Grandioses Buch über ein spannendes Thema
John Gray ist ein scharfer Kritiker moderner Erlösungsphantasien, diesen Standpunkt hat er bereits in seinen früheren Büchern mehr als deutlich gemacht. Jetzt geht es ihm um den Tod, den er für eine Provokation für moderne Menschen hält, weil an dieser
Grenze der individuelle Wille halt machen muss. Gray schildert ausführlich, warum Denker mit großem…mehrGrandioses Buch über ein spannendes Thema
John Gray ist ein scharfer Kritiker moderner Erlösungsphantasien, diesen Standpunkt hat er bereits in seinen früheren Büchern mehr als deutlich gemacht. Jetzt geht es ihm um den Tod, den er für eine Provokation für moderne Menschen hält, weil an dieser Grenze der individuelle Wille halt machen muss. Gray schildert ausführlich, warum Denker mit großem Einfluss in völlig unterschiedlichen Gesellschaftssystemen – dem England von Queen Viktoria, der Sowjetunion und aktuellen kapitalistischen Staaten – den Tod und seine absolute Verbindlichkeit negieren. Als Ausgangspunkt sieht der wortgewaltige Philosoph die gründliche Entzauberung der bekannten Strukturen durch die moderne Wissenschaft, begonnen hat das nach Auffassung des Autors in der Endphase des 19. Jahrhunderts. Charles Darwin und die sich entwickelnde moderne Physik hätten nicht primär die Schöpfungsgeschichte in Frage gestellt, wie gerne behauptet wird. Vielmehr sei es darum gegangen, die Endlichkeit der Menschheit als Ganzes in den Blickpunkt zu rücken.
Es geht also um die Frage, warum wir leben, obwohl irgendwann die Sonne vom Himmel verschwinden wird, und mit ihr alles Leben auf der Erde dem Untergang geweiht ist? Und wie sollte man bewerten, dass sich die Evolution durchaus zu Ungunsten des Menschen entwickeln?
Derartige Fragen beschäftigten nachhaltig die Intellektuellen im britischen Weltreich. So war etwa H. G. Wells der Auffassung, die Evolution müsse durch den Menschen gesteuert und kontrolliert werden. Andere Dichter, Denker, Politiker und Wissenschaftler setzten dagegen auf die Hoffnung, der Tod sei mitnichten das Ende der menschlichen Existenz. Sie veranstalteten Séancen und spiritistische Experimente, um ihren verzweifelten Glauben mit greifbaren Beweisen zu unterfüttern.
Der Autor verknüpft die wissenschaftliche Verunsicherung mit den persönlichen Schicksalen all derer, die diesem Geisterglauben frönten. Als Beispiele seien der Moralphilosoph Henry Sidgwick, Gerald Balfour, der Bruder des Premierministers, und die Frauenrechtlerin Winifred Coombe Tennant genannt. Und auch Charles Darwin höchstpersönlich, der seine einzige Séance früh verlässt, denn ihm geht offenbar der klägliche Hokuspokus seiner Mitmenschen auf die Nerven.
Im kommunistischen Riesenreich dominierte der Materialismus in unterschiedlichen Ausprägungen, der Glaube an Gespenster war hier undenkbar. Dennoch wollte man sich mit dem Tod ebenfalls nicht abfinden. Während Millionen von Arbeitern und Strafgefangenen bei monströsen Großprojekten verheizt wurden, wurde dem vergötterten Revolutionsführer Lenin ein Mausoleum errichtet. Für John Gray ein klares Zeichen, dass man geglaubt habe, man könne ihn eines Tages wieder zum Leben erwecken.
In der Gegenwart verortet der Autor eine Art Lifestyle-Industrie, deren Inhalt die Verleugnung des Todes ist. Da ist beispielsweise die Kryonik - alte Körper werden in der Hoffnung auf spätere Erlösung eingefroren. John Gray mokiert sich ausgiebig über die Prognosen des Sachbuch-Autoren Ray Kurzweil. Der propagiere, dass demnächst das Altwerden abgeschafft werden könne, weil die menschliche Existenz von biologischen Fesseln befreit und das Bewusstsein in einer digitalen Welt unsterblich gemacht werde.
Den Geisterglauben im viktorianischen Zeitalter hat der Autor durchaus ernst genommen, mit den Bemühungen der aktuellen Protagonisten zeigt Gray eher Mitleid. Abschließend rät der Autor zur Demut, sogar zu einer Art Vorfreude auf den Tod, gewissermaßen als Erlösung aus der Willkür der menschlichen Existenz. Ob man Gray bei dieser Ansicht folgen will, muss wohl jeder Leser selbst entscheiden. Immerhin, die Empfehlung zu etwas mehr Besonnenheit ist vielleicht angebracht.