Philippe Lançon
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Der Fetzen
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»Ich war einer von ihnen, aber ich war nicht tot.« Der Terroranschlag auf Charlie Hebdo hat das Leben von Philippe Lançon unumkehrbar in zwei Hälften gespalten. In eindringlicher Prosa arbeitet Lançon das Erlebte auf und sucht seinen Weg zurück in ein Leben, das keine Normalität mehr kennt.Als sich Philippe Lançon an einem Morgen im Januar spontan entscheidet, in der Redaktion von Charlie Hebdo vorbeizuschauen, gibt es kein Anzeichen dafür, dass sein Leben direkt auf eine Katastrophe zusteuert. Gemeinsam mit seinen Kollegen sitzt er im Konferenzraum, als zwei maskierte Attentäter das...
»Ich war einer von ihnen, aber ich war nicht tot.« Der Terroranschlag auf Charlie Hebdo hat das Leben von Philippe Lançon unumkehrbar in zwei Hälften gespalten. In eindringlicher Prosa arbeitet Lançon das Erlebte auf und sucht seinen Weg zurück in ein Leben, das keine Normalität mehr kennt.
Als sich Philippe Lançon an einem Morgen im Januar spontan entscheidet, in der Redaktion von Charlie Hebdo vorbeizuschauen, gibt es kein Anzeichen dafür, dass sein Leben direkt auf eine Katastrophe zusteuert. Gemeinsam mit seinen Kollegen sitzt er im Konferenzraum, als zwei maskierte Attentäter das Gebäude stürmen. Kurz darauf sind die meisten seiner Freunde tot, ihm selbst wird der Unterkiefer zerschossen. Philippe Lançon wird nicht als Gastdozent nach Princeton gehen, wie es geplant war. Er wird seine Querflöte verschenken, die er nicht mehr spielen kann. Und er wird lange Zeit keine Redaktion mehr betreten. Stattdessen wird er siebzehn Gesichtsoperationen erdulden und versuchen, seine Identität zu rekonstruieren. So, wie das Attentat Frankreich in ein Davor und ein Danach gespalten hat, hat es auch das Leben Philippe Lançons auseinandergerissen. In der fulminanten literarischen Verarbeitung seiner Traumata macht der Autor so eindrucksvoll wie behutsam sichtbar, wie Geist und Körper sich nach einer unsagbaren Erfahrung ihren Weg zurück ins Leben bahnen.
Das Buch gewann bereits folgende Preise:
Prix Femina
Prix Spécial Renaudot
Prix des Prix
Prix Roman News
Stimmen zum Buch:
»Ein unumstößliches, vollkommenes Meisterwerk.«
Frédéric Beigbeder, Le Figaro Magazine
»Sagenhaft ehrlich, unerhört intim, verstörend schön, todtraurig und tröstlich zugleich.«
Martina Meister, Welt am Sonntag
»Große Literatur«
Bernard Pivot, Le Journal du Dimanche
»Ein magistrales Journal der Trauer.«
Jean Birnbaum, Le Monde des Livres
»Ein reicher literarischer Bericht über eine unsagbare Erfahrung.«
Olivia deLamberterie, Elle
»Ein seltenes Zeugnis, ebenso faszinierend wie schrecklich.«
Alexandra Schwartzbrod, Libération
»Eine unglaubliche Empfindsamkeit und Menschlichkeit.«
Philippe Labro, Le Point
Als sich Philippe Lançon an einem Morgen im Januar spontan entscheidet, in der Redaktion von Charlie Hebdo vorbeizuschauen, gibt es kein Anzeichen dafür, dass sein Leben direkt auf eine Katastrophe zusteuert. Gemeinsam mit seinen Kollegen sitzt er im Konferenzraum, als zwei maskierte Attentäter das Gebäude stürmen. Kurz darauf sind die meisten seiner Freunde tot, ihm selbst wird der Unterkiefer zerschossen. Philippe Lançon wird nicht als Gastdozent nach Princeton gehen, wie es geplant war. Er wird seine Querflöte verschenken, die er nicht mehr spielen kann. Und er wird lange Zeit keine Redaktion mehr betreten. Stattdessen wird er siebzehn Gesichtsoperationen erdulden und versuchen, seine Identität zu rekonstruieren. So, wie das Attentat Frankreich in ein Davor und ein Danach gespalten hat, hat es auch das Leben Philippe Lançons auseinandergerissen. In der fulminanten literarischen Verarbeitung seiner Traumata macht der Autor so eindrucksvoll wie behutsam sichtbar, wie Geist und Körper sich nach einer unsagbaren Erfahrung ihren Weg zurück ins Leben bahnen.
Das Buch gewann bereits folgende Preise:
Prix Femina
Prix Spécial Renaudot
Prix des Prix
Prix Roman News
Stimmen zum Buch:
»Ein unumstößliches, vollkommenes Meisterwerk.«
Frédéric Beigbeder, Le Figaro Magazine
»Sagenhaft ehrlich, unerhört intim, verstörend schön, todtraurig und tröstlich zugleich.«
Martina Meister, Welt am Sonntag
»Große Literatur«
Bernard Pivot, Le Journal du Dimanche
»Ein magistrales Journal der Trauer.«
Jean Birnbaum, Le Monde des Livres
»Ein reicher literarischer Bericht über eine unsagbare Erfahrung.«
Olivia deLamberterie, Elle
»Ein seltenes Zeugnis, ebenso faszinierend wie schrecklich.«
Alexandra Schwartzbrod, Libération
»Eine unglaubliche Empfindsamkeit und Menschlichkeit.«
Philippe Labro, Le Point
Philippe Lançon, geboren 1963 in Vanves, schreibt als Journalist und Literaturkritiker für die französische Zeitung 'Libération' und das Satiremagazin 'Charlie Hebdo'. Am 7. Januar 2015 überlebte er schwerverletzt den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo und verarbeitete seine Erfahrungen literarisch in 'Der Fetzen'. Nicola Denis, geboren 1972 in Celle, übersetzt seit vielen Jahren aus dem Französischen, u. a. Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Philippe Lançon und Marie-Claire Blais. 2021 erhielt sie für ihr übersetzerisches Werk den Prix lémanique de la traduction sowie 2023 den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis. Sie lebt mit ihrer Familie im Westen Frankreichs und hat langjährige familiäre Bezüge nach Stuttgart. 'Die Tanten' ist ihr literarisches Debüt.
Produktbeschreibung
- Verlag: Tropen
- Originaltitel: Le Lambeau
- 3. Aufl.
- Seitenzahl: 551
- Erscheinungstermin: 12. März 2019
- Deutsch
- Abmessung: 221mm x 152mm x 41mm
- Gewicht: 756g
- ISBN-13: 9783608504231
- ISBN-10: 3608504230
- Artikelnr.: 54461085
Herstellerkennzeichnung
Tropen
Rotebühlstr. 77
70178 Stuttgart
produktsicherheit@klett-cotta.de
Der Patienten-Prinz trägt einen Kokon
Philippe Lançons Roman "Der Fetzen" erzählt wie sich sein Autor, schwer verletzt nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo", zurück ins Leben kämpft.
Der Anschlag auf "Charlie Hebdo" am 7. Januar 2015, bei dem zwölf Menschen ihr Leben verloren, zielte auf das kreative Herz der Meinungsfreiheit. Zwei glücklicherweise an jenem Morgen zu spät Gekommene haben schon künstlerisch auf das Massaker reagiert: Luz mit "Katharsis" (2015) und Catherine Meurisse mit "Die Leichtigkeit" (2016), zwei Comics, die das Geschehen auf eindringliche Weise verarbeiten. Nun erscheint auf Deutsch der zentrale Roman zum Thema, geschrieben von einem, der es am eigenen Leibe erlebt hat: "Der Fetzen" von
Philippe Lançons Roman "Der Fetzen" erzählt wie sich sein Autor, schwer verletzt nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo", zurück ins Leben kämpft.
Der Anschlag auf "Charlie Hebdo" am 7. Januar 2015, bei dem zwölf Menschen ihr Leben verloren, zielte auf das kreative Herz der Meinungsfreiheit. Zwei glücklicherweise an jenem Morgen zu spät Gekommene haben schon künstlerisch auf das Massaker reagiert: Luz mit "Katharsis" (2015) und Catherine Meurisse mit "Die Leichtigkeit" (2016), zwei Comics, die das Geschehen auf eindringliche Weise verarbeiten. Nun erscheint auf Deutsch der zentrale Roman zum Thema, geschrieben von einem, der es am eigenen Leibe erlebt hat: "Der Fetzen" von
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Philippe Lançon. Er wurde in Frankreich mit zahlreichen Preisen bedacht, vorneweg dem Prix Femina 2018. Mögen die Ehrungen mitunter Symbolpolitik betreiben: Der Roman verdient sie alle, und zwar aus den richtigen, das heißt literarischen Gründen.
"Le lambeau", "Der Fetzen", ist zunächst ein chirurgischer Begriff: "Die Transplantation wurde auch noch anders genannt, und eines Abends hörte ich zum ersten Mal aus Chloés Mund das Wort, das mich künftig weitgehend charakterisieren sollte, Fetzen. Man würde mir einen Lappen, einen Hautfetzen, transplantieren." Genauer bezeichnet der Fachterminus eine Technik, die Gewebe mitsamt Blut- und Nervenbahnen verpflanzt; man grenzt sie ab von der "greffe" (Transplantation von Knochen oder Hornhaut).
Ein "Fetzen" muss bei Lançon vorgenommen werden: Die Kugeln haben ihm nicht nur die Arme, sondern auch das untere Drittel des Gesichts zerschossen. Vom Unterkiefer ist wenig zu retten, aus dem rechten Wadenbein und der Haut des Oberschenkels formt die Chirurgin Chloé Bertolus einen neuen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift im August 2017 liegen 17 Eingriffe hinter dem Patienten.
Freilich, man ahnt es, der Titel meint weit mehr als eine Transplantationstechnik: Zerfetzt sind das Gesicht, ja die Existenz des Opfers. Davon berichtet Lançon mit dem Drang, einerseits den biographischen Bruch zu begreifen, ihn andererseits nicht einfach stehen zu lassen. "Der Fetzen" beginnt am Vorabend des Attentats und geht in zwanzig Kapiteln und einem Epilog meist chronologisch vor; er endet wenig erbaulich mit dem Anschlag auf das "Bataclan" am 13. November 2015. Die großen Stationen sind das Krankenhaus Pitié-Salpêtrière (zwei Monate) und das Hôtel des Invalides (sieben Monate), wo Lançon die Rehabilitation durchläuft - zwei Ökosysteme außerhalb der Zeit und fern des Lebens, geschützt durch Mauern und Polizisten.
Als der Anschlag ihn aus dem Leben hinauskatapultiert, ist Lançon 51 Jahre alt. Er arbeitet als Kulturkritiker bei "Libération" und als Kolumnist bei "Charlie Hebdo", deshalb nimmt er an der Redaktionssitzung teil, die zum Ziel der Brüder Kouachi wird. Von seinem Angreifer sieht Lançon nur schwarzgekleidete Beine: Er wird kaum Worte zu den Tätern, ihren Motiven, seinem Urteil darüber verlieren - eine fast verstörende Leerstelle des Buches. Das Attentat aber beschreibt er luzide und erschütternd, besonders den Moment, in dem er, am Boden liegend, den Körper des Ökonomen Bernard Maris vor ihm genauer betrachtet. Angesichts des hervorquellenden Gehirns begreift Lançon, "dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war". Nach und nach entdeckt er die eigenen Wunden, Blut an den Armen, Knochenstücke und Zähne im Mund - grausige Details, die der Autor so genau beschreibt wie den Eindruck von Unwirklichkeit.
Die Attentatsszene markiert das entscheidende Erlebnis, das "Der Fetzen" zu fassen sucht: Schlagartig fühlt Lançon sich von seinem bisherigen Leben abgeschnitten. Er hat keinen Zugang mehr zu seinem früheren Ich, seinen Empfindungen, Vorlieben, Urteilen. An diesem Paradox einer "Erfahrung der unterbrochenen Erfahrung" arbeitet sich der Roman ab: beim Versuch, sie zu beschreiben, im Verlangen, sie zu überwinden.
Es geht nicht um den Ehrgeiz, etwas literarisch einzufangen, sondern um die existentielle Dringlichkeit, ein Leben zu flicken. Schon die Heilung des Körpers fordert ihren Preis. Der Lädierte verwandelt sich in einen "Patienten-Prinzen" in seinem "Kokon", der alles auf sein eigenes Wohl ausrichtet. Lançon wird zum Egoisten, wie er am Beispiel von Toinette erläutert, die ihn am 8. Januar besuchen kommt - zu früh und in der vermessenen Erwartung, ihr Gegenüber könne auf sie eingehen: "Habe sie dem geopfert, der künftig alles vereinfachen musste. Ohne zu zögern und fast ohne nachzudenken. Später sah ich Toinette mit einer Freude wieder, die durch keine Scham und kein Bedauern getrübt wurde. Schuldgefühle haben das Attentat kaum überlebt."
Es ist die Schonungslosigkeit mit sich und anderen sowie das stete Wechselspiel von Verletzlichkeit und Distanz, welche den "Fetzen" so wertvoll machen. Das ist primär eine Frage des ausgewogenen Tons, auch wenn sich amüsante Szenen finden, etwa die Visite des damaligen Präsidenten François Hollande. Vor Drastik schreckt Lançon ebenfalls nicht zurück, sieht sich als "feuchte, abgemagerte Mumie mit dunkel umrandeten Augen", erwähnt Beinhaare, die ihm im Mund sprießen, ein Nebeneffekt der Hauttransplantation. In der Konfrontation mit seiner Hinfälligkeit ist der Kontakt mit Chirurgin Chloé ausschlaggebend: "Sie war die unvollkommene Fee, die mir, über meine Wiege gebeugt, ein zweites Leben geschenkt hatte." Chloé ist die einzige Heldenfigur von "Der Fetzen", ihre "heitere Strenge" beherrscht Lançons Leben.
So genau die Etappen des Heilungsprozesses, die Fortschritte und Rückschläge beschrieben werden: Lançon erzählt keine Fallgeschichte. Jedes der zwanzig Kapitel ruht in sich, hat seinen eigenen Schwerpunkt. Das können Menschen und Erinnerungen sein, die Exfrau, seine Freundin Gabriela, die Großmütter und Onkel, seine Wahlheimat Kuba, das Dorf der Kindheit im Nivernais. Oft sind die Gravitationszentren jedoch Werke der Literatur, der Malerei oder der Musik. Lançons Umgang mit Kulturgut hat nichts Frivoles oder Beflissenes, er ist direkt und von Notwendigkeit getrieben. Er sucht zwei Dinge: Erleichterung vom Leid oder eine Spiegelung seiner Situation, wobei Letztere indirekt auch zu Ersterer verhilft.
In den Büchern findet er das Echo: "Ich lese kaum noch. Nur noch die Passage vom Tod der Großmutter, ein paar Briefe von Kafka an Milena, den Anfang vom Zauberberg." Die erste Passage bezieht sich auf Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Wenn Lançon schreibt: "Ich lebte weder die verlorene noch die wiedergefundene Zeit; ich lebte die unterbrochene Zeit", dann ist klar, was Proust ihm geben kann - und wo der Vergleich hinkt. Lançon hat keine Madeleine-Erlebnisse, seine Erinnerungen treiben "nach und nach, ungeordnet und aus unterschiedlichen Gründen, leichenartig wieder an die Oberfläche". Schriftsteller wie Houellebecq, Góngora und Kafka sind ähnlich präsent, andere diskreter, etwa Ernst Jünger, der bei der Attentatsbeschreibung stilistisch durchscheint, aber in einem anderen Kontext zitiert wird.
Bach dagegen steht für "Erleichterung" und "Friede", laut Lançon eine Art Morphiumersatz. Eine Velázquez-Ausstellung schenkt dem Genesenden einen Moment grandioser Lebensbejahung: "Ich sabberte ein bisschen, meine Nerven versetzten das Kinn in Alarmbereitschaft, und trotzdem fühlte ich mich beinahe wohl, als wollten mir all die seit Langem verstorbenen Männer, Frauen und Tiere mit ihren oft dornigen Schicksalen zurufen: ,Du wirst leben.' Sie waren da, ich war da, ich schaute sie an, und sie schauten mich an, vier Jahrhunderte entsprachen einer Minute, und wir lebten."
Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass das eigene Schreiben Lançons Weg der Wahl ist, sich aus dem Attentat zu befreien: "Schreiben ist das beste Mittel, um aus sich herauszutreten, selbst wenn nur von einem selbst die Rede ist. Damit wurde auch die Trennung zwischen Fiktion und Nichtfiktion müßig: Alles war Fiktion, denn alles war Erzählung - Auswahl der Begebenheiten, Szenenausschnitte, Schreibstil, Aufbau. Was zählte, war die Empfindung von Wahrhaftigkeit und das Gefühl von Freiheit für den Schreibenden wie für den Lesenden." Was fast pathetisch klingt, ist fundamental: Diese Freiheit ist so banal wie die Luft zum Atmen - und die Literatur ein Überlebensdispositiv.
NIKLAS BENDER
Philippe Lançon: "Der Fetzen".
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Tropen, Stuttgart 2019. 552 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Le lambeau", "Der Fetzen", ist zunächst ein chirurgischer Begriff: "Die Transplantation wurde auch noch anders genannt, und eines Abends hörte ich zum ersten Mal aus Chloés Mund das Wort, das mich künftig weitgehend charakterisieren sollte, Fetzen. Man würde mir einen Lappen, einen Hautfetzen, transplantieren." Genauer bezeichnet der Fachterminus eine Technik, die Gewebe mitsamt Blut- und Nervenbahnen verpflanzt; man grenzt sie ab von der "greffe" (Transplantation von Knochen oder Hornhaut).
Ein "Fetzen" muss bei Lançon vorgenommen werden: Die Kugeln haben ihm nicht nur die Arme, sondern auch das untere Drittel des Gesichts zerschossen. Vom Unterkiefer ist wenig zu retten, aus dem rechten Wadenbein und der Haut des Oberschenkels formt die Chirurgin Chloé Bertolus einen neuen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift im August 2017 liegen 17 Eingriffe hinter dem Patienten.
Freilich, man ahnt es, der Titel meint weit mehr als eine Transplantationstechnik: Zerfetzt sind das Gesicht, ja die Existenz des Opfers. Davon berichtet Lançon mit dem Drang, einerseits den biographischen Bruch zu begreifen, ihn andererseits nicht einfach stehen zu lassen. "Der Fetzen" beginnt am Vorabend des Attentats und geht in zwanzig Kapiteln und einem Epilog meist chronologisch vor; er endet wenig erbaulich mit dem Anschlag auf das "Bataclan" am 13. November 2015. Die großen Stationen sind das Krankenhaus Pitié-Salpêtrière (zwei Monate) und das Hôtel des Invalides (sieben Monate), wo Lançon die Rehabilitation durchläuft - zwei Ökosysteme außerhalb der Zeit und fern des Lebens, geschützt durch Mauern und Polizisten.
Als der Anschlag ihn aus dem Leben hinauskatapultiert, ist Lançon 51 Jahre alt. Er arbeitet als Kulturkritiker bei "Libération" und als Kolumnist bei "Charlie Hebdo", deshalb nimmt er an der Redaktionssitzung teil, die zum Ziel der Brüder Kouachi wird. Von seinem Angreifer sieht Lançon nur schwarzgekleidete Beine: Er wird kaum Worte zu den Tätern, ihren Motiven, seinem Urteil darüber verlieren - eine fast verstörende Leerstelle des Buches. Das Attentat aber beschreibt er luzide und erschütternd, besonders den Moment, in dem er, am Boden liegend, den Körper des Ökonomen Bernard Maris vor ihm genauer betrachtet. Angesichts des hervorquellenden Gehirns begreift Lançon, "dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war". Nach und nach entdeckt er die eigenen Wunden, Blut an den Armen, Knochenstücke und Zähne im Mund - grausige Details, die der Autor so genau beschreibt wie den Eindruck von Unwirklichkeit.
Die Attentatsszene markiert das entscheidende Erlebnis, das "Der Fetzen" zu fassen sucht: Schlagartig fühlt Lançon sich von seinem bisherigen Leben abgeschnitten. Er hat keinen Zugang mehr zu seinem früheren Ich, seinen Empfindungen, Vorlieben, Urteilen. An diesem Paradox einer "Erfahrung der unterbrochenen Erfahrung" arbeitet sich der Roman ab: beim Versuch, sie zu beschreiben, im Verlangen, sie zu überwinden.
Es geht nicht um den Ehrgeiz, etwas literarisch einzufangen, sondern um die existentielle Dringlichkeit, ein Leben zu flicken. Schon die Heilung des Körpers fordert ihren Preis. Der Lädierte verwandelt sich in einen "Patienten-Prinzen" in seinem "Kokon", der alles auf sein eigenes Wohl ausrichtet. Lançon wird zum Egoisten, wie er am Beispiel von Toinette erläutert, die ihn am 8. Januar besuchen kommt - zu früh und in der vermessenen Erwartung, ihr Gegenüber könne auf sie eingehen: "Habe sie dem geopfert, der künftig alles vereinfachen musste. Ohne zu zögern und fast ohne nachzudenken. Später sah ich Toinette mit einer Freude wieder, die durch keine Scham und kein Bedauern getrübt wurde. Schuldgefühle haben das Attentat kaum überlebt."
Es ist die Schonungslosigkeit mit sich und anderen sowie das stete Wechselspiel von Verletzlichkeit und Distanz, welche den "Fetzen" so wertvoll machen. Das ist primär eine Frage des ausgewogenen Tons, auch wenn sich amüsante Szenen finden, etwa die Visite des damaligen Präsidenten François Hollande. Vor Drastik schreckt Lançon ebenfalls nicht zurück, sieht sich als "feuchte, abgemagerte Mumie mit dunkel umrandeten Augen", erwähnt Beinhaare, die ihm im Mund sprießen, ein Nebeneffekt der Hauttransplantation. In der Konfrontation mit seiner Hinfälligkeit ist der Kontakt mit Chirurgin Chloé ausschlaggebend: "Sie war die unvollkommene Fee, die mir, über meine Wiege gebeugt, ein zweites Leben geschenkt hatte." Chloé ist die einzige Heldenfigur von "Der Fetzen", ihre "heitere Strenge" beherrscht Lançons Leben.
So genau die Etappen des Heilungsprozesses, die Fortschritte und Rückschläge beschrieben werden: Lançon erzählt keine Fallgeschichte. Jedes der zwanzig Kapitel ruht in sich, hat seinen eigenen Schwerpunkt. Das können Menschen und Erinnerungen sein, die Exfrau, seine Freundin Gabriela, die Großmütter und Onkel, seine Wahlheimat Kuba, das Dorf der Kindheit im Nivernais. Oft sind die Gravitationszentren jedoch Werke der Literatur, der Malerei oder der Musik. Lançons Umgang mit Kulturgut hat nichts Frivoles oder Beflissenes, er ist direkt und von Notwendigkeit getrieben. Er sucht zwei Dinge: Erleichterung vom Leid oder eine Spiegelung seiner Situation, wobei Letztere indirekt auch zu Ersterer verhilft.
In den Büchern findet er das Echo: "Ich lese kaum noch. Nur noch die Passage vom Tod der Großmutter, ein paar Briefe von Kafka an Milena, den Anfang vom Zauberberg." Die erste Passage bezieht sich auf Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Wenn Lançon schreibt: "Ich lebte weder die verlorene noch die wiedergefundene Zeit; ich lebte die unterbrochene Zeit", dann ist klar, was Proust ihm geben kann - und wo der Vergleich hinkt. Lançon hat keine Madeleine-Erlebnisse, seine Erinnerungen treiben "nach und nach, ungeordnet und aus unterschiedlichen Gründen, leichenartig wieder an die Oberfläche". Schriftsteller wie Houellebecq, Góngora und Kafka sind ähnlich präsent, andere diskreter, etwa Ernst Jünger, der bei der Attentatsbeschreibung stilistisch durchscheint, aber in einem anderen Kontext zitiert wird.
Bach dagegen steht für "Erleichterung" und "Friede", laut Lançon eine Art Morphiumersatz. Eine Velázquez-Ausstellung schenkt dem Genesenden einen Moment grandioser Lebensbejahung: "Ich sabberte ein bisschen, meine Nerven versetzten das Kinn in Alarmbereitschaft, und trotzdem fühlte ich mich beinahe wohl, als wollten mir all die seit Langem verstorbenen Männer, Frauen und Tiere mit ihren oft dornigen Schicksalen zurufen: ,Du wirst leben.' Sie waren da, ich war da, ich schaute sie an, und sie schauten mich an, vier Jahrhunderte entsprachen einer Minute, und wir lebten."
Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass das eigene Schreiben Lançons Weg der Wahl ist, sich aus dem Attentat zu befreien: "Schreiben ist das beste Mittel, um aus sich herauszutreten, selbst wenn nur von einem selbst die Rede ist. Damit wurde auch die Trennung zwischen Fiktion und Nichtfiktion müßig: Alles war Fiktion, denn alles war Erzählung - Auswahl der Begebenheiten, Szenenausschnitte, Schreibstil, Aufbau. Was zählte, war die Empfindung von Wahrhaftigkeit und das Gefühl von Freiheit für den Schreibenden wie für den Lesenden." Was fast pathetisch klingt, ist fundamental: Diese Freiheit ist so banal wie die Luft zum Atmen - und die Literatur ein Überlebensdispositiv.
NIKLAS BENDER
Philippe Lançon: "Der Fetzen".
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Tropen, Stuttgart 2019. 552 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Julia Encke sieht Philippe Lançons Buch über das Attentat auf Charlie Hebdo als eine doppelte Rekonstruktion: Zum einen verfolge Lançon, wie ihm seine Chirurgin Chloé das Gesicht wiederherstellte, das ihm die Attentäter zerschossen haben, zum anderen, wie der Autor und Kritiker sein eigenes Leben wiedergewinnt. Encke liest dies auch als Geschichte von Wahnsinn und Vernunft, Härte und Zärtlichkeit, und als grandiose Erzählung der Selbstbehauptung gegenüber dem Tod. Was Lançon in seinem Buch schafft, betont die Rezensentin, ist "ergreifender, dichter und literarischer" als so mancher Roman in dieser Saison.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein herausragender Autor« Peter Pisa, Kurier, 24.08.2019 Peter Pisa Kurier 20190824
Packend! Andrea Tratner Neue Presse 20201125
„Vier in dem einen, eins im anderen Krankenhaus: Das sind die Zimmer, in denen ich vom 8. Januar 2015 bis zum 17. Oktober 2015 rund um die Uhr geblieben bin, was insgesamt, wenn ich richtig rechne, 282 Tage ergibt. Gefangene zählen und oft auch Kranke, weil sie am liebsten fliehen und …
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„Vier in dem einen, eins im anderen Krankenhaus: Das sind die Zimmer, in denen ich vom 8. Januar 2015 bis zum 17. Oktober 2015 rund um die Uhr geblieben bin, was insgesamt, wenn ich richtig rechne, 282 Tage ergibt. Gefangene zählen und oft auch Kranke, weil sie am liebsten fliehen und verschwinden würden. Ich war weder gefangen noch krank: Ich war ein Opfer, ein Verletzter (...)“
Philippe Lançon, Reporter und Kritiker, der am Morgen des 7. Januar 2015 an der Redaktionssitzung von Charlie Hebdo teilnahm, der Wochenzeitung, die in den letzten Zügen lag und deren unabwendbarer Tod nur noch eine Frage von wenigen Ausgaben war. Der Tod sollte kommen, aber nicht für die satirische Wochenzeitung, sondern für ihre Macher, in Form der Brüder Kouachi, die bewaffnet in die Redaktionsräume eindrangen und um sich schossen. Elf Tote und zahlreiche Verletze ist die Bilanz, die global Schlagzeilen machte. Eines der Opfer war Philippe Lançon, der erst begreifen musste, das er Teil eines großen Ereignisses wurde und sein Leben von nun an in eine Zeit vor dem 7. Januar und eine Zeit nach dem 7. Januar 2015 getrennt werden würde.
„Der Fetzen“, in Frankreich mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Spezialpreis des renommierten Prix Renaudot, der eigentlich Belletristik ehrt, ist eine Biographie der besonderen Art. Sie beschränkt sich auf wenige Monate, die Zeit von dem Anschlag auf Charlie Hebdo und sie endet auch mit einem Anschlag, dem auf das Bataclan am 13. November desselben Jahres. Es ist die Zeit für Philippe Lançon zwischen Tod und Rückkehr ins Leben, die Zeit von 17 Operationen und einem alles andere als optimal verlaufenden Heilungsprozess, den er minutiös mit dem Leser teilt. Letztlich ist es der Versuch etwas zu verstehen und zu verarbeiten, was weder verstehbar noch vergessbar ist. Es ist die persönliche Seite eines globalen medialen Großereignisses, das die Aspekte darstellt, die dem fernen Beobachter üblicherweise vorenthalten bleiben.
Mich hat Philippe Lançons Bericht schwer beeindruckt. Zum einen die Offenheit, mit der er die wiederholten Niederschläge im Heilungsprozess schildert, die Widrigkeiten während des Krankenhausaufenthaltes – es sind die Dinge, über die wir eigentlich nicht sprechen, die in unserer von ansprechender Optik dominierten Welt keinen Platz haben. Es sind aber vor allem auch seine persönlichen Beziehungen, die nach dem Attentat nicht mehr dieselben sind. Nicht nur ihn hat das Ereignis verändert, es wirkt auch sekundär auf sein Umfeld und er muss erkennen, dass nicht jeder mit der neuen Situation umgehen kann.
Der Autor ist ein außerordentlich reflektierter Mensch, was man dem Buch auf jeder Seite anmerkt. Er versucht nicht, einen tieferen, gar religiösen Sinn darin zu erkennen, dass gerade er Opfer wurde. Ebenso spielen seine Emotionen in Bezug auf die Attentäter keinerlei Rolle. Er lebt im Hier und Jetzt, aber er kann nicht mehr einfach irgendetwas lesen, es sind Proust und Kafka, die ihn ansprechen. Wie Prousts Protagonist wird auch er von Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit geplagt und kann bisweilen nur mit einer distanzierenden Ironie die kafkaesken Gegebenheiten ertragen. Es ist eine subjektive Verarbeitung, die keinen größeren Zusammenhang schafft, die Banalitäten – steht sein Fahrrad immer noch vor der Redaktion? Wo ist sein Stoffbeutel? – in den Fokus rückt und einem den Autor dadurch nah bringt.
Philippe Lançon ist Charlie Hebdo – mehr als alle, die sich den Slogan zu eigen gemacht haben. Aber er will nicht die Stimme oder das Gesicht sein, dafür ist er zu bescheiden. Er ist ein Überlebender, der das Überleben erst wieder zu schätzen lernen musste und dem, auch wenn man ihm über lange Zeit die Stimme raubte, doch nie die Worte ausgingen, was ein Glücksfall ist.
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Als man seinerzeit von dem Terroranschlag auf die Redaktion Charlie Hebdo hörte, war man schockiert, ist aber recht schnell wieder zum Tagesgeschehen übergegangen. Einerseits war da eine Angst vor Terroranschlägen, andererseits wollte man wohl nicht zu sehr darüber nachdenken. …
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Als man seinerzeit von dem Terroranschlag auf die Redaktion Charlie Hebdo hörte, war man schockiert, ist aber recht schnell wieder zum Tagesgeschehen übergegangen. Einerseits war da eine Angst vor Terroranschlägen, andererseits wollte man wohl nicht zu sehr darüber nachdenken. Was aber ist mit den Menschen, die betroffen sind? Was ist mit denen, die den Anschlag überlebten, deren Leben aber nie mehr das ist, was es zuvor war?
Philippe Lançon ist ein Betroffener; er hat überlebt. Er musste zusehen, wie seine Kollegen erschossen wurden und er musste erleiden, wie ihm der Unterkiefer zerschossen wird. Mit einem Mal waren viele seiner Pläne nicht mehr möglich. Ein langer Heilungsprozess mit vielen Operationen steht ihm bevor und am Ende hat er zwar ein Leben, aber nicht mehr das, was es zuvor war.
Der Kulturkritiker und Kolumnist Philippe Lançon hat sein Trauma in diesem Buch verarbeitet. Es ist nicht einfach, dieses Buch zu lesen, denn es ist verstörend und macht einen fassungslos. Umso bewundernswerter ist es, wie Philippe Lançon sich zurückgekämpft hat. Dabei berichtet er detailliert und relativ emotionslos darüber, was er erduldet hat und was ihn bewegt hat. Man lernt seine Gedanken zu vielen unterschiedlichen Themen kennen.
Wer das erlebt hat, muss eigentlich wütend sein und darf jammern ob der Qualen, die er ertragen musste. Aber der Autor berichtet sehr sachlich, was ich bewundere.
Es ist ein verstörendes Buch, es macht betroffen und nachdenklich. Es ist ein sehr intensives Buch.
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Dieses Buch berichtet von den Ereignissen vor, während und nach dem Attentat bei Charlie Hebdo, erzählt von einem Überlebenden. Philippe Lancon war Kolumnist bei Charlie Hebdo, dem Satire-Magazin. Er musste mit ansehen, wie seine Kollegen getötet wurden, er selbst wurde auch …
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Dieses Buch berichtet von den Ereignissen vor, während und nach dem Attentat bei Charlie Hebdo, erzählt von einem Überlebenden. Philippe Lancon war Kolumnist bei Charlie Hebdo, dem Satire-Magazin. Er musste mit ansehen, wie seine Kollegen getötet wurden, er selbst wurde auch schwer verletzt. 12 Menschen wurden getötet.
Man liest selten von solchen Ereignisse auf unmittelbare, detaillierte Art, dazu von einem Zeugen und Betroffenen, der wirklich schreiben kann. So wird der Bericht tatsächlich zu einem autobiografischen Roman.
Lange Passagen handeln von den Gesundheitsprozess. Die Gesichtsverletzungen waren schwer, lange Krankenhausaufenthalte und Operationen erforderlich.
Hilfreich waren kulturellen Themen, Musik und Literatur, wie Kafka, Proust, Thomas Manns Zauberberg und Bach sowie Jazz.
Mich hat die Haltung von Philippe Lancon beeindruckt und die Genauigkeit der Details seiner Schilderungen. Ein starkes Buch!
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