten John Tenniel, dessen Arbeit aber zum Erfolg des Buches beiträgt. Alice sagt es selbst im Roman: „Wozu taugt ein Buch ohne Bilder?“ Entsprechend oft ist ihr Wunderland seither adaptiert worden. Zum Jubiläum auch von der Illustratorin Floor Rieder, die zuletzt das Sachbuch Evolution zum Augenschmaus gemacht hat. Sie arbeitet mit kräftigen Linien, unsentimental, ornamental, zuweilen angelehnt an die Strenge jener Spielkarten oder Schachzüge, welche die Erzählungen von Alice im Wunderland sowie die Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln (1871) prägen. Denn auch das gehört zu diesem Klassiker: dass Lewis Carroll die Geschichte weiterschreibt, als Alice eine junge Dame ist, mit der er schon lange keinen Umgang mehr pflegen darf. Spiegelverkehrt zusammengebunden, in der klassischen Übersetzung von Christian Enzensberger, lebt die zuletzt recht einseitige Freundschaft in diesem Band für die Nachwelt weiter.
MICHAEL SCHMITT
Lewis Carroll: Alice im Wunderland / Alice hinter den Spiegeln. Mit Illustrationen von Floor Rieder. Gerstenberg 2015. 384 Seiten, 25 Euro.
Illustration Floor Rieder: Alice im Wunderland
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zum 150. Jahrestag erscheint die komplette und ungekürzte „Alice“ neu
„Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer still zu sitzen und nichts zu tun.“ So lautet 1865 der erste Satz von Lewis Carrolls Alice im Wunderland, und was darauf folgt, hat in 150 Jahren nichts an Reiz verloren: nicht als Klassiker des britischen Humors, nicht als spitzzüngiges Spiel mit der Sprache und mit den Gespreiztheiten der Erwachsenen. 1865 ein Buch für Kinder, bis auf den heutigen Tag jedoch auch eine Fantasiereise für Menschen jeden Alters. Eine Geschichte, deren Figuren ein stotternder Mathematikprofessor für die zehnjährige Alice Lidell, die Tochter seines Dekans, erfindet und nur auf Drängen zu einem Buch ausarbeitet. Eine Liebeserklärung und eine Romantisierung der Kindheit, als Kunstwerk unumstritten, als Dokument der Freundschaft eines erwachsenen Mannes zu Kindern, vor allem zu Mädchen, den Zeitgenossen und der Nachwelt suspekt.
Lewis Carroll war kein glücklicher Mensch und ein schwieriger Partner für den ersten Illustrator, für den berühmten John Tenniel, dessen Arbeit aber zum Erfolg des Buches beiträgt. Alice sagt es selbst im Roman: „Wozu taugt ein Buch ohne Bilder?“ Entsprechend oft ist ihr Wunderland seither adaptiert worden. Zum Jubiläum auch von der Illustratorin Floor Rieder, die zuletzt das Sachbuch Evolution zum Augenschmaus gemacht hat. Sie arbeitet mit kräftigen Linien, unsentimental, ornamental, zuweilen angelehnt an die Strenge jener Spielkarten oder Schachzüge, welche die Erzählungen von Alice im Wunderland sowie die Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln (1871) prägen. Denn auch das gehört zu diesem Klassiker: dass Lewis Carroll die Geschichte weiterschreibt, als Alice eine junge Dame ist, mit der er schon lange keinen Umgang mehr pflegen darf. Spiegelverkehrt zusammengebunden, in der klassischen Übersetzung von Christian Enzensberger, lebt die zuletzt recht einseitige Freundschaft in diesem Band für die Nachwelt weiter.
MICHAEL SCHMITT
Lewis Carroll: Alice im Wunderland / Alice hinter den Spiegeln. Mit Illustrationen von Floor Rieder. Gerstenberg 2015. 384 Seiten, 25 Euro.
Illustration Floor Rieder: Alice im Wunderland
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