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Mick ist charmant, draufgängerisch, lebt ein Leben frei von Verbindlichkeiten. Und er hat Glück - bis ihn die Frau verlässt, die er jahrelang betrogen hat. Gabriel, der seine Eltern nie gekannt hat, hat das aus sich gemacht, was er wollte: einen erfolgreichen Architekten, einen eingefleischten Londoner, einen Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und ist plötzlich ein prominenter Mann, der tief fällt. »Brüder« erzählt von zwei deutschen Männern, geboren im gleichen Jahr, Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat. Di...
Mick ist charmant, draufgängerisch, lebt ein Leben frei von Verbindlichkeiten. Und er hat Glück - bis ihn die Frau verlässt, die er jahrelang betrogen hat. Gabriel, der seine Eltern nie gekannt hat, hat das aus sich gemacht, was er wollte: einen erfolgreichen Architekten, einen eingefleischten Londoner, einen Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und ist plötzlich ein prominenter Mann, der tief fällt. »Brüder« erzählt von zwei deutschen Männern, geboren im gleichen Jahr, Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat. Die Fragen, die sich ihnen stellen, sind dieselben. Und doch ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein.
Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, aufgewachsen in Leipzig und Berlin, arbeitet als Journalistin und Fernsehautorin. 2015 erschien ihr Debütroman 'Momente der Klarheit'. Mit ihrem zweiten Roman, 'Brüder', stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019. Sie lebt in Berlin.
Produktbeschreibung
- Verlag: btb
- Artikelnr. des Verlages: 88164261
- Seitenzahl: 508
- Erscheinungstermin: 8. März 2021
- Deutsch
- Abmessung: 199mm x 135mm x 36mm
- Gewicht: 497g
- ISBN-13: 9783442770700
- ISBN-10: 344277070X
- Artikelnr.: 60483675
Herstellerkennzeichnung
btb Taschenbuch
Neumarkter Straße 28
81673 München
produktsicherheit@penguinrandomhouse.de
Zwei Einzelkämpfer, die ihren eigenen Weg gehen. Thomaes \"Brüder\" stehen zu Recht auf der Shortlist des Buchpreises.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Geboren in der DDR
Jackie Thomaes "Brüder" ist kein Roman über Hautfarbe, Rassismus, keiner über den Osten, den Westen. Er handelt trotzdem von Identitätspolitik
Es ist noch gar nicht so lange her, als immer wieder gefragt wurde, wann denn nun der "große Wenderoman" erscheine. Ein Roman, der die Zeit der Wiedervereinigung literarisch verhandele, der die deutsch-deutsche Frage zum Thema habe, die der Identitäten und ihrer Brüche, der von den späten achtziger und den neunziger Jahren in Deutschland erzähle. Indem sie sich nach etwas "Großem" sehnten, hatten diejenigen, die nach diesem Roman fragten, immer ein Epos vor Augen, eine große Erzählung, monumental und bedeutungsschwer. Deshalb waren viele so froh, als 2008
Jackie Thomaes "Brüder" ist kein Roman über Hautfarbe, Rassismus, keiner über den Osten, den Westen. Er handelt trotzdem von Identitätspolitik
Es ist noch gar nicht so lange her, als immer wieder gefragt wurde, wann denn nun der "große Wenderoman" erscheine. Ein Roman, der die Zeit der Wiedervereinigung literarisch verhandele, der die deutsch-deutsche Frage zum Thema habe, die der Identitäten und ihrer Brüche, der von den späten achtziger und den neunziger Jahren in Deutschland erzähle. Indem sie sich nach etwas "Großem" sehnten, hatten diejenigen, die nach diesem Roman fragten, immer ein Epos vor Augen, eine große Erzählung, monumental und bedeutungsschwer. Deshalb waren viele so froh, als 2008
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endlich "Der Turm" von Uwe Tellkamp erschien und ein paar Jahre später in 180 Minuten Länge auch noch fürs deutsche Fernsehen verfilmt wurde. Es gab Autoren wie Ingo Schulze, Clemens Meyer, Lutz Seiler oder Eugen Ruge. Aber wie Tellkamp seine Geschichte über den Untergang der DDR und die Menschen erzählte, die es im Sozialismus eigentlich gar nicht hätte geben sollen - Bildungsbürger, die sich im gesellschaftlichen Abseits zur dornröschenhaften "Turmgemeinschaft" zusammengefunden hatten -, war einfach pathetischer als alle anderen vor und nach ihm und durfte so auf jeden Fall gleich in die deutsche Literaturgeschichte eingehen.
Das aber ist nun schon eine ganze Weile her. Nach all den Jahren und all den über die deutsche Geschichte schreibenden Männern kommt jetzt Jackie Thomae und macht alles anders. Sie schreibt einen Roman, den sie "Brüder" nennt, ohne damit auch nur im Geringsten das "Alle Menschen werden Brüder" zu meinen, das so gerne als musikalisches Symbol der deutschen Einheit gefeiert wird. Brüder und Schwestern werden bei ihr alle, wenn überhaupt, dann nur in den Technoclubs der neunziger Jahre. Sie erzählt die Geschichte von Mick und Gabriel, die, ohne voneinander zu wissen, beide denselben Vater haben, den sie nicht kennen. Dieser Vater hatte zwischen 1967 und 1970 in der DDR Medizin studiert. Er hatte als "afrikanischer Student aus jungen Nationalstaaten" ein Stipendium bekommen und war nach Abschluss des Studiums zurück nach Senegal gegangen - hatte aber sowohl in Leipzig als auch in Berlin jeweils eine Frau und einen kleinen Sohn hinterlassen.
"Brüder" schildert die völlig unterschiedlich verlaufenden Leben dieser beiden Söhne. Und eigentlich ist alles da, was zu einem Epos gehört: die Geschichte einer Generation und einer Epoche, die Folgen eines politischen Umbruchs, die Fragen nach der Ost- und Westidentität und die nach der Hautfarbe, weil beide Jungen einen schwarzen Vater haben. Genauer betrachtet ist der Roman aber etwas anderes: Er ist ein Epos, das Wert darauf legt, keins zu sein. Eine Art Gegen-Roman zum "Turm". Er verzichtet auf Pathos und zu viel Bedeutung und ersetzt diese durch Ironie, Lakonik, Lust an der Unterhaltung und eine beeindruckende, manchmal fast schlafwandlerisch wirkende Leichtigkeit, mit der die Autorin erzählt. Er setzt keine Denkmäler, sondern Pointen, handelt von einem der aktuellsten Themen, nämlich Identitätspolitik, und sagt zugleich mit jedem Satz: Dies ist kein Roman über Hautfarbe und keiner über Rassismus, keiner über den Osten oder den Westen. Oder, wie es an einer Stelle aus Micks Sicht heißt: "Die Ausländer- und die Ostfrage gleichzeitig, nein danke." Aber was ist er dann?
Mick wächst, so erzählt es Jackie Thomae, als Kind seiner alleinerziehenden Mutter in der DDR auf, geht zum Rudertraining, treibt sich mit seiner Clique im Plänterwald herum, als die Mutter, die einen Ausreiseantrag gestellt hat, ihm verkündet, dass sie heiraten würde, was bedeutet, dass sie vom Treptower Park auf die andere Seite nach Halensee "rübermachen" würden. In der Sechszimmerwohnung des neuen Stiefvaters verbringt er "friedliche Nachmittage mit MTV und Masturbation". Er beginnt eine Ausbildung als Zimmermann, die er selbst "so beiläufig wahrnimmt wie eine flüchtige Diskobekanntschaft". Dann aber fällt die Mauer und die neunziger Jahre beginnen: "Die Stadt", heißt es im Roman, "wurde zum Spielplatz und entwickelte sich nach seinem Geschmack. Die Sonne war herausgekommen. Zeit für Frauen. Zeit für Partys. Zeit für neue Freunde."
"Brüder" sind zu Beginn des Romans in der Mick-Erzählung erst mal Mick und Desmond, den er auf dem Weg in einen Club kennenlernt und mit dem er von nun an gemeinsam unterwegs ist - Desmond, der "dunkler ist als er, etwas kleiner, neun Jahre älter, Amerikaner und somit ausgestattet mit einem natürlich Vorsprung an Coolness. Ein Bruder, ja." Desmond verwickelt Mick und dessen Freundin Delia, eine Jurastudentin aus Hannover, in eine Kokain-Schmuggel-Aktion, für die alle drei nach Kolumbien fliegen, in einer Art Arztpraxis "kleine weiße Bömbchen" schlucken, die aussehen wie Tampons, und diese in einem brandgefährlichen Drama, das Mick und Delia zu Überlebenden macht, in ihren Körpern zurück nach Europa transportieren.
Was von der Aktion übrig bleibt, sind eine ganze Menge "braune Scheine mit den Brüdern Grimm", die Mick, neuerdings Clubbesitzer in Berlin, "brüderlich" mit seinen Freunden teilt, während Delia für beide eine Plattenbauwohnung in Pankow kauft. Indem sie mit Mick in die Berliner Nachtlebenwelt eintaucht, wird Jackie Thomae zur Chronistin einer Stimmung, in der in den neunziger Jahren alle der Jahrtausendwende wie einem "furiosen Finale" entgegenhecheln, "von dem niemand so genau wusste, wie es aussehen würde". Niemals, findet Mick, der Rastlose, der bei den Frauen so ungeheuer gut ankommt, der eigentlich lieber keine Kinder will und irgendwann Yogalehrer wird, "war seine Herkunft egaler als in dieser Zeit".
"Farbe bekennen? Ohne mich", meint, ähnlich wie er, im zweiten Teil von "Brüder" Gabriel, der Halbbruder, von dem Mick nichts weiß. "Und ich sage dir auch, warum: Weil Hautfarbe als Distinktionsmerkmal die Grundlage für jede Art von Rassismus ist. Die Einzigen, die sich daran orientieren dürften, sind bekennende Rassisten. Wenn diese Unterscheidung aber kompletter Unsinn ist, was sie nachgewiesenermaßen auch ist, wieso sollte ich mich nach ihr richten? Wieso sollte ich mich einer Gruppe zuordnen lassen, die gar nicht existiert?"
Jackie Thomae entwirft also eine Versuchsanordnung: Zwei Jungen, geboren in der DDR, die aufwachsen, ohne ihren Vater zu kennen, deren Hautfarbe aber immerzu an diesen Vater erinnert - welchen Weg schlagen sie, die unter so ähnlichen Voraussetzungen ins Leben starten, unabhängig voneinander ein? Die Wege könnten unterschiedlicher nicht sein: Gabriel ist ein ehrgeiziger Kontrollfreak, eher humorlos, aber begabt, der heiratet, Vater wird, Karriere macht und zum Stararchitekten wird, überall in der Welt Bahnhöfe baut, Museen oder Villen, bis zur völligen Erschöpfung. Die Tendenz, aus seiner Herkunft kein Drama, in gewisser Weise sogar noch nicht einmal ein Thema zu machen, die aber hat er mit Mick gemein. "Entschuldige", sagt er an einer Stelle zu einer Freundin, die ihm vorwirft, aus Wut auf seinen abwesenden Vater seine "schwarze Seite" zu verleugnen, "ich laufe nicht den ganzen Tag herum und denke, ich bin schwarz, ich bin schwarz, oh Gott, ich bin schwarz." Mick würde dies ganz ähnlich formulieren.
Und damit ist auch bald klar, worum es bei Jackie Thomae geht. Es sind keine Thesen zu Herkunft oder Rassismus, die die Autorin interessieren, keine politischen Stellungnahmen, weil solche Stellungnahmen immer auch eine Klarheit suggerieren, die sie gerade vermeiden will, das Schematische, das Schwarz und Weiß. Worauf sie ihren Blick richtet, sind individuelle Situationen und die Widersprüche, die sie mit sich bringen. Es ist nicht so, wie wir reflexhaft oft denken. Guckt genau hin, es ist komplizierter, sagt Jackie Thomae und bringt ihre Figuren in Situationen, die die Erwartungen oft unterlaufen.
So zieht Mick mit Delia widerwillig in den Plattenbau nach Pankow, der ausgerechnet die ehemalige Botschaft eines Zwergenstaats ist, und wird mit ihr, wie ihre Diplomatenvormieter, zu einem Paar auf fremden Terrain. Er fühlt sich wie innerhalb einer Stadt ausgewandert. Das Land, das er verlassen hat, existiert nicht mehr, doch in Pankow erscheint es ihm so lebendig, dass er jeden grantigen Rentner für einen verbitterten Parteikader hält. Als er sich gerade mit seiner neuen Wohngegend abgefunden hat, wird er von Typen, die an einer Trinkhalle herumlungern, angepöbelt. Mick hat Kapuze und Kopfhörer auf und beschließt, sie zu ignorieren, als er aus dem Nichts einen Stoß in den Rücken kriegt, während hinten am Kiosk einer die rechte Hand hebt: "Sieg Heil, Nigger." Mick schlägt den Angreifer nieder und erkennt in ihm zu seinem Erstaunen einen Schulkameraden von früher, der sich ein misslungenes Nashorn auf die Gurgel hatte tätowieren lassen, das sich bei genauerem Hinsehen als Karte des Deutschen Reichs herausstellte. Sein Lachen ist das von früher - und so passiert etwas, das man erst gar nicht versteht: Mick beschließt, das Ganze als das zufällige Wiedersehen mit einem Bekannten aus Kindertagen zu verbuchen und nicht als Naziüberfall. Er will wie Gabriel mit den Kategorien von Täter und Opfer, Rechtsradikalen und Ausländern so sehr nichts zu tun haben, dass er mutwillig wegschaut.
Bei Gabriel wiederum steht dort, wo im Roman seine Ich-Erzählung beginnt, die Polizei vor der Tür, weil ihm ein sexueller, rassistisch motivierter Übergriff auf eine seiner - schwarzen - Architekturstudentinnen in London vorgeworfen wird. Dass er selbst schwarz ist, spielt dabei keine Rolle. Etwas überspannt war er morgens vor die Haustür gegangen, wo eine junge Frau gerade einen Hund ausführte, der Gabriels Fahrrad soeben als Baum missbrauchte. Die Hundekacke entdeckte er erst, als er sich über sein Vorderrad beugte - und rastete aus. Er griff in die Scheiße, rannte dem Mädchen hinterher und verteilte den Hundekot schreiend auf der Pelzkapuze ihres Parkas und schließlich auf ihrem Kopf. Dass es seine Studentin war, erkannte er nicht. Sie aber schon. "Mein Mann ist kein Rassist, mein Mann hat einen Burn-out, er ist krank", sagt Gabriels Frau Fleur. Wenig später sitzt der mutmaßliche Rassist auf dem Gesundheitsamt, wo er auf einem Formular ankreuzen soll, welcher ethnischen Gruppe er angehört und verzweifelt: "Es war ein Rassenformular und machte sich nicht die Mühe, das zu kaschieren."
Jackie Thomae wurde 1972 geboren, wuchs in Leipzig bei ihrer Mutter auf, ging nach der Wende nach Berlin, wo sie als Journalistin und Fernsehautorin arbeitete, zwei Sachbücher und ihren ersten Roman, "Momente der Klarheit", schrieb. Erst spät lernte sie - wie die beiden Romanbrüder - ihren Vater kennen, einen Zahnarzt aus Guinea, der völlig überraschend in ihr Leben trat. Und natürlich spielt das Autobiographische in ihren funkelnden, schlauen Roman hinein. Aber eben nur beiläufig, so wie ihre große Erzählung nur beiläufig groß sein will und - auch weil sie souverän so viele Sprachen und Stimmen einfängt, von den siebziger Jahren im Osten über den Sound der Neunziger bis zum Identitätsdiskurs der Gegenwart - doch tatsächlich groß ist.
"Wie gehen Sie selbst mit Rassismus um?" oder "Fühlen Sie sich manchmal diskriminiert?", wurde die Autorin, die auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht und eine verdiente Gewinnerin wäre, in den vergangenen Wochen in Interviews gefragt. Sie antwortete höflich. Hat sie nicht gerade auf vierhundert Seiten erzählt, wie kompliziert die Antworten auf solche Fragen sind?
JULIA ENCKE
Jackie Thomae: "Brüder". Roman. Hanser Berlin, 430 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das aber ist nun schon eine ganze Weile her. Nach all den Jahren und all den über die deutsche Geschichte schreibenden Männern kommt jetzt Jackie Thomae und macht alles anders. Sie schreibt einen Roman, den sie "Brüder" nennt, ohne damit auch nur im Geringsten das "Alle Menschen werden Brüder" zu meinen, das so gerne als musikalisches Symbol der deutschen Einheit gefeiert wird. Brüder und Schwestern werden bei ihr alle, wenn überhaupt, dann nur in den Technoclubs der neunziger Jahre. Sie erzählt die Geschichte von Mick und Gabriel, die, ohne voneinander zu wissen, beide denselben Vater haben, den sie nicht kennen. Dieser Vater hatte zwischen 1967 und 1970 in der DDR Medizin studiert. Er hatte als "afrikanischer Student aus jungen Nationalstaaten" ein Stipendium bekommen und war nach Abschluss des Studiums zurück nach Senegal gegangen - hatte aber sowohl in Leipzig als auch in Berlin jeweils eine Frau und einen kleinen Sohn hinterlassen.
"Brüder" schildert die völlig unterschiedlich verlaufenden Leben dieser beiden Söhne. Und eigentlich ist alles da, was zu einem Epos gehört: die Geschichte einer Generation und einer Epoche, die Folgen eines politischen Umbruchs, die Fragen nach der Ost- und Westidentität und die nach der Hautfarbe, weil beide Jungen einen schwarzen Vater haben. Genauer betrachtet ist der Roman aber etwas anderes: Er ist ein Epos, das Wert darauf legt, keins zu sein. Eine Art Gegen-Roman zum "Turm". Er verzichtet auf Pathos und zu viel Bedeutung und ersetzt diese durch Ironie, Lakonik, Lust an der Unterhaltung und eine beeindruckende, manchmal fast schlafwandlerisch wirkende Leichtigkeit, mit der die Autorin erzählt. Er setzt keine Denkmäler, sondern Pointen, handelt von einem der aktuellsten Themen, nämlich Identitätspolitik, und sagt zugleich mit jedem Satz: Dies ist kein Roman über Hautfarbe und keiner über Rassismus, keiner über den Osten oder den Westen. Oder, wie es an einer Stelle aus Micks Sicht heißt: "Die Ausländer- und die Ostfrage gleichzeitig, nein danke." Aber was ist er dann?
Mick wächst, so erzählt es Jackie Thomae, als Kind seiner alleinerziehenden Mutter in der DDR auf, geht zum Rudertraining, treibt sich mit seiner Clique im Plänterwald herum, als die Mutter, die einen Ausreiseantrag gestellt hat, ihm verkündet, dass sie heiraten würde, was bedeutet, dass sie vom Treptower Park auf die andere Seite nach Halensee "rübermachen" würden. In der Sechszimmerwohnung des neuen Stiefvaters verbringt er "friedliche Nachmittage mit MTV und Masturbation". Er beginnt eine Ausbildung als Zimmermann, die er selbst "so beiläufig wahrnimmt wie eine flüchtige Diskobekanntschaft". Dann aber fällt die Mauer und die neunziger Jahre beginnen: "Die Stadt", heißt es im Roman, "wurde zum Spielplatz und entwickelte sich nach seinem Geschmack. Die Sonne war herausgekommen. Zeit für Frauen. Zeit für Partys. Zeit für neue Freunde."
"Brüder" sind zu Beginn des Romans in der Mick-Erzählung erst mal Mick und Desmond, den er auf dem Weg in einen Club kennenlernt und mit dem er von nun an gemeinsam unterwegs ist - Desmond, der "dunkler ist als er, etwas kleiner, neun Jahre älter, Amerikaner und somit ausgestattet mit einem natürlich Vorsprung an Coolness. Ein Bruder, ja." Desmond verwickelt Mick und dessen Freundin Delia, eine Jurastudentin aus Hannover, in eine Kokain-Schmuggel-Aktion, für die alle drei nach Kolumbien fliegen, in einer Art Arztpraxis "kleine weiße Bömbchen" schlucken, die aussehen wie Tampons, und diese in einem brandgefährlichen Drama, das Mick und Delia zu Überlebenden macht, in ihren Körpern zurück nach Europa transportieren.
Was von der Aktion übrig bleibt, sind eine ganze Menge "braune Scheine mit den Brüdern Grimm", die Mick, neuerdings Clubbesitzer in Berlin, "brüderlich" mit seinen Freunden teilt, während Delia für beide eine Plattenbauwohnung in Pankow kauft. Indem sie mit Mick in die Berliner Nachtlebenwelt eintaucht, wird Jackie Thomae zur Chronistin einer Stimmung, in der in den neunziger Jahren alle der Jahrtausendwende wie einem "furiosen Finale" entgegenhecheln, "von dem niemand so genau wusste, wie es aussehen würde". Niemals, findet Mick, der Rastlose, der bei den Frauen so ungeheuer gut ankommt, der eigentlich lieber keine Kinder will und irgendwann Yogalehrer wird, "war seine Herkunft egaler als in dieser Zeit".
"Farbe bekennen? Ohne mich", meint, ähnlich wie er, im zweiten Teil von "Brüder" Gabriel, der Halbbruder, von dem Mick nichts weiß. "Und ich sage dir auch, warum: Weil Hautfarbe als Distinktionsmerkmal die Grundlage für jede Art von Rassismus ist. Die Einzigen, die sich daran orientieren dürften, sind bekennende Rassisten. Wenn diese Unterscheidung aber kompletter Unsinn ist, was sie nachgewiesenermaßen auch ist, wieso sollte ich mich nach ihr richten? Wieso sollte ich mich einer Gruppe zuordnen lassen, die gar nicht existiert?"
Jackie Thomae entwirft also eine Versuchsanordnung: Zwei Jungen, geboren in der DDR, die aufwachsen, ohne ihren Vater zu kennen, deren Hautfarbe aber immerzu an diesen Vater erinnert - welchen Weg schlagen sie, die unter so ähnlichen Voraussetzungen ins Leben starten, unabhängig voneinander ein? Die Wege könnten unterschiedlicher nicht sein: Gabriel ist ein ehrgeiziger Kontrollfreak, eher humorlos, aber begabt, der heiratet, Vater wird, Karriere macht und zum Stararchitekten wird, überall in der Welt Bahnhöfe baut, Museen oder Villen, bis zur völligen Erschöpfung. Die Tendenz, aus seiner Herkunft kein Drama, in gewisser Weise sogar noch nicht einmal ein Thema zu machen, die aber hat er mit Mick gemein. "Entschuldige", sagt er an einer Stelle zu einer Freundin, die ihm vorwirft, aus Wut auf seinen abwesenden Vater seine "schwarze Seite" zu verleugnen, "ich laufe nicht den ganzen Tag herum und denke, ich bin schwarz, ich bin schwarz, oh Gott, ich bin schwarz." Mick würde dies ganz ähnlich formulieren.
Und damit ist auch bald klar, worum es bei Jackie Thomae geht. Es sind keine Thesen zu Herkunft oder Rassismus, die die Autorin interessieren, keine politischen Stellungnahmen, weil solche Stellungnahmen immer auch eine Klarheit suggerieren, die sie gerade vermeiden will, das Schematische, das Schwarz und Weiß. Worauf sie ihren Blick richtet, sind individuelle Situationen und die Widersprüche, die sie mit sich bringen. Es ist nicht so, wie wir reflexhaft oft denken. Guckt genau hin, es ist komplizierter, sagt Jackie Thomae und bringt ihre Figuren in Situationen, die die Erwartungen oft unterlaufen.
So zieht Mick mit Delia widerwillig in den Plattenbau nach Pankow, der ausgerechnet die ehemalige Botschaft eines Zwergenstaats ist, und wird mit ihr, wie ihre Diplomatenvormieter, zu einem Paar auf fremden Terrain. Er fühlt sich wie innerhalb einer Stadt ausgewandert. Das Land, das er verlassen hat, existiert nicht mehr, doch in Pankow erscheint es ihm so lebendig, dass er jeden grantigen Rentner für einen verbitterten Parteikader hält. Als er sich gerade mit seiner neuen Wohngegend abgefunden hat, wird er von Typen, die an einer Trinkhalle herumlungern, angepöbelt. Mick hat Kapuze und Kopfhörer auf und beschließt, sie zu ignorieren, als er aus dem Nichts einen Stoß in den Rücken kriegt, während hinten am Kiosk einer die rechte Hand hebt: "Sieg Heil, Nigger." Mick schlägt den Angreifer nieder und erkennt in ihm zu seinem Erstaunen einen Schulkameraden von früher, der sich ein misslungenes Nashorn auf die Gurgel hatte tätowieren lassen, das sich bei genauerem Hinsehen als Karte des Deutschen Reichs herausstellte. Sein Lachen ist das von früher - und so passiert etwas, das man erst gar nicht versteht: Mick beschließt, das Ganze als das zufällige Wiedersehen mit einem Bekannten aus Kindertagen zu verbuchen und nicht als Naziüberfall. Er will wie Gabriel mit den Kategorien von Täter und Opfer, Rechtsradikalen und Ausländern so sehr nichts zu tun haben, dass er mutwillig wegschaut.
Bei Gabriel wiederum steht dort, wo im Roman seine Ich-Erzählung beginnt, die Polizei vor der Tür, weil ihm ein sexueller, rassistisch motivierter Übergriff auf eine seiner - schwarzen - Architekturstudentinnen in London vorgeworfen wird. Dass er selbst schwarz ist, spielt dabei keine Rolle. Etwas überspannt war er morgens vor die Haustür gegangen, wo eine junge Frau gerade einen Hund ausführte, der Gabriels Fahrrad soeben als Baum missbrauchte. Die Hundekacke entdeckte er erst, als er sich über sein Vorderrad beugte - und rastete aus. Er griff in die Scheiße, rannte dem Mädchen hinterher und verteilte den Hundekot schreiend auf der Pelzkapuze ihres Parkas und schließlich auf ihrem Kopf. Dass es seine Studentin war, erkannte er nicht. Sie aber schon. "Mein Mann ist kein Rassist, mein Mann hat einen Burn-out, er ist krank", sagt Gabriels Frau Fleur. Wenig später sitzt der mutmaßliche Rassist auf dem Gesundheitsamt, wo er auf einem Formular ankreuzen soll, welcher ethnischen Gruppe er angehört und verzweifelt: "Es war ein Rassenformular und machte sich nicht die Mühe, das zu kaschieren."
Jackie Thomae wurde 1972 geboren, wuchs in Leipzig bei ihrer Mutter auf, ging nach der Wende nach Berlin, wo sie als Journalistin und Fernsehautorin arbeitete, zwei Sachbücher und ihren ersten Roman, "Momente der Klarheit", schrieb. Erst spät lernte sie - wie die beiden Romanbrüder - ihren Vater kennen, einen Zahnarzt aus Guinea, der völlig überraschend in ihr Leben trat. Und natürlich spielt das Autobiographische in ihren funkelnden, schlauen Roman hinein. Aber eben nur beiläufig, so wie ihre große Erzählung nur beiläufig groß sein will und - auch weil sie souverän so viele Sprachen und Stimmen einfängt, von den siebziger Jahren im Osten über den Sound der Neunziger bis zum Identitätsdiskurs der Gegenwart - doch tatsächlich groß ist.
"Wie gehen Sie selbst mit Rassismus um?" oder "Fühlen Sie sich manchmal diskriminiert?", wurde die Autorin, die auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht und eine verdiente Gewinnerin wäre, in den vergangenen Wochen in Interviews gefragt. Sie antwortete höflich. Hat sie nicht gerade auf vierhundert Seiten erzählt, wie kompliziert die Antworten auf solche Fragen sind?
JULIA ENCKE
Jackie Thomae: "Brüder". Roman. Hanser Berlin, 430 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Eine bestechend intelligente Prosa, die erklärt, wie wir heute leben. [...] Eine solche soziologische Intelligenz gibt es selten in der deutschen Prosa." Denis Scheck, SWR, 15.12.19
"Wie kann man nur so genau und cool über Männer schreiben? Über Osten, Hautfarben, Normalität und Chaos? Deutsche Gegenwart, scharfsinnig-leicht." Alexander Cammann, Die Zeit, 21.11.19
"Dass das mit der Hautfarbe und dem Rassismus komplizierter ist, als die Social-Justice-Warrior denken, zeigt dieser beobachtungsstarke Gesellschaftsroman." Ijoma Mangold, Die Zeit, 21.11.19
"'Brüder' ist auf eine angelsächsisch anmutende Art ungemein intelligent, humorvoll und unterhaltsam zugleich geschrieben und bringt damit eine sonst weitgehend
"Wie kann man nur so genau und cool über Männer schreiben? Über Osten, Hautfarben, Normalität und Chaos? Deutsche Gegenwart, scharfsinnig-leicht." Alexander Cammann, Die Zeit, 21.11.19
"Dass das mit der Hautfarbe und dem Rassismus komplizierter ist, als die Social-Justice-Warrior denken, zeigt dieser beobachtungsstarke Gesellschaftsroman." Ijoma Mangold, Die Zeit, 21.11.19
"'Brüder' ist auf eine angelsächsisch anmutende Art ungemein intelligent, humorvoll und unterhaltsam zugleich geschrieben und bringt damit eine sonst weitgehend
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fehlende Qualität in die deutsche Literatur ein." Katharina Granzin, Frankfurter Rundschau, 08.10.19
"'Brüder' schildert die völlig unterschiedlich verlaufenden Leben zweier Söhne. Und eigentlich ist alles da, was zu einem Epos gehört: die Geschichte einer Generation und einer Epoche, die Folgen eines politischen Umbruchs, die Fragen nach der Ost- und Westidentität und die nach der Hautfarbe, weil beide Jungen einen schwarzen Vater haben. Genauer betrachtet ist der Roman aber etwas anderes: Er ist ein Epos, das Wert darauf legt, keins zu sein... er verzichtet auf Pathos und zu viel Bedeutung und ersetzt diese durch Ironie, Lakonik, Lust an der Unterhaltung und eine beeindruckende, manchmal fast schlafwandlerisch wirkende Leichtigkeit, mit der die Autorin erzählt. Er setzt keine Denkmäler, sondern Pointen, handelt von einem der aktuellsten Themen, nämlich Identitätspolitik, und sagt zugleich mit jedem Satz: Dies ist kein Roman über Hautfarbe und keiner über Rassismus, keiner über den Osten oder den Westen." Anna Prizkau, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.10.19
"'Brüder' weiß ziemlich viel über das Leben und die Welt zu erzählen und kann in wenigen Sätzen Szenen und Figuren anlegen, dass man mit den Ohren schlackert, wie da durch präzise skizzierte finanziell scheiternde Berliner Clubs und Resorts in Thailand und chinesische Großbaustellen galoppiert wird, als wäre es nichts. Und wie da über Hautfarben und deren Zwischentöne geschrieben wird, die mit der Handlung auf den ersten Blick nicht viel zu tun haben, aber an denen niemand so recht vorbeikommt, das hat man in dieser Subtilität zuletzt bei Zadie Smith gelesen." Andrea Diener, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.19
"Thomae erzählt leicht und souverän, ein sanftes Allwissen könnte man ihre Technik nennen, denn alles Auktoriale geht in der Empathie auf, mit der sie, oft in erlebter Rede, die Handlung aus der Persektive ihrer Figuren schildert. ... Es gelingt ihr einen tragfährigen epischen Bogen aufzuspannen. Schlüssig und doch im Bewusstsein des unergründlichen Zufalls wird geschildert, wie sich Persönlichkeiten über drei Jahrzehnte hinweg entfalten." Juliane Liebert, Die Zeit, 26.09.19
"Man kann sagen, dass 'Brüder' wirklich eine große deutsche Neuigkeit ist: Ein Roman, der von Herkunft und nicht-weißer Identität erzählt, ohne seine Formen und Fragen von diesem Thema abhängig zu machen." Marie Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 17.09.19
"Brüder ist ein perfekt durchdachter, klug konzipierter und eloquent verfasster Gesellschaftsroman, dessen überbordende Leidenschaft und Dynamik zusammen mit Jackie Thomaes Fähigkeit, plastische Figuren zu zeichnen und in deren Psyche vorzudringen, Geist und Sinne schärfen. Ein schillerndes Aushängeschild zeitgenössischer deutscher Literatur." Gérard Otremba, Rolling Stone, 01.09.19
"Ein Plädoyer für den zweiten Blick und auch den dritten, ein Plädoyer gegen die Gefahr, farbfehlgeleitet durch die Welt zu gehen." Tobias Becker, Der Spiegel, 17.08.19
"'Brüder' schildert die völlig unterschiedlich verlaufenden Leben zweier Söhne. Und eigentlich ist alles da, was zu einem Epos gehört: die Geschichte einer Generation und einer Epoche, die Folgen eines politischen Umbruchs, die Fragen nach der Ost- und Westidentität und die nach der Hautfarbe, weil beide Jungen einen schwarzen Vater haben. Genauer betrachtet ist der Roman aber etwas anderes: Er ist ein Epos, das Wert darauf legt, keins zu sein... er verzichtet auf Pathos und zu viel Bedeutung und ersetzt diese durch Ironie, Lakonik, Lust an der Unterhaltung und eine beeindruckende, manchmal fast schlafwandlerisch wirkende Leichtigkeit, mit der die Autorin erzählt. Er setzt keine Denkmäler, sondern Pointen, handelt von einem der aktuellsten Themen, nämlich Identitätspolitik, und sagt zugleich mit jedem Satz: Dies ist kein Roman über Hautfarbe und keiner über Rassismus, keiner über den Osten oder den Westen." Anna Prizkau, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.10.19
"'Brüder' weiß ziemlich viel über das Leben und die Welt zu erzählen und kann in wenigen Sätzen Szenen und Figuren anlegen, dass man mit den Ohren schlackert, wie da durch präzise skizzierte finanziell scheiternde Berliner Clubs und Resorts in Thailand und chinesische Großbaustellen galoppiert wird, als wäre es nichts. Und wie da über Hautfarben und deren Zwischentöne geschrieben wird, die mit der Handlung auf den ersten Blick nicht viel zu tun haben, aber an denen niemand so recht vorbeikommt, das hat man in dieser Subtilität zuletzt bei Zadie Smith gelesen." Andrea Diener, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.19
"Thomae erzählt leicht und souverän, ein sanftes Allwissen könnte man ihre Technik nennen, denn alles Auktoriale geht in der Empathie auf, mit der sie, oft in erlebter Rede, die Handlung aus der Persektive ihrer Figuren schildert. ... Es gelingt ihr einen tragfährigen epischen Bogen aufzuspannen. Schlüssig und doch im Bewusstsein des unergründlichen Zufalls wird geschildert, wie sich Persönlichkeiten über drei Jahrzehnte hinweg entfalten." Juliane Liebert, Die Zeit, 26.09.19
"Man kann sagen, dass 'Brüder' wirklich eine große deutsche Neuigkeit ist: Ein Roman, der von Herkunft und nicht-weißer Identität erzählt, ohne seine Formen und Fragen von diesem Thema abhängig zu machen." Marie Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 17.09.19
"Brüder ist ein perfekt durchdachter, klug konzipierter und eloquent verfasster Gesellschaftsroman, dessen überbordende Leidenschaft und Dynamik zusammen mit Jackie Thomaes Fähigkeit, plastische Figuren zu zeichnen und in deren Psyche vorzudringen, Geist und Sinne schärfen. Ein schillerndes Aushängeschild zeitgenössischer deutscher Literatur." Gérard Otremba, Rolling Stone, 01.09.19
"Ein Plädoyer für den zweiten Blick und auch den dritten, ein Plädoyer gegen die Gefahr, farbfehlgeleitet durch die Welt zu gehen." Tobias Becker, Der Spiegel, 17.08.19
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Gebundenes Buch
Mick und Gabriel sind Brüder, doch das wissen sie nicht, denn sie haben außer den Genen des Vaters und der dadurch dunklen Hautfarbe wenig gemeinsam. Mick wächst im Ost-Berlin der DDR auf und auch nach der Wende hat das Leben wenig zu bieten. Mit Delia könnte alles in sichere …
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Mick und Gabriel sind Brüder, doch das wissen sie nicht, denn sie haben außer den Genen des Vaters und der dadurch dunklen Hautfarbe wenig gemeinsam. Mick wächst im Ost-Berlin der DDR auf und auch nach der Wende hat das Leben wenig zu bieten. Mit Delia könnte alles in sichere und ruhige Bahnen laufen, aber er kann ihr das nicht geben, was sie will: ein Baby. Gabriel hingegen wächst in Sachsen bei den Großeltern auf, nachdem seine Mutter früh bei einem Unfall starb. Zielstrebig wird er zu einem der besten Architekten weltweit und baut sich in London genau das Leben auf, das er als Kind nicht hatte und von dem er nur träumen konnte. Ihre Wege sollten sich nie kreuzen, doch es gibt ja den gemeinsamen Vater.
Jackie Thomae erzählt in ihrem zweiten Roman, der es 2019 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, zwei Geschichten. Die Ausgangssituation ist vergleichbar, doch dann sind es Umstände, Begegnungen, Zufälle, persönliche Dispositionen, die dazu führen, dass die beiden Jungs sich ganz unterschiedlich entwickeln. Überzeugend zeigt die Autorin so, dass das Leben nie planbar ist und es immer viele Faktoren sind, die darüber entscheiden, wie die Dinge laufen.
„und er begriff erst jetzt: sein Bruder war nicht wie seine Schwestern mit diesem Mann hier aufgewachsen. Nein. Sein Bruder war wie er.“
Mick täuscht sich kolossal in seiner Einschätzung, denn die beiden Brüder könnten verschiedener kaum sein. Mick wirft sich voll ins Leben, erwartet alles und will es mit allen Sinnen auskosten. Frauen, Drogen, Partys bis in den Morgen – you name it. Gabriel hingegen ist ehrgeizig und zielstrebig und überlässt wenig dem Zufall. Seine Entscheidungen sind durchdacht und sorgfältig gewählt. So verlaufen ihre beruflichen Karrieren und Beziehungen auch diametral entgegengesetzt.
Ein Thema, das eigentlich keins ist, ist ihre Hautfarbe. Im multikulturellen London ist Gabriel einer von vielen, selbst als ihm ein Angriff vorgeworfen wird, wird seine Hautfarbe nicht thematisiert. Er lässt sich nicht in die britische Gesellschaft mit ihrem strengen Klassensystem eingruppieren, sondern wird nach seinem Erfolg und Charakter beurteilt. Sie ist jedoch für ihn wesentliches Kriterium, einen Job in den USA auszuschlagen, denn dort sieht er trotz Obamas Erfolg immer noch eine Reduktion auf sein Äußeres. Auch in Berlin ist Mick nicht ernsthaft Rassismus ausgesetzt, Stigmatisierungen verlaufen eher über soziale Faktoren. Einzig in seiner Beziehung mit Delia kommen ihm gelegentlich Zweifel, ob er nicht gerade wegen seinem Aussehen als Partner in Frage kam, sein Einkommen und Status können es kaum gewesen sein.
Jackie Thomae erzählt lebendig mit eingängigem Humor, der einem immer wieder Schmunzeln lässt. Sie verfällt nicht naheliegenden Klischeedarstellungen, weder wie erwähnt die Hautfarbe noch die Wende werden als Schicksalsschlag ausgeschlachtet, dem die Figuren nicht entkommen können. Es ist ein Blick in den Alltag zweier interessanter Individuen, der auch erzählperspektivisch überzeugend gestaltet wurde.
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Mick und Gabriel wurden im gleichen Jahr geboren und haben denselben Vater, der ihnen die Hautfarbe mitgegeben hat. Aber sie wissen nicht voneinander. Mick ist in Ostberlin geboren und zog dann mit seiner Mutter in den Westen. Er hat eine Beziehung zu Delia, fühlt sich aber eher nicht gebunden. …
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Mick und Gabriel wurden im gleichen Jahr geboren und haben denselben Vater, der ihnen die Hautfarbe mitgegeben hat. Aber sie wissen nicht voneinander. Mick ist in Ostberlin geboren und zog dann mit seiner Mutter in den Westen. Er hat eine Beziehung zu Delia, fühlt sich aber eher nicht gebunden. Seine Welt sind die Clubs das Partyleben. Doch damit kommt der Unstete nicht immer durch, seine Freundin hat andere Erwartungen und verlässt ihn.
Gabriel ist in Leipzig geboren und wächst bei seinen Großeltern auf. Er war ehrgeizig und zielstrebig und wurde ein erfolgreicher Architekt und hat Familie. Dazu doziert er an der Uni. Doch eine recht banale Sache lässt sein bisheriges Leben zusammenbrechen.
Dazwischen erfahren wir auch einiges von dem Vater der beiden. Idris stammt aus dem Senegal und studiert mit Stipendium in der DDR Medizin. Er lernt die Mütter seiner Söhne kennen, hat aber auch keine Beziehung zu ihnen. Dann geht er zurück in sein Heimatland und praktiziert dort als Zahnarzt. Ein besuch in Deutschland bringt Erinnerungen hoch.
Ein Vater und zwei so unterschiedliche Söhne…
Immer wieder stellt man sich die Frage „Was macht uns zu dem Menschen, der wir sind?“ Ist es das, was von Geburt an in uns steckt? Oder ist es unsere Erziehung und unser Umfeld?
Mick und Gabriel wachsen ohne ihren Vater auf. Vermissen sie ihn jemals? Die Protagonisten sind lebendig und authentisch beschrieben und ich habe viel über sie erfahren, sympathisch wurde mir keiner von ihnen.
Es ist eine vielschichtige und komplexe Familiengeschichte, die auch die Zeitgeschichte mit betrachtet.
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Gebundenes Buch
Ein Symptom der Zeit
Mit ihrem zweiten Roman «Brüder» hat Jackie Thomae ein Epos geschrieben, das keines sein will, obwohl viele der Merkmale dafür vorhanden sind. Es ist die breit angelegte Geschichte zweier gleichaltriger, unehelich in der DDR geborener Halbbrüder mit …
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Ein Symptom der Zeit
Mit ihrem zweiten Roman «Brüder» hat Jackie Thomae ein Epos geschrieben, das keines sein will, obwohl viele der Merkmale dafür vorhanden sind. Es ist die breit angelegte Geschichte zweier gleichaltriger, unehelich in der DDR geborener Halbbrüder mit einem gemeinsamen afrikanischen Vater, den sie nie gesehen haben. Sie wachsen getrennt auf, wissen nichts voneinander und könnten ungleicher gar nicht sein. Es ist auch die Geschichte zweier Epochen, der Zeit vor und nach der Wende in Deutschland, vor allem aber, wie die Autorin im Interview erklärt hat, eine Hommage an West-Berlin, an Leute, die keine Rassisten sind, und an Alleinerziehende. Die autobiografischen Bezüge sind also unverkennbar. «Wer das Buch liest, wird feststellen, dass meine ‹Brüder› viele Begegnungen haben, bei denen sie eben nicht diskriminiert werden. Das war mir wichtig» hat sie leicht genervt über die immergleichen Interview-Fragen hinzugefügt, und so lautet ihre Widmung denn auch «Für euch, schwarze Schafe», - und damit ist hier wirklich nicht die Hautfarbe gemeint!
Ein solches schwarzes Schaf nämlich ist in diesem zweiteilig aufgebauten Roman Mick, ein sympathischer Taugenichts, gutaussehender Womanizer und arbeitsscheuer Hedonist, für den Partyfeiern der Lebensinhalt ist, der mangels Berufsausbildung allerlei fragwürdige Geschäfte betreibt und schließlich mit zwei Freunden einen Club aufmacht. Auch als er Delia kennenlernt, eine angehende Juristin, die ihn selbstlos mit durchfüttert, ändert das nichts an seinem unsteten Leben mit seinen schrägen Kumpels. Eine leichtfertig eingefädelte Drogengeschichte nimmt beinahe ein schlimmes Ende, und Delia verlässt ihn schließlich, als sie herausbekommt, dass er sich heimlich hat sterilisieren lassen, obwohl sie sich doch so sehnlich ein Kind von ihm wünscht. Er landet ziemlich abgebrannt auf einer thailändischen Insel, beschließt dort eine radikale Wende in seinem Leben und begegnet uns am Ende als Yogalehrer wieder. Ganz anders im zweiten Romanteil Gabriel, sein von wohlhabenden Adoptiveltern großgezogener Halbbruder, ein humorloser Kontrollfreak, dessen Leben immer nach Plan verläuft. Er geht nach London, wird ein weltweit erfolgreicher Stararchitekt und führt mit Frau und lustlosem, schwierigem Sohn ein luxuriöses, straff durchorganisiertes Leben. Bis ein zu Unrecht rassistisch gedeuteter, Burnout bedingter Ausraster den Workaholic aus seinem rastlosen Leben herausreißt und er unfreiwillig eine längere Auszeit in Brasilien nehmen muss.
Beide umfänglich etwa gleichen Romanteile sind chronologisch erzählt. Der erste Teil von Mick umfasst die Jahre von 1985 bis 2000, gefolgt von einem «Intermezzo» genannten Zwischenteil über den Vater der beiden Protagonisten. Im zweiten Teil dann wechselt die Perspektive, in kurzen, getrennt erzählten Kapiteln von der Jahrtausendwende an, jeweils zwischen Gabriel und seiner Frau Fleur als Ich-Erzähler. Es folgt ein im Jahr 2017 angesiedelter Epilog, der, ohne in ein kitschiges Happy-End abzugleiten, eine Art friedlichen Showdown beschreibt.
Die Charaktere der beiden Frauen sind ebenso verschieden wie die der Männer, die auf der Suche nach ihrer Identität, nach ihrem Platz im Leben sind. Jackie Thomae enthält sich dabei aller moralischen Wertungen, vergleicht nicht die sich diametral gegenüberstehenden Wege der Halbbrüder. Sie zeigt uns, geradezu beiläufig erzählt und durchaus ironisch, ein auf bürgerlichem Niveau angesiedeltes soziales Gefüge, das spätestens nach der Wende unaufhaltsam in einen Konsumfetischismus einzumünden scheint. Ein glaubhaft beschriebenes Figurenensemble begegnet dem Leser in diesem vielschichtig angelegten Roman, der in einer lockeren, flockigen Sprache das Zeitkolorit stimmig einfängt und dabei gut unterhält. Mehr aber auch nicht, gedankliche Tiefe sucht man vergebens, Anlässe zu eigenem Weiterdenken finden sich ebenfalls keine, alles bleibt sehr oberflächlich und wirkt dadurch auch nicht nach. Ein Symptom der Zeit?
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