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Christian1977
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Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 158 Bewertungen
Bewertung vom 07.06.2022
So tun, als ob es regnet
Wolff, Iris

So tun, als ob es regnet


ausgezeichnet

Sie heißen Jacob, Henriette, Vicco und Hedda. Vier Menschen, die mehr oder weniger mit der Geschichte Siebenbürgens verknüpft sind, dieser vor allem aus der Schauerliteratur bekannt gewordenen Region im heutigen Rumänien. Sie sind die Hauptfiguren in Iris Wolffs "So tun, als ob es regnet", einem Roman in vier Erzählungen aus dem Jahre 2017, den Klett-Cotta nun als Taschenbuch neu aufgelegt hat.

Auf gerade einmal 160 Seiten gelingt es Wolff dabei eindrücklich, ein ganzes Jahrhundert so zu entfalten, dass der Leser nicht nur vier unterschiedliche Generationen kennenlernt, sondern ganz nebenbei auch noch unheimlich viel über die Geschichte Siebenbürgens erfährt. Dass Iris Wolff selbst gebürtig aus dieser Region stammt, merkt man dem Werk dabei durchaus an, denn die Empathie und Emotionalität, die die Autorin dabei entwickelt, lassen sich auf fast jeder dieser Seiten entdecken.

Die Sprache ist dabei beglückend poetisch, ein regelrechtes Fest - und das, ohne verkopft zu wirken. Insbesondere die erste Erzählung "Budapest?", die den Soldaten Jacob im Jahre 1916 ins umkämpfte Kriegsgebiet Siebenbürgen begleitet, ist in dieser Hinsicht der Höhepunkt des Buches. Wolff spielt mit der Sprache und den Leser:innen und schafft es sogar, die Schrecken des Ersten Weltkrieges sprachlich so poetisch und elegant darzustellen, dass es einem fast den Atem raubt. Sätze wie "Das Zischen der Raketen vermischte sich mit dem Heulen der Wölfe" stehen sinnbildlich für die Melange aus Leben und Tod oder Grauen und Schönheit. Gerade diese erste Erzählung vereint sowohl bei den Figuren, als auch den Ereignissen so viele großartige Szenen, dass man mit dem Staunen kaum hinterherkommt.

Die zweite Erzählung "Elemérs Garten" begleitet Jacobs Tochter Henriette im Jahre 1933 und strahlt bis zum bedrückenden Finale eine etwas größere Leichtigkeit aus. Liebevoll spinnt Wolff hier viele Andeutungen aus dem ersten Teil zu einer Protagonistin zusammen, die das Buch wohl wie keine andere der Figuren bis zum Ende prägen wird. Zudem nimmt sie Bezug auf das rumänische Sprichwort, dem das Buch seinen Titel verdankt. Wenn jemand "so tut, als ob es regnet", stellt sich bei dieser Person eine gewollte oder ungewollte Abwesenheit ein, in der dieser Mensch kaum ansprechbar scheint.

Die 1969 spielende "Eine Zitrone im All" begeistert vor allem durch die Ambivalenz des Protagonisten Vicco, seinerseits Henriettes Sohn. Vicco ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie gut Iris Wolff bis in die Nebenfiguren hinein die Figurenkonzeption gelingt. Denn Vicco ist ein Freiheitsliebender mit Angst vor der Freiheit. Ein angepasster Rebell. Ein melancholischer Weiberheld. Ein Muttersöhnchen, das sich vor seiner Mutter fürchtet und sich für sie schämt. Ein Philosoph, der nur Perry Rhodan liest. Ein behüteter Verlassener.

Die letzte, in der Gegenwart angesiedelte Erzählung "Wölfe und Lämmer" ist die einzige, die nicht in Siebenbürgen spielt, sondern auf der kanarischen Insel La Gomera. Viccos Tochter Hedda ist dorthin ausgewandert, und auch ihre Eltern haben Siebenbürgen längst verlassen und leben mittlerweile in Deutschland. Klug und berührend gelingt es Iris Wolff in ihr, die zentralen Motive des gesamten Buches - Träume, Heimat und Identität - noch einmal hervorzuheben, um sie im nächsten Moment von den Leser:innen fortzureißen in diesem Strom der Melancholie, der dem ganzen Werk als wiederkehrendes Merkmal folgt. Vicco ist schwer an Krebs erkrankt und träumt nicht einmal mehr siebenbürgisch. Und auch die kinderlose Hedda scheint keine große Verbindung mehr zur Heimat ihrer Familie zu haben...

"So tun, als ob es regnet" ist ein kleines Meisterwerk, in dem es der Autorin wegen ihrer wunderbaren Sprache und der hervorragend ausgearbeiteten Figuren gelingt, dass man sich diesen trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Auftritte stets nahe fühlt. Das Buch vereint große Themen wie Identität, Freiheit, Tod, Leben, Familie, Heimat, Politik und Krieg und verdichtet diese so stark, das

Bewertung vom 25.05.2022
Mrs. Dalloway
Woolf, Virginia

Mrs. Dalloway


gut

Als Virginia Woolf 1925 im eigenen Verlag ihren vierten Roman "Mrs. Dalloway" veröffentlichte, galt dieser als stilistisch und sprachlich revolutionär, weil er mit den gewohnten erzählerischen Konventionen brach. Mehr als jeder andere Roman zuvor. Und auch sie selbst notierte in ihrem Tagebuch: "Ich glaube ganz ehrlich, dass dies der gelungenste meiner Romane ist." So erfahren wir es im Klappentext der jüngsten Ausgabe, die kürzlich in der Manesse Bibliothek erschienen ist. Es handelt sich dabei um eine deutsche Neuübersetzung von Melanie Walz, ergänzt und aufgewertet durch ein Nachwort der österreichischen Schriftstellerin Vea Kaiser.

Und tatsächlich kann man Woolfs Stil als unkonventionell und modern bezeichnen, ihr in "Mrs. Dalloway" als Erzählform verwendeter Bewusstseinsstrom findet sich auch heute noch in der zeitgenössischen Literatur: meisterlich und aufregend beispielsweise in Damon Galguts mit dem Booker Prize ausgezeichneten "Das Versprechen", etwas weniger spannend in Tanguy Viels Me-Too-Krimi "Das Mädchen, das man ruft". Was die beiden letztgenannten Romane aber von "Mrs. Dalloway" grundlegend unterscheidet, ist die Handlungsebene. Denn Virginia Woolf verzichtet fast vollständig auf diese und setzt komplett auf das Innenleben ihrer Figuren.

So lässt sich die Handlung auch knapp zusammenfassen: An einem Londoner Junitag des Jahres 1923 macht sich die 51-jährige Clarissa Dalloway auf, um Blumen für ihre am Abend stattfindende Party der sogenannten Upper Class zu besorgen. Die gesamte - überschaubare - Handlung konzentriert sich auf diesen einzigen Tag, den Rhythmus gibt dabei Big Ben mit seinem Glockenschlag als wiederkehrendes Motiv vor. Neben Mrs. Dalloway rückt als ihr Gegenpart der kriegstraumatisierte Septimus Warren Smith als nahezu gleichberechtigter zweiter Protagonist in den Mittelpunkt des Interesses.

Dieser Septimus ist in meinen Augen dann auch die mit Abstand interessanteste Figur des Romans. Eindringlich nähert sich Woolf diesem zerbrechlichen Mann, der stets auf der schmalen Linie zwischen Leben und Tod zu balancieren scheint. Eine besondere Note erhält Septimus' Charakterisierung, wenn man im Hinterkopf behält, dass Virginia Woolf selbst im Jahre 1941 den Freitod wählte.

Die anderen Figuren habe ich inklusive Mrs. Dalloway hingegen als recht beliebig und banal wahrgenommen. Die gesellschaftlichen Themen, die die feinen Damen und Herren beschäftigen, wirken austauschbar und bisweilen sogar platt. Wobei zu betonen ist, dass man Woolfs Absicht im Hinblick auf diesen Aspekt berücksichtigen muss: die Darstellung der britischen Nachkriegsgeneration in all ihren Aspekten. Leider konzentriert sie sich dabei jedoch auf zwei Extreme: die Upper Class und den traumatisierten Soldaten. Figuren aus der Mitte der Gesellschaft tauchen mit Ausnahme des ehemaligen Dalloway-Geliebten Peter Walsh kaum auf.

Hinzu kommt, dass es die Sprache ebenso wenig schaffte, mich mitzureißen, wie ich es mir eigentlich erhofft hatte. Denn grundsätzlich bin ich ein Freund des erzählerischen Bewusstseinsstroms und schätze gute und ausgiebige Beschreibungen ebenso wie eine starke Atmosphäre. Zwar ist der Stil modern, aber nicht die Sprache selbst, die bisweilen arg repetitiv wirkt. Wenn beispielsweise innerhalb dreier Seiten ganze neun Mal wiederholt wird, dass Peter Walsh aktuell verliebt sei, dann hatte selbst ich es wohl nach der fünften Wiederholung begriffen.

Hervorzuheben ist dennoch der Mut der Autorin, die nicht nur die literarischen Konventionen außer Acht lässt, sondern durchaus auch gesellschaftlich heikle Themen anspricht: Kriegsfolgen, Umgang mit psychischen Erkrankungen, Auseinanderdriften der Gesellschaft, Homosexualität, Suizid.

Um auf den berühmten Film- und Theaterstücktitel von Edward Albee "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" zurückzugreifen, sollten sich potenzielle Leser:innen vor der Lektüre also fragen: "Wer hat Angst vor dem Bewusstseinsstrom?" und lieber einmal zu einer Leseprobe greifen, bev

Bewertung vom 23.05.2022
JAB
Kim, Un-su

JAB


sehr gut

Da ist der Barkeeper, der sich bei den härtesten Gangstern des Viertels anbiedert und zuhause seine Freundin verprügelt. Da ist der Mann, der das Geld für die teure Behandlung seines todkranken Vaters einfach verjubelt. Da ist das Mädchen, das mit nahezu jedem Mann Sex hat, bevor es sich von der Brücke stürzt. Und da ist der Alkoholiker, der für eine neue Wohnung seine Grundsätze über den Haufen wirft und wieder anfängt zu trinken. Sie alle sind gescheiterte oder tragische Antiheld:innen voller Schmerz und Melancholie. Und sie sind die Hauptfiguren in Un-Su Kims Kurzgeschichtenband "JAB", der kürzlich im Europa Verlag erschienen ist.

Während das koreanische Original bereits 2013 veröffentlicht wurde, liegt es nun in der Übersetzung von Kyong-Hae Flügel erstmals auf Deutsch vor. Es ist eine gute Entscheidung des Verlags, der zuletzt schon mit weiteren koreanischen Titeln wie Hwang Sok-Yongs "Vertraute Welt" punkten konnte. Denn Un-Su Kims abwechslungsreiche Mischung ist gleichermaßen unterhaltsam wie schmerzhaft, düster wie skurril und komisch wie tragisch. Kim schreibt schnörkellos und pointiert und entfaltet in vielen Momenten doch eine gewisse Poesie, der man sich schwer entziehen kann.

Insgesamt handelt es sich um acht Kurzgeschichten, von denen nicht alle gleichermaßen qualitativ überzeugen, doch in ihrer Unterschiedlichkeit sollten sie durchaus eine größere Leserschaft für sich entdecken dürfen. Vornehmlich richtet Kim den Blick auf gesellschaftliche Verlierer: Ganoven, Alkoholiker, Opfer von Verbrechen und psychisch labile Persönlichkeiten. Eine wohltuende Ausnahme dieses recht dunklen Cocktails stellt die Titelgeschichte "JAB" dar, die nicht von ungefähr dem Band nicht nur dessen Namen gab, sondern das Buch auch eröffnen darf.

Der jugendliche Ich-Erzähler ist ein Träumer mit Prinzipien. Als er dafür bestraft wird, im Unterricht einen Blätterwirbel angeschaut zu haben, richtet er seine Aggression lieber auf einen Boxsack und versetzt diesem zahlreiche "Jabs" - kurze schnelle Hiebe. Er ist der einzige durchweg liebenswerte Protagonist, der seine Strafe für die Träumerei einfach abarbeitet - und erst spät die strafenden Lehrer durch seine Standhaftigkeit ein Einsehen haben lässt.

Weitere Höhepunkte des Buches sind "Dan Valjean Street", die wie eine düstere Mischung aus Dick Tracy und Twin Peaks daherkommt - mit einer liebevollen kleinen Hommage an Laura Palmer und Co. Eine Erzählung wie ein melancholischer Film Noir mit einem Barkeeper als Protagonisten, der sein Fünkchen Menschlichkeit ausgerechnet einer hungernden Katze gegenüber zeigt. Auch "Das Sofa" überzeugt in seiner Skurrilität und zeigt, welche Auswirkungen es auf einen Menschen haben kann, wenn ein Gegenstand plötzlich zu einer großen Last wird. Das erinnert in seiner Seltsamkeit durchaus an das geniale "Salzfass" von Simon Sailer. Und wenn der Protagonist in "Das verdammte Albumin" bis zum tragischen Finale wirklich alles falsch macht, was man nur falsch machen kann, verharrt man als Leser:in in ungläubiger Resignation.

Nur selten treffen Buch und Autor nicht die richtigen Töne. Beispielsweise in "Eingesperrt im Tresorraum", das trotz des gelungenen Endes mit seiner Knallchargen-Komik nervt. Oder bei den zum Teil etwas seltsam anmutenden Übersetzungen, in denen wie aus dem Nichts plötzlich eingedeutschte Straßennamen auftauchen.

Doch in der Gesamtheit handelt es sich bei "JAB" um einen durchaus lesenswerten Kurzgeschichten-Band, der hoffentlich auch in Deutschland dazu beiträgt, dass der Name Un-Su Kim einen noch höheren Bekanntheitsgrad erfährt. Verdient hätten es Autor und Verlag in jedem Fall.

Bewertung vom 19.05.2022
Der Aufgang
Hertmans, Stefan

Der Aufgang


sehr gut

Eher zufällig erfährt Autor Stefan Hertmans: 20 Jahre hat er in Gent in einem Haus gelebt, in dem über viele Jahre der flämische SS-Kollaborateur Willem Verhulst mit seiner Familie lebte. Hertmans begibt sich auf eine jahrelange Recherche, um die Spuren der früheren Bewohner:innen sichtbar zu machen und findet dabei nicht nur zahlreiche persönliche Geschichten heraus, sondern auch deren Verbindung zum Land Belgien und dessen Konflikte, die teilweise bis heute andauern...

Zunächst einmal seien potenzielle Leser:innen vor dem Wörtchen "Roman" gewarnt, das der Diogenes-Verlag zwar auf dem Cover verwendet, klugerweise aber davon absieht, es - anders als sonst - noch einmal auf dem Titelblatt zu wiederholen. Denn im Grunde genommen ist "Der Aufgang" von Stefan Hertmans kein Roman, sondern eher eine Biografie Willem Verhults und seiner Familie, die Hertmans allerdings mit zahlreichen fiktiven Elementen anreichert. Frei nach dem Sprichwort "Die Axt im Haus erspart den Zimmermann" könnte man also sagen "Der SS-Mann im Haus erspart den Roman". Wer also den Roman eines Hauses wie "Das Gartenzimmer" von Andreas Schäfer erwartet, dürfte enttäuscht sein. Dass die Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner:innen dennoch spannend genug ist, liegt vor allem an der großen Erzählkunst Hertmans'.

Besonders gelungen ist das Buch, wenn Hertmans selbst in Erscheinung tritt und atmosphärisch wirklich großartig die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart knüpft, zwischen der Familie Verhulst und Hertmans selbst. Mit großer Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit, erheblichem Recherche-Aufwand und fast greifbarer Empathie begibt sich Hertmans auf die Spuren der Menschen, die 30 Jahre zuvor in genau den Räumen hausten, in denen Hertmans später mit seiner Freundin vor dem Kamin saß. Als eigentliche Heldin des Buches entpuppt sich Mientje, die zweite Ehefrau des SS-Kollaborateurs, die es in ihrer Güte fast allein schafft, drei Kinder großzuziehen und dem permanent abwesenden Willem trotzdem verzeiht. Doch auch Hertmans' Verbindung zu den Kindern ist glaubhaft und emotional. Willems Sohn Adri entpuppt sich nämlich als kein Geringerer als Hertmans' späterer Professor, durch dessen Buch Hertmans überhaupt erst erfährt, in welchem Haus er dort jahrelang wohnte. Und auch die beiden Töchter sind mit ihren Interviews im sehr hohen Alter und den Devotionalien ein echter Gewinn für "Der Aufgang".

Zudem gelingt es Hertmans, die Figur Willem Verhulst glaubhaft und eindringlich nachzuzeichnen. Vom fast blinden Außenseiter-Kind über den fanatisch-impulsiven flämischen Extremisten bis zum SS-Mitläufer ist Willem eine zunächst ambivalente Figur, deren negative Charaktereigenschaften im Verlaufe des Buches aber eindeutig die Oberhand gewinnen. Verhulst betrügt seine Frau, verrät die Nachbarn und stilisiert sich im Gefängnis zum Opfer.

Ein weiterer Höhepunkt ist die Darstellung des Hauses selbst. Wenn sich Hertmans vom Notar durch sein späteres Zuhause führen lässt und er den Verfall und die Räume ebenso intensiv beschreibt wie die Gerüche und Geräusche der Stadt und der Natur, bekommt man als Leser:in fast den Eindruck, selbst an diesem Rundgang teilzunehmen. Eine sehr plastische und eindringliche Wirkung entfachen die Momente, in denen der Autor aus dem Fenster schaut und weiß, dieses Gebäude gegenüber hat auch schon die Familie Verhulst gesehen. Und dieser Blauregen dort, das ist doch die Pflanze, die Mientje damals erworben hat. Und stand Mientje nicht ängstlich vor der Tür dieses Hauses, als Hertmans selbst in einer Art jugendlicher Verwirrung als Student mit Rechtsextremen randalierend um die Häuser zog? Es sind wahre Gänsehautmomente, die Hertmans in diesen Beschreibungen gelingen.

Allerdings - und damit komme ich neben der "Roman"-Fehlleitung zum eigentlichen Schwachpunkt des Buches - setzt Hertmans diese Beschreibungen leider viel zu selten ein. Insbesondere im wahrlich zu lang geratenen letzten Drittel passiert auf dieser Ebene viel zu wenig. Stat

Bewertung vom 09.05.2022
Eine Laune Gottes
Laurence, Margaret

Eine Laune Gottes


ausgezeichnet

Die 34-jährige Grundschullehrerin Rachel Cameron führt in der kanadischen Provinzstadt Manawaka ein ereignisloses Leben. Während sie zuhause ihre pflegebedürftige Mutter umsorgt und dafür die meiste Zeit aufbringt, findet sie auch im Berufsleben nicht wirklich Anschluss. Als ihr ehemaliger Mitschüler Nick für den Sommer nach Hause kommt, scheinen sich die Dinge schlagartig zu ändern. Rachel beginnt mit dem ein Jahr älteren Mann eine Affäre, die für sie nicht folgenlos bleibt...

"Eine Laune Gottes" von Margaret Laurence ist im kanadischen Original bereits 1966 erschienen, und der Eisele Verlag bringt in der Übersetzung von Monika Baark und mit einem Nachwort von Margaret Atwood versehen nun erstmals eine deutsche Fassung auf den Markt. Es ist eine wunderbare Entscheidung, denn der Roman ist ein literarisches Juwel erster Güte.

Während Laurence (1926 - 1987) in Kanada neben Atwood und Alice Munro als eine der drei großen heimischen Schrifstellerinnen gilt, war sie in Deutschland bis vor Kurzem nahezu unbekannt. Mit der Neuübersetzung von "Der steinerne Engel" bemühte sich der Eisele Verlag schon vor zwei Jahren, daran etwas zu ändern. Mit "Eine Laune Gottes" legt der Verlag nun den zweiten der fünf "Manawaka"-Romane nach.

Ich-Erzählerin und Protagonistin Rachel ist eine hinreißende Figur, der ich von Beginn an sehr gern gefolgt bin. Ihre inneren Monologe strahlen eine große Intensität aus, zudem ist sie eine zutiefst verunsicherte Person voller Selbstzweifel und mit einem fast krankhaften Wunsch, nicht auffallen zu wollen. Sie ist eine Hauptfigur voller Fehler und Makel, die mich nie kalt ließ und trotz ihrer Ambivalenz bei mir auf großes Mitgefühl stieß. Denn Margaret Laurence gelingt es, Rachel psychologisch sehr feinfühlig und gleichzeitig ehrlich und mit einer gehörigen Prise Selbstironie darzustellen. Diese Ambivalenz überträgt sich fast nahtlos auf die ebenfalls sehr gelungenen Nebenfiguren wie Nick, Rachels Mutter oder die heimlich in sie verliebte Kollegin Calla.

Laurences Schreibstil ist schnörkellos und mag auf den ersten Blick etwas simpel scheinen, doch immer wieder finden sich zwischen den Zeilen bemerkenswert kluge Sätze. "Kinder haben einen eingebauten Verlogenheitsradar", heißt es beispielsweise an einer Stelle oder "Die Nacht fühlt sich an wie ein gigantisches Riesenrad, das in der Dunkelheit seine Runden dreht" über eine schlaflose Nacht voller Grübeleien. Immer wieder schiebt sie zudem kleinere Absätze ein, in denen es um Träume oder Phantastereien Rachels geht. Auch durch diese fast surreal wirkenden Absätze gelingt es der Autorin, die Spannung durchweg hochzuhalten.

Zu Höchstform läuft Laurence gar im letzten Drittel des Romans auf, das sicherlich als Höhepunkt des gesamten Romans gelesen werden kann. Die Autorin überrascht die Leser:innen ein ums andere Mal mit nicht vorhersehbaren Wendungen und bleibt dabei trotzdem glaubwürdig. Und obwohl das Finale eine große Hoffnung ausstrahlt, verkommt es nicht einmal ansatzweise zu einem kitschigen Happy-End.

So ist "Eine Laune Gottes" für mich insgesamt eine wunderbare Lektüre und zudem eine große Überraschung gewesen. Trotz seiner fast 60 Jahre wirkt der Roman angenehm zeitlos und alles andere als angestaubt. Durch die Kriegshandlungen in der Ukraine erhält er in einer Nebenhandlung sogar überraschende Aktualität. Zudem traut sich Laurence, gesellschaftliche und persönliche Themen wie weibliche Sexualität, Einwanderung, Glauben und Homosexualität anzusprechen, was vor allem im Nordamerika der 1960er-Jahre alles andere als selbstverständlich war. Aufgrund der Entwicklung Rachels wirkt "Eine Laune Gottes" auf mich außerdem fast wie ein Coming-of-Age-Roman mit einer Erwachsenen, was ich so bisher wohl auch noch nicht kennengelernt habe.

Laurence schafft es, mich mit dem Roman zum Lachen und - allerspätestens mit den herausragenden letzten drei Sätzen - zum Weinen zu bringen, mich mit und über Rachel zu ärgern und mich für sie zu freuen. Es ist der

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Bewertung vom 06.05.2022
Die Schülerin / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.1
Wittekindt, Matthias

Die Schülerin / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.1


ausgezeichnet

Als Kriminaldirektor a. D. Manz von seiner Tochter erfährt, dass sie als Anwältin gerade eine Mandantin wegen eines vermeintlichen Meineids vertritt, gehen bei ihm die Warnlichter an. Jene Sabine Schöffling erinnert ihn nämlich an einen alten Fall aus dem Jahre 1978, als sich die damals 16-jährige Schülerin als Zeugin in einem Mordfall nicht gerade kooperativ verhielt. Nach und nach kehren seine Gedanken zurück zu diesem Fall, als ein 15-jähriger Junge tot aufgefunden wurde, den niemand zu vermissen schien. Im Fokus seiner damaligen Ermittlungen: die Elisabeth-Rotten-Schule, eine Berliner Reformschule, und deren seltsame Lehrer- und Schülerschaft...

Etwa ein Jahr nach dem erfolgreichen Manz-Debüt "Vor Gericht" legt Matthias Wittekindt beim Kampa Verlag mit "Die Schülerin" nun den zweiten Band der neuen Reihe vor - und landet damit erneut einen Volltreffer. Gewohnt unaufgeregt und in ruhigem Erzähltempo begeistert das Buch nicht nur optisch mit dem knallroten Farbschnitt, sondern auch mit einem kauzig-liebenswerten Ermittler, authentischen Dialogen und spannenden ambivalenten Nebenfiguren.

Die Struktur des Romans gleicht dabei "Vor Gericht" nahezu exakt. Im ersten Teil des Buches, der mit mehr als 300 Seiten um ein Vielfaches länger ist, rekonstruiert Matz die Ermordung des 15-jährigen Riccy, wobei für kurze Momente auch immer wieder die gegenwärtigen Familienverhältnisse des Kriminaldirektors a. D. beleuchtet werden. Der zweite sehr kurze Teil befasst sich mit dem Prozess gegen Sabine Schöffling und lässt die Protagonist:innen nach 41 Jahren wieder aufeinander treffen.

Am gelungensten sind dabei vor allem die Verhöre von Manz und seinem Kollegen Borowski an der Elisabeth-Rotten-Schule. Die "zur Freiheit" erzogenen Schülerinnen und Schüler präsentieren sich zwar als künstlerische Freigeister, doch Manz bemerkt schnell, dass eine schöne Fassade allein "das Böse" nicht wegsperren kann. Durch seine unnachgiebigen Ermittlungen werden letztlich nicht nur verbale Brandsätze gelegt.

Während mich eine Dialoglastigkeit in Romanen sonst eher stört, habe ich die unverstellten und unterhaltsamen Gespräche in "Die Schülerin" sehr geschätzt. Zwischen den Zeilen blitzt immer wieder Manz' Schalk durch, der erheblich dazu beiträgt, dass man diesen Ermittler und die Buchreihe so schnell ins Herz geschlossen hat. Insgesamt strahlt "Die Schülerin" eine etwas hellere Stimmung als der Vorgänger "Vor Gericht" aus - und das, obwohl es sich bei der jugendlichen Leiche um ein wahrlich tragisches Opfer handelt. Zu Höchstform laufen die Ermittler gar auf, als es darum geht, in einem Striplokal eine Sing- und Tanzgruppe namens "Die Sirenen" zu befragen. Eine wirklich herrliche Szene, die mich sehr zum Lachen brachte und nicht nur wegen der Zeuginnen lange im Gedächtnis bleibt.

Wer sich also mit der etwas unglaubwürdigen Ausgangsprämisse abfindet, dass Manz wegen eines von Sabines Mutter vorbeigebrachten Zettels, auf dem "Du bist tot" steht, erstmals seine Ermittlungen an der Elisabeth-Rotten-Schule aufnimmt, wird in der Folge mit einem wunderbaren Kriminalfall belohnt, der ganz nebenbei auch einen Blick auf die Pädagogik der 70er-Jahre und das Berliner Stadtbild erhält. Matthias Wittekindt beweist jedenfalls erneut, dass er neben Friedrich Ani und Jan Costin Wagner zum Triumvirat der deutschen Kriminalliteratur gehört. Da freue ich mich jetzt schon, dass der Kampa Verlag bereits am 13. Oktober dieses Jahres mit "Die rote Jawa" den dritten Manz-Band veröffentlichen wird.

Bewertung vom 03.05.2022
Der Pesthof
Sommerfeldt, Albrecht

Der Pesthof


ausgezeichnet

1619, vor den Toren Hamburgs: Auf dem Hamburger Berg liegt der Pesthof - ein Ort, an dem sich der Aussatz der Hamburger Gesellschaft befindet, um sich auf sein mehr oder weniger langes Dahinsiechen vorzubereiten. Zwischen den Schwindsüchtigen, Tollen und Gichtkranken befindet sich auch Merten Overdiek, ein Hamburger Kaufmann, der zwischen all den Verstoßenen eine Sonderrolle einnimmt. Einerseits genießt er wegen seiner Bildung und seines Wohlstands ein durchaus hohes Ansehen. Doch andererseits ist er selbst unter den Kranken und geistig Verwirrten ein Außenseiter. Denn Merten hat Lepra und darf nicht einmal mit dem Rest des Hofes die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen. Als es auf dem Pesthof zu diversen mysteriösen Todesfällen kommt, ergreift Merten die Gelegenheit, der Einsamkeit auf dem Hof zu entkommen und macht sich kurzerhand selbst an die Ermittlungen. Eine Entscheidung, die nicht nur ihn, sondern auch die ihn unterstützende Pflegefrau Maria in höchste Gefahr bringt...

"Der Pesthof" ist der mittlerweile dritte Historische Kriminalroman des Hamburger Autors Albrecht Sommerfeldt und - wie aus den Vorgängern gewohnt - punktet auch dieses Buch mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Schmutz, Gestank, Düsterkeit, liebenswert-kauzigen Figuren, einer gesunden Prise Humor und einer spannenden Kriminalhandlung, die bis zum Finale alles andere als vorhersehbar ist.

Während "Von Huren, Bettlern und Glunterschratzen" im Jahre 1617 und der Nachfolger "Teufelstaler" 1618 spielte, sind wir mittlerweile also im Jahre 1619 angekommen. Und so schreiten nicht nur die Geschehnisse um den Dreißigjährigen Krieg voran, sondern auch das kühne Vorhaben Albrecht Sommerfeldts, über jedes Jahr dieses Krieges einen weiteren Roman verfassen zu wollen.

Mit dem Protagonisten Merten Overdiek beweist der Autor einmal mehr, dass seine Empathie den Menschen gehört, die sich am unteren Rande der Gesellschaft bewegen. Trotz seiner liebenswerten und zugänglichen Art meiden die Leute vor allem jeglichen Körperkontakt mit ihm, und auch sonst gehen die meisten eher auf Distanz, wenn sie ihn erblicken. Bewegt er sich einmal außerhalb des Pesthofs, muss er eine sogenannte Warnklapper mit sich führen, die ihn schon von Weitem im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Aussätzigen macht. Die besten Voraussetzungen also, um im Sommerfeldt-Universum die Rolle des Helden einzunehmen. Merten zeigt im "Pesthof" eine ungemeine Präsenz und trägt die Handlung ebenso leicht auf seinen Schultern wie ihm die Sympathien der Leser:innen gewiss sein sollten.

Der eigentliche Star des Romans ist aber der Pesthof selbst. Während sich die Handlungsorte in den vorherigen Romanen vielfältiger zeigten, vollzieht sich in diesem Buch das Geschehen nahezu ausschließlich auf dem Gelände der mildtätigen Stiftung, irgendwo "im Niemandsland zwischen Hamburg und Altona", wie es im Klappentext heißt. Ein riskantes Vorhaben, das in anderen Büchern zu einer gewissen Monotonie führen könnte. Doch so atmosphärisch wie Sommerfeldt diesen Pesthof beschreibt und welch aberwitziges Ensemble sich dort ein Stelldichein gibt, macht deutlich, dass der Autor die absolut richtige Entscheidung getroffen hat. Zwischen kühlen Kellergewölben, Geheimgängen und stinkenden Gräben ist es vor allem das Tollhaus, das die Aufmerksamkeit der Leser:innen auf sich ziehen sollte.

Die Bewohner:innen des Tollhauses sind ein weiterer Beweis dafür, wie bunt und lebendig Albrecht Sommerfeldt seine Charaktere bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein entwickelt. Neben dem prophetischen Maler Michelangelo und dem Wiedersehen mit einer beliebten Figur aus "Teufelstaler" war es vor allem Caesar, der mich begeisterte und zu meiner absoluten Lieblingsfigur wurde. Caesar antwortet ausschließlich mit lateinischen philosophischen Sprichworten, macht aber mit jeder Antwort deutlich, dass der vermeintliche "Irre" alles um sich herum bis ins kleinste Detail mitbekommt - ein tragikomischer Charakter, der mich mehrfach zum Lachen brachte

Bewertung vom 02.05.2022
Ein Leben lang
Poschenrieder, Christoph

Ein Leben lang


gut

Eine Journalistin wird von ihrem Verlag damit beauftragt, ein Buch über einen aufsehenerregenden Mordfall und den verurteilten Mörder zu schreiben. Aus diesem Anlass kontaktiert sie die damalige Clique des Mannes, die während des Gerichtsprozesses mit aller Macht versuchte, die Unschuld ihres Freundes zu beweisen. Wie lebt es sich, wenn ein nahestehender Mensch seit mehr als 15 Jahren im Gefängnis sitzt? Und kann man überhaupt mit einem Mörder befreundet sein? Diese Fragen stellt Christoph Poschenrieder in seinem neuen Roman "Ein Leben lang".

Wobei ich gleich zu Beginn die Frage voranstellen möchte, ob es sich überhaupt um einen klassischen Roman handelt? Denn "Ein Leben lang" erzählt nahezu bis aufs kleinste Detail die Geschichte des sogenannten Münchner "Parkhausmordes" nach und ist mitnichten das erste Buch, das zu diesem Thema erscheint. Warum also noch ein Buch dazu? Poschenrieder beantwortet dies im Nachwort damit, dass ihn vor allem die Dynamik der Freundesgruppe interessiert hätte. Da jüngst eine neue Webseite zu diesem Fall aufgetaucht ist, die Zweifel an der Schuld des Verurteilten aufkommen lässt, kann man dem Buch zumindest eine gewisse Aktualität nicht absprechen.

Anfangs war ich sehr angetan, denn Poschenrieders Erzählweise entpuppt sich als durchaus originell. In einer Mischung aus Interviews, Memos und Zitaten aus Sachbüchern zieht er die Leser:innen direkt und unmittelbar ins Geschehen hinein. Allerdings nutzt sich diese Form doch relativ schnell ab, und spätestens ab der zweiten Hälfte des Buches empfand ich sie als einigermaßen zäh. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Figuren überhaupt keine Entwicklung zeigen und stattdessen quälend langsam die Details von den Vorwürfen an den Verdächtigen bis zur rechtskräftigen Verurteilung erzählen. Stück für Stück setzt sich daraus die Geschichte des Verurteilten zusammen.

Mein Hauptkritikpunkt ist jedoch, dass Poschenrieder der eigentlichen Frage "Was hält Freundschaft aus" wegen seiner gewählten Erzählart gar nicht gerecht werden kann. Schon die Ausgangssituation "Journalistin soll Buch schreiben, an dessen Veröffentlichung sie selbst nicht glaubt" entpuppt sich als veritabler Rohrkrepierer. Ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Projektes übertrugen sich unmittelbar auf mich als Leser, so dass ich mich irgendwann fragte, was das Ganze überhaupt soll. Poschenrieder schreibt im Nachwort, alles was die Figuren "denken, fühlen und sagen" sei fiktiv. Das Problem dabei ist allerdings, dass man es kaum für bare Münze nehmen kann, was sie in den Interviews von sich geben. Denn letztlich kann ich mir kaum vorstellen, dass man seine "wahren Gefühle" vor einer nahezu fremden Journalistin so ausbreitet. Hier fehlen dem Buch dringend notwendige innere Monologe der Figuren, die aus ihm gleichzeitig auch eher einen Roman gemacht hätten. Seinen Teil dazu bei trägt zudem auch die zeitliche Einordnung des Geschehens. Hätte man die Gedanken und Gefühle der Beteiligten nicht viel besser nachvollziehen können, wenn der Autor nicht grundlos die Perspektive "15 Jahre später" ausgewählt hätte?

So wirkte "Ein Leben lang" wegen der schier unglaublichen Nähe zum "Parkhausmord" für mich eher so, als sei Poschenrieder selbst die Journalistin aus dem Buch und hätte in Wahrheit lieber ein Sachbuch über die damaligen Figuren geschrieben. Immerhin gelingt es ihm im Finale nahezu zum ersten Mal, mich doch noch zu berühren. In den Gedanken des "Gefangenen", wie er im Buch heißt, macht der Autor bewegend klar, was eine Gefängnisstrafe aus einem Menschen macht und lädt zum Reflektieren und Hinterfragen des deutschen Justizsystems ein.

In einem anderen Buch aus dem Diogenes-Verlag - "Der große Fehler" von Jonathan Lee - stellte der Autor vor, wie sich Protagonist Andrew Haswell Green die Welt erlas: zunächst die ersten zehn Seiten des Buches, dann die letzten zehn. Schließlich noch einmal fünf von vorn und fünf von hinten. Den Rest versuchte er, sich selbst zusammenzureimen. Verwendet man d

Bewertung vom 25.04.2022
Sperling
Korbach, Katharina

Sperling


sehr gut

Als der Doktorand Wolfgang seine kleine Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg bezieht, ahnt er noch nicht, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf sein zukünftiges Leben haben wird. Denn direkt gegenüber wohnt eine junge Frau, die nachts am Küchenfenster sitzt und zeichnet. Aus der anfänglichen Faszination der Beobachtung entwickelt sich eine Art Obsession, die auch nicht schwächer wird, als Wolfgang die Identität seiner Nachbarin entschlüsselt: Es ist Charlotte, Teilnehmerin seines Literaturseminars an der Universität...

Katharina Korbach erzählt in ihrem Debütroman "Sperling" die Geschichte zweier einsamer Seelen im Großstadtdschungel Berlin. Studentin Charlotte hat sich gerade erst in Therapie bei einem mysteriösen Arzt namens Doktor Szabó begeben, um dort ihre nicht nur aus der Kindheit stammenden seelischen Narben behandeln zu lassen. Und auch Wolfgang ist ein Einzelgänger, der die familiären Erwartungen nicht erfüllen konnte und stattdessen versucht, seinen eigenen Weg zu gehen. Gemein haben die beiden jedoch nicht nur ihre Einsamkeit, sondern auch ihr Fremdsein in Berlin. Sie beide sind Zugereiste, auf der Suche nach Heimat und irgendwie auch nach ihrer Identität.

Korbach erzählt in kurzen, pointierten Sätzen, die durch den Einsatz des erzählerischen Präsens eine hohe Unmittelbarkeit ausstrahlen. Den Leser:innen gibt sie dadurch das Gefühl, direkt am Leben der beiden Einzelgänger:innen teilzuhaben. Seine besondere Spannung zieht "Sperling" dabei vor allem aus der ersten Hälfte des Romans, die ich für die insgesamt gelungenere halte. Wenn Wolfgang abends an seinem Fenster sitzt und Charlotte heimlich beobachtet, dabei die Lichter und Geräusche der Stadt wahrnimmt und sich immer stärker in die Beobachtung der jungen Frau verliert, überzeugt der Roman nicht nur durch seine besondere Atmosphäre, sondern sorgt auch für einen gewissen Nervenkitzel. Denn der Doktorand bewegt sich auf dünnem Eis, seine zunehmenden Avancen gleichen denen eines Stalkers, ohne dass ich ihn jedoch als explizit bedrohlich oder unsympathisch empfand. Und auch Charlottes Geschichte - die Rückblenden beim Therapeuten, ihr geheimnisvolles Sperling-Tattoo an ihrem Oberkörper - sorgte gerade zu Beginn für eine Art Sog, der man sich schwer entziehen konnte.

Leider gelingt es der Autorin nicht ganz, diese Intensität bis zum Ende des Romans durchzuhalten. Zwar stellt sich durch die häufigeren Kontakte zwischen den beiden Figuren keine gewöhnliche Beziehung ein, doch das Besondere - der Voyeurismus und die Atmosphäre - lassen wie die Spannungskurve ein Stückchen nach. Hinzu kommt, dass mir die Figuren trotz ihrer dauerhaften Präsenz und ihrer abwechselnden Perspektiven ein wenig fremd blieben. Es stellte sich keine Nähe, keine Wärme ein. Einen gehörigen Anteil daran haben fehlende innere Monologe, sowie zu viele offene Fragen.

Diese werden dann auch bis zum Finale nicht befriedigend geklärt. Obwohl ich nichts gegen offene Enden einzuwenden habe, zerfaserten mir die Erzählfäden doch zu stark. So bleiben die Verletzungen der Vergangenheit letztlich eine Behauptung, doch sie werden nicht gezeigt und erklärt, wodurch es mir auch schwerfiel, die Motive der Hauptfiguren vollends zu begreifen. Eine vertane Chance, die den Roman zu einem noch größeren Ereignis gemacht hätten. Denn dies wäre durchaus möglich gewesen, wie zwei wunderbare Szenen zeigen.

So strahlt beispielsweise das 28. Kapitel fast von ganz allein und nimmt eine Sonderstellung im Roman ein. Zwischen den ohnehin schon recht kurzen Kapiteln fasst Katharina Korbach hier auf gerade einmal etwas mehr als einer Seite prägnant und fast schmerzhaft eindringlich zusammen, was diese Beziehung zwischen Charlotte und Wolfgang zu einer besonderen macht. Da treffen sich Blicke, Körper bleiben reglos, Vorhänge bewegen sich und das Mondlicht beleuchtet den Berliner Hinterhof. Ein wirklich großartiger Moment, der allein "Sperling" schon zu einer lesenswerten Lektüre macht.

Ähnliches gelingt der Autorin

Bewertung vom 21.04.2022
Bartleby, der Schreibgehilfe
Melville, Herman

Bartleby, der Schreibgehilfe


ausgezeichnet

New York in den 1850er-Jahren: An der Wall Street führt ein namenloser Anwalt ein recht genügsames Leben. Um große Fälle bemüht er sich gar nicht erst, in seiner Kanzlei herrscht der alltägliche Bürowahnsinn. Dies ändert sich zunächst auch nicht, als er mit Bartleby einen neuen Schreibgehilfen einstellt. Der unauffällige, blasse Mann arbeitet äußerst fleißig und gewissenhaft. Doch eines Tages lehnt Bartleby es schlichtweg ab, seine Arbeit noch einmal Wort für Wort zu prüfen. "Ich möchte lieber nicht", lautet seine Antwort, die zum geflügelten Wort wird. Denn es bleibt nicht bei dieser einen Verweigerung...

Vor knapp einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. Der jüngste knallgelbe Beitrag dieser Reihe ist Herman Melvilles 1853 erschienene Erzählung "Bartleby, der Schreibgehilfe" in der Übersetzung von Elisabeth Schnack und versehen mit einem Nachwort von H. M. Compagnon. Es ist eine lobenswerte Entscheidung des Verlags, denn "Bartleby" verblüfft nicht nur mit wunderbaren Figuren, sondern auch mit einer zeitlosen Aktualität.

Wer kennt sie nicht, diese Bürotätigkeiten, die nicht nur äußerst lästig scheinen, sondern deren Sinnhaftigkeit man bestenfalls hinterfragt oder schlechtestenfalls einfach nur hinnimmt? So mag sich auch Bartleby fühlen, als sein Chef, der namenlose Ich-Erzähler, von ihm fordert, mit ihm gemeinsam ein kurzes Aktenstück zu vergleichen. Dennoch sorgt das sanft ausgesprochene "Ich möchte lieber nicht" für Bestürzung beim Anwalt, und es ist aufregend zu lesen, wie sehr er sich bemüht, seinen Angestellten wieder auf den "rechten Weg" zu bringen - und wie sehr er gleichermaßen scheitert. Denn Bartleby entpuppt sich als "faszinierendster Arbeitsverweigerer der Weltliteratur", wie es im Klappentext heißt. Jede zusätzliche Aufgabe, ja sogar die Aufforderung, das Büro umgehend zu verlassen, kontert der Schreibgehilfe mit den Worten "Ich möchte lieber nicht".

Dabei ist der Ich-Erzähler gar nicht einmal der Prototyp eines fordernden oder verständnislosen Arbeitgebers. Ganz im Gegenteil, macht er doch gleich zu Beginn deutlich: "Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen war, dass die bequemste Lebensführung die beste ist" (S. 6). Doch mit dieser Bequemlichkeit ist es vorbei, gerade eben weil jemand nicht arbeiten möchte. Diese Doppeldeutigkeit, den Triumph des Ungehorsams gegen eine Ja-Sager-Gesellschaft, den Sieg des Individualismus über den Kapitalismus, macht Melville brillant deutlich und die Erzählung ganz nebenbei zu einem Stückchen mit höchster Aktualität.

Melvilles Schreibstil ist dabei so einnehmend wie unterhaltsam. Die Charakterisierung der herrlich verschrobenen Figuren gelingt ihm eindrücklich bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. Die mit feinsinnigem Humor unterlegte erste Hälfte verwandelt sich mit zunehmender Verweigerung Bartlebys zu einer tragischen Groteske. Untermalt wird das Ganze mit einer gehörigen Portion Rätselhaftigkeit, denn letztlich bleiben die Motive des Schreibgehilfen nebulös und regen die ohnehin schon geschärften Sinne der Leser:innen zum Nachdenken an.

Und so bringt "Bartleby, der Schreibgehilfe" nicht nur wegen der auffälligen Colorierung Farbe ins Bücherregal, sondern auch wegen seines zeitlosen Inhalts. "Bartlebys aller Länder, vereinigt euch!", möchte man den stillen Büroangestellten dieser Welt zurufen und sich in Gedanken an diese wunderbare Erzählung schon auf den Gesichtsausdruck der Chefin freuen, wenn man ihr beim nächsten Arbeitsauftrag sanft, aber bestimmt entgegnet: "Ich möchte lieber nicht!"