HERZ AUF TAILLE, Erich Kästners erstesBuch, erschienen 1928, brachte ihm Erfolg und Anerkennung. Kunstvoll fügte er aus einer großen Anzahl eigener Verse, die bereits in Zeitungen erschienen waren, neunundvierzig Gedichte zu einem Mosaik gesellschaftlicher Stimmungen zusammen. So entstand eine eigenwillige, thematisch reichhaltige Komposition. Zwischen die für ihn programmatischen Gedichte JAHRGANG 1899 und STIMMEN AUS DEM MASSENGRAB, mit denen er seine Auswahl beginnen lässt, stellt er andere Zeitgedichte, die in Form und Inhalt bis heute an Gültigkeit nichts eingebüßt haben. Lyrische und groteske, ernste und heitere, realistische und fiktive Texte stehen nebeneinander, so dass leicht der Eindruck des Zufälligen entsteht. Doch weit gefehlt: Kästners Zusammenstellung unterstreicht den Zug der Zeit, die Schnelllebigkeit, die die beginnende Technisierung brachte, so dass es dieser Verse bedurfte, um auf Versäumtes und Fehlgeleitetes zu verweisen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2004»HERZ AUF TAILLE«
Im Jahre 1927 veröffentlichte Erich Kästner seinen ersten Gedichtband "Herz auf Taille". Ich war dreizehn Jahre alt. Von dem, was ich las, war ich hingerissen, obwohl ich nicht alles verstand. Ich pirschte mich an die hohe Lyrik von Rilke und Stefan George heran, aber ohne großen Erfolg. Ihre Verse waren mir zu esoterisch, ich zog die freche Gebrauchslyrik des jungen Dresdeners vor, dessen zynischer Realismus in der Nähe des gleichermaßen bewunderten Bertolt Brecht mich sehr viel mehr beeindruckte.
In der Zeitschrift "Der Bücherwurm" erschien 1931 unter dem Titel "Der Lyrik eine Bresche" eine Sondernummer, in der ich unter dem Sammeltitel "Stimmen junger Menschen" als Siebzehnjähriger die Begeisterung der Jugend für Kästner zum Ausdruck brachte. Hatte ich recht? Jedenfalls hat sich meine Schätzung für Kästner über die Jahre nicht vermindert, im Gegenteil.
Als der Krieg zu Ende war, beschloß das amerikanische Außenministerium, eine illustrierte Wochenzeitschrift in München herauszubringen, um dadurch einen Beitrag zur Entnazifizierung - ein schreckliches Wort für einen guten Zweck - der deutschen Bevölkerung zu leisten. Frisch aus der amerikanischen Armee entlassen, wurde ich beauftragt, bei dieser Zeitschrift mitzuarbeiten, eine spannende und ehrenvolle Aufgabe. Die Zeitschrift hieß "Heute" und war nach dem amerikanischen Erfolgsmagazin "Life" konzipiert.
Zu meiner Überraschung erfuhr ich, daß einer der Redakteure, die zu uns kamen, kein anderer war als der von mir so sehr geschätzte Autor des Romans "Fabian, die Geschichte eines Moralisten". Kästner war ein stiller, sanfter Herr mit besten Manieren, unaufdringlich und bescheiden.
Wir hatten viele interessante Gespräche, über "innere Emigration", über das zwiespältige Dasein eines verbotenen Schriftstellers, der bei der Verbrennung seiner eigenen Bücher in Berlin durch die neuen Herrscher dabeigewesen war und sich wie ein lebender Leichnam vorkam. In den langen bitteren Jahren des Schreibverbots war er bemüht, nicht immer erfolgreich, sich durch diverse schriftstellerische Aktivitäten, wie Herstellung von Drehbüchern und ähnlichem, über Wasser zu halten, natürlich unter Pseudonym. Wir sprachen viel über die Zukunft. Wie konnte man einem moralisch und wirtschaftlich ruinierten Land wieder Normalität verschaffen? Kästner war einfühlsam und bedächtig; jede Unterhaltung mit ihm war eine Bereicherung.
In den frühen dreißiger Jahren, als sich die Haßwolken immer mehr verdichteten und Worte wie Leichtigkeit und Humor jeden Sinn verloren hatten, empfand ich es wie ein erfrischendes Bad, in die beschwingte lyrische Heiterkeit des Poeten aus Dresden einzutauchen. In der deutschen Literatur wird immer nach Tiefgang gesucht, und wenn ein Dichter die Wahl trifft, sich auf leichteren Bahnen zu bewegen, ohne allerdings ins Kabarettistische zu versinken, dann ist das sogleich suspekt.
Erich Kästner als Leichtgewicht? Großer Irrtum, aber das schwere und gelegentlich schwerfällige Pathos, das hierzulande als hohes Zeichen literarischer Qualität betrachtet wird, lag ihm nicht. Aus gutem Grund ist Charme kein deutsches Wort. Der zuverlässige Duden definiert den Begriff als "liebenswürdig-gewinnende Lebensart", aber das sagt nicht alles. Charme ist mehr, und Erich Kästner hatte viel davon. Sein Charme wärmte mein Herz, als ich die ersten Verse von ihm las. Und das ist heute noch so. Er dichtete mit Herz auf Taille, und kein Joseph Goebbels, der seine Bücher 1933 verbrennen ließ, konnte ihm das wegnehmen.
HEINZ BERGGRUEN
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Im Jahre 1927 veröffentlichte Erich Kästner seinen ersten Gedichtband "Herz auf Taille". Ich war dreizehn Jahre alt. Von dem, was ich las, war ich hingerissen, obwohl ich nicht alles verstand. Ich pirschte mich an die hohe Lyrik von Rilke und Stefan George heran, aber ohne großen Erfolg. Ihre Verse waren mir zu esoterisch, ich zog die freche Gebrauchslyrik des jungen Dresdeners vor, dessen zynischer Realismus in der Nähe des gleichermaßen bewunderten Bertolt Brecht mich sehr viel mehr beeindruckte.
In der Zeitschrift "Der Bücherwurm" erschien 1931 unter dem Titel "Der Lyrik eine Bresche" eine Sondernummer, in der ich unter dem Sammeltitel "Stimmen junger Menschen" als Siebzehnjähriger die Begeisterung der Jugend für Kästner zum Ausdruck brachte. Hatte ich recht? Jedenfalls hat sich meine Schätzung für Kästner über die Jahre nicht vermindert, im Gegenteil.
Als der Krieg zu Ende war, beschloß das amerikanische Außenministerium, eine illustrierte Wochenzeitschrift in München herauszubringen, um dadurch einen Beitrag zur Entnazifizierung - ein schreckliches Wort für einen guten Zweck - der deutschen Bevölkerung zu leisten. Frisch aus der amerikanischen Armee entlassen, wurde ich beauftragt, bei dieser Zeitschrift mitzuarbeiten, eine spannende und ehrenvolle Aufgabe. Die Zeitschrift hieß "Heute" und war nach dem amerikanischen Erfolgsmagazin "Life" konzipiert.
Zu meiner Überraschung erfuhr ich, daß einer der Redakteure, die zu uns kamen, kein anderer war als der von mir so sehr geschätzte Autor des Romans "Fabian, die Geschichte eines Moralisten". Kästner war ein stiller, sanfter Herr mit besten Manieren, unaufdringlich und bescheiden.
Wir hatten viele interessante Gespräche, über "innere Emigration", über das zwiespältige Dasein eines verbotenen Schriftstellers, der bei der Verbrennung seiner eigenen Bücher in Berlin durch die neuen Herrscher dabeigewesen war und sich wie ein lebender Leichnam vorkam. In den langen bitteren Jahren des Schreibverbots war er bemüht, nicht immer erfolgreich, sich durch diverse schriftstellerische Aktivitäten, wie Herstellung von Drehbüchern und ähnlichem, über Wasser zu halten, natürlich unter Pseudonym. Wir sprachen viel über die Zukunft. Wie konnte man einem moralisch und wirtschaftlich ruinierten Land wieder Normalität verschaffen? Kästner war einfühlsam und bedächtig; jede Unterhaltung mit ihm war eine Bereicherung.
In den frühen dreißiger Jahren, als sich die Haßwolken immer mehr verdichteten und Worte wie Leichtigkeit und Humor jeden Sinn verloren hatten, empfand ich es wie ein erfrischendes Bad, in die beschwingte lyrische Heiterkeit des Poeten aus Dresden einzutauchen. In der deutschen Literatur wird immer nach Tiefgang gesucht, und wenn ein Dichter die Wahl trifft, sich auf leichteren Bahnen zu bewegen, ohne allerdings ins Kabarettistische zu versinken, dann ist das sogleich suspekt.
Erich Kästner als Leichtgewicht? Großer Irrtum, aber das schwere und gelegentlich schwerfällige Pathos, das hierzulande als hohes Zeichen literarischer Qualität betrachtet wird, lag ihm nicht. Aus gutem Grund ist Charme kein deutsches Wort. Der zuverlässige Duden definiert den Begriff als "liebenswürdig-gewinnende Lebensart", aber das sagt nicht alles. Charme ist mehr, und Erich Kästner hatte viel davon. Sein Charme wärmte mein Herz, als ich die ersten Verse von ihm las. Und das ist heute noch so. Er dichtete mit Herz auf Taille, und kein Joseph Goebbels, der seine Bücher 1933 verbrennen ließ, konnte ihm das wegnehmen.
HEINZ BERGGRUEN
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