Der Roman Heimatlos ist die Schilderung der Schülerin Lili aus dem slowakischen Kesmark/Kezmarok, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von den Ereignissen der Geschichte mitgerissen wird. Aufgrund ihrer deutschen Nationalität muss sie zunächst vor den Partisanen fliehen, wird dann gemeinsam mit der Mutter und der schwangeren Schwester sowie den übrigen Schicksalsgefährten vertrieben, in einem Lager interniert und später nach Bayern deportiert, das damals noch in Trümmern liegt, denn die neue Tschechoslowakei duldet allein Tschechen und Slowaken. Lilis Vater ist im Gefängnis, ihr Schwager irgendwo in Kriegsgefangenschaft, sie aber kämpft in einstigen Konzentrationslagern gegen Hunger und Krankheiten an und wird Zeugin von Massakern, die aus Rache verübt werden. Ausgeliefert und Heimatlos erlebt sie die ersten Jahre des Friedens, behauptet sich aber dennoch, selbst wenn sie Schicksalsschläge ereilen, von denen auch nur einer für ein Leben genügen würde. Bei alldem lassen sie Humor und Lebenslust nicht im Stich: Ihre Haltung zum Schicksal kann für uns alle richtungsweisend sein.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christiane Pöhlmann ist dankbar, dass mit diesem Roman zumindest eines der Bücher der ungarischen Autorin Judit Kovats auf Deutsch vorliegt. Erzählt wird die Geschichte von Lili, einer angehörigen der zipserdeutschen Minderheit in der Slowakei, die nach Lager und Zwangsarbeit und dem Verlust ihrer halben Familie Mitte der Fünfziger ein neues Leben zu beginnen versucht, resümiert die Kritikerin. Pöhlmann liest hier in Rückblicken nicht nur, wie Lilis Familie einen jüdischen Arzt versteckte, sondern begleitet Kovats Heldin auf der Suche nach Heimat auch über Deutschland in die USA. Dieses "atemlos" erzählte Füllhorn voller Anekdoten über Exil, Flucht, Erwachsenwerden, Freundschaft und Mitgefühl empfiehlt die Kritikerin gern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Judit Kováts erzählt von der Slowakei und deren deutscher Minderheit
"Wer nicht vergessen kann, der stirbt." Kein Vergeben, kein Vergessen - gilt die Parole etwa nicht mehr? Oder heißt es: Vorher fragen, wer da spricht? Es sei etwas ausgeholt.
Vergessen, das ist Mitte der fünfziger Jahre der dringendste Wunsch von Lili Hartmann, der Ich-Erzählerin des Romans "Heimatlos". Sie, die Angehörige der zipserdeutschen Minderheit in der Slowakei, hat da schon ihre halbe Familie verloren, ihren Neffen an Sohnes statt angenommen, Lager und Zwangsarbeit hinter sich, Deportationen beobachtet und von Massenhinrichtungen gehört. Sie hat überlebt, doch die Angst, abermals einen Transport mit unbekanntem Ziel antreten zu müssen, steckt ihr in den Knochen, weshalb sie einen gepackten Rucksack in der Münchner Speisekammer bereithält. Einmal im Jahr erneuert sie Kleidung und Konserven.
Noch vor dem Transport aus der Slowakei nach Deutschland hatte sie vermutet, alles fände ein passables Ende: "Ich habe keine Heimat und werde vielleicht auch keine mehr haben, aber warum sollte man nicht auch ohne Heimat fröhlich leben können?" Beim ersten Aufenthalt hinter der Grenze nimmt sie, genau wie die meisten anderen, die Armbinde ab, die sie als Deutsche ausweist. Die Stoffstücke schweben durch die Luft, eine Geste, die Freiheit zu begrüßen.
Diese Freiheit indes ist nur eine vermeintliche. Lili absolviert zwar eine Ausbildung, findet Arbeit, heiratet einen Mann, den sie liebt, und baut sich ein Familienleben auf, doch die innere Getriebenheit bleibt. "Ich weiß nicht, was mir fehlt, vielleicht käme ich drauf, wenn ich nur einmal, ein einziges Mal allein sein könnte, allein mit mir."
Allein, das war Lili seit 1944 nicht mehr. Damals marschierten nach einem Partisanenaufstand die Deutschen in die Slowakei ein. Die Evakuierung aller Kinder wurde angeordnet, mit ihren siebzehn Jahren gehörte Lili dazu. Bis dahin hatten im Dorf Käsmark nationale Unterschiede kaum eine Rolle gespielt, bis dahin konnte man "dort, wo ein Satz auf Deutsch begonnen, auf Slowakisch fortgesetzt und auf Ungarisch beendet wird", nicht per Dekret dafür sorgen, "dass man jemanden einzig und allein für seine Herkunft hasst". Als sich antisemitische Angriffe häufen und immer brutaler werden, verstecken Lilis Vater und einige Freunde den jüdischen Arzt, der halb Käsmark auf die Welt gebracht hat.
Diesen Schritt hält die ganze Familie für richtig, selbst der Schwiegersohn Gerd in der Wehrmachtsuniform. Dieses Nebeneinander prägt den Roman. Wenn Lili ihre wechselvolle Geschichte erzählt, dann sind es einzelne Menschen, die agieren, nicht Nationen. Deshalb behauptet sie von sich auch: "Außer dass ich Deutsche bin, habe ich nichts verbrochen."
Judit Kováts erzählt von dieser Zeit so differenziert, dass sie ihre Leserschaft förmlich zwingt, die Geschichte bis zum Ende anzuhören und sich nicht vorschnell ein Urteil zu bilden. Sie legt Lili einen atemlosen Ton in den Mund, geschaffen durch parataktisch aufgebaute Sätze. Den letztlich bekannten Stoff bereitet sie ungeheuer spannend auf, indem sie ihn mit eher unbekannten Einzelheiten spickt und die Unwissenheit ihrer Figuren überzeugend skizziert. Einzelne Sätze mögen stutzen lassen, den Gesamttext aber durchzieht ein zutiefst pazifistisches Moment. Rache und Revanche treffen oft die Falschen.
Der Titel ist Programm. Lili ist ihre Heimat los, vertrieben. Ihr neues "Zuhause ist die zwölfte Baracke" - und diese Heimat will sie loswerden. Vor einem Forschungsaufenthalt ihres Mannes in den Vereinigten Staaten tauscht sie daher den Inhalt ihres Rucksacks gegen ihren Flüchtlingsausweis, ihr Tagebuch und andere Überbleibsel aus, um das Ganze am siebten Tag an Bord im Atlantik zu versenken. "Weg mit den Erinnerungen, weg mit der Vergangenheit!"
Judit Kováts führt, von der Oral History inspiriert, für ihre Romane jeweils lange Interviews. "Heimatlos" ist ihr drittes Werk und das erste, das auf Deutsch erscheint. Es ist ein Buch, fast ebenso prall wie Lilis Rucksack. In ihm stecken die großen und die kleinen Geschichten von Adoleszenz, Flucht und Exil, Freundschaft und Mitmenschlichkeit, allen unmenschlichen Dekreten, allen Kriegen zum Trotz. Zuvorderst ist dieser Roman allerdings dies: gut erzählt.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Judit Kováts: "Heimatlos". Roman.
Aus dem Ungarischen von Eva Zador. Nischen Verlag, Wien 2020. 430 S., geb., 23,- [Euro].
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