Zunächst habe ich ein wenig gebraucht, mich dieser Sibylle anzunähern, die sehr spröde und forsch, oft entblößend von diesen Tagen im Juli erzählt. Sie ist so ganz anders als ich. Aber das ist ja das große Abenteuer Lesen: Mich jemand anderes sein zu lassen, ob mir die Romanfigur sympathisch ist
oder nicht. Die Welt aus anderen Augen sehen, Erfahrungen nicht nach meinen, sondern nach des anderen…mehrZunächst habe ich ein wenig gebraucht, mich dieser Sibylle anzunähern, die sehr spröde und forsch, oft entblößend von diesen Tagen im Juli erzählt. Sie ist so ganz anders als ich. Aber das ist ja das große Abenteuer Lesen: Mich jemand anderes sein zu lassen, ob mir die Romanfigur sympathisch ist oder nicht. Die Welt aus anderen Augen sehen, Erfahrungen nicht nach meinen, sondern nach des anderen Sichtweisen einzuordnen. Das weitet! Das nährt.
Bald schon „wohnte“ ich in jenem Dorf, atmete die trocken-heiße Luft jenes Julis und spürte den Wind, der wie alles hier wohlvertraut und zugleich besonders ist: „Tagneuer Wind schaukelt das blaue Vogelhaus in meinem Pflaumenbaum.“ Eine gekonnte Sprache, die dennoch sehr schlicht wirkt. Manchmal gekonnt knapp, immer dazu anhaltend, mitzudenken, mit dort zu sein, immer wieder überraschend.
Was ist los mit Sibylle, die in derart flapsiger Sprache, in der irgendetwas Beunruhigendes mitschwingt, alles mit lakonisch-ironischem Humor kommentiert, in ihren Gedanken wie in den Dialogen? Versucht sie, sich selbst Lebensmut zu machen?
Zwei Mädchen werden vermisst, sie wohnen fast nebenan. Vermisst wird aber auch die eigentliche Sibylle, die sich nicht mehr wiederfindet, wenn sie nur einen Tag außerhalb ihres Dorfs verbringt. Die in atemloser Weise erzählt und erzählt, als hätte das Verschwinden der Mädchen sie endlich auf die Spur gebracht. Die Spur führt – auch – zu ihrer eigenen Geschichte, nur angedeutet zuerst. Dann wird es deutlicher und lässt den Atem anhalten. Es ist viel, was auf Sibylle hereinprasselt. Aber ich kenne das selbst, manchmal überschlägt das Leben sich geradezu mit schwerverdaulichen Herausforderungen. Und genau dann meldet sich noch Unverdautes aus der eigenen Vergangenheit. Es ist gut so, sehr gut. Jede Krise ist eine Chance.
Facettenreich erzählt ist dieser Roman, wie ich es kaum je in einem Text gelesen habe. Um nur eine zu nennen: Wunderschön sind die Fantasiegeschichten, die sie den beiden vermissten Mädchen erzählt, als könnte sie sie trösten, ihnen Mut machen – wiederum in einer Geschichte, in der sie sich ausmalt, die Kinder gefunden zu haben.
Die Sprache ist viel zu besonders zum schnellen Lesen, muss genossen werden, aber ich konnte nicht anders, etwas zog mich voran. Ich musste lösen und erlösen – ja, ich, denn inzwischen war ich längst Sibylle mit den spröden Sprüchen, die so Schweres trägt und deshalb für manch einen sonderbar wirkt. Jetzt ist sie mir sehr nah. Und ich bin bereichert um eine weitere Sichtweise auf das Thema und alle Themen, die davon berührt sind: Täterschaft, Mittäterschaft, Opfer sein – und das alte Leid: kein Opfer befreit sich, indem es selbst Täter wird. Sehr fein aufgespürt, all diese Facetten!
Der Roman hat mich gefesselt und überrascht. Vor allem aber hat er mich tief berührt.