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Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 159 Bewertungen
Bewertung vom 21.04.2022
Bartleby, der Schreibgehilfe
Melville, Herman

Bartleby, der Schreibgehilfe


ausgezeichnet

New York in den 1850er-Jahren: An der Wall Street führt ein namenloser Anwalt ein recht genügsames Leben. Um große Fälle bemüht er sich gar nicht erst, in seiner Kanzlei herrscht der alltägliche Bürowahnsinn. Dies ändert sich zunächst auch nicht, als er mit Bartleby einen neuen Schreibgehilfen einstellt. Der unauffällige, blasse Mann arbeitet äußerst fleißig und gewissenhaft. Doch eines Tages lehnt Bartleby es schlichtweg ab, seine Arbeit noch einmal Wort für Wort zu prüfen. "Ich möchte lieber nicht", lautet seine Antwort, die zum geflügelten Wort wird. Denn es bleibt nicht bei dieser einen Verweigerung...

Vor knapp einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. Der jüngste knallgelbe Beitrag dieser Reihe ist Herman Melvilles 1853 erschienene Erzählung "Bartleby, der Schreibgehilfe" in der Übersetzung von Elisabeth Schnack und versehen mit einem Nachwort von H. M. Compagnon. Es ist eine lobenswerte Entscheidung des Verlags, denn "Bartleby" verblüfft nicht nur mit wunderbaren Figuren, sondern auch mit einer zeitlosen Aktualität.

Wer kennt sie nicht, diese Bürotätigkeiten, die nicht nur äußerst lästig scheinen, sondern deren Sinnhaftigkeit man bestenfalls hinterfragt oder schlechtestenfalls einfach nur hinnimmt? So mag sich auch Bartleby fühlen, als sein Chef, der namenlose Ich-Erzähler, von ihm fordert, mit ihm gemeinsam ein kurzes Aktenstück zu vergleichen. Dennoch sorgt das sanft ausgesprochene "Ich möchte lieber nicht" für Bestürzung beim Anwalt, und es ist aufregend zu lesen, wie sehr er sich bemüht, seinen Angestellten wieder auf den "rechten Weg" zu bringen - und wie sehr er gleichermaßen scheitert. Denn Bartleby entpuppt sich als "faszinierendster Arbeitsverweigerer der Weltliteratur", wie es im Klappentext heißt. Jede zusätzliche Aufgabe, ja sogar die Aufforderung, das Büro umgehend zu verlassen, kontert der Schreibgehilfe mit den Worten "Ich möchte lieber nicht".

Dabei ist der Ich-Erzähler gar nicht einmal der Prototyp eines fordernden oder verständnislosen Arbeitgebers. Ganz im Gegenteil, macht er doch gleich zu Beginn deutlich: "Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen war, dass die bequemste Lebensführung die beste ist" (S. 6). Doch mit dieser Bequemlichkeit ist es vorbei, gerade eben weil jemand nicht arbeiten möchte. Diese Doppeldeutigkeit, den Triumph des Ungehorsams gegen eine Ja-Sager-Gesellschaft, den Sieg des Individualismus über den Kapitalismus, macht Melville brillant deutlich und die Erzählung ganz nebenbei zu einem Stückchen mit höchster Aktualität.

Melvilles Schreibstil ist dabei so einnehmend wie unterhaltsam. Die Charakterisierung der herrlich verschrobenen Figuren gelingt ihm eindrücklich bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. Die mit feinsinnigem Humor unterlegte erste Hälfte verwandelt sich mit zunehmender Verweigerung Bartlebys zu einer tragischen Groteske. Untermalt wird das Ganze mit einer gehörigen Portion Rätselhaftigkeit, denn letztlich bleiben die Motive des Schreibgehilfen nebulös und regen die ohnehin schon geschärften Sinne der Leser:innen zum Nachdenken an.

Und so bringt "Bartleby, der Schreibgehilfe" nicht nur wegen der auffälligen Colorierung Farbe ins Bücherregal, sondern auch wegen seines zeitlosen Inhalts. "Bartlebys aller Länder, vereinigt euch!", möchte man den stillen Büroangestellten dieser Welt zurufen und sich in Gedanken an diese wunderbare Erzählung schon auf den Gesichtsausdruck der Chefin freuen, wenn man ihr beim nächsten Arbeitsauftrag sanft, aber bestimmt entgegnet: "Ich möchte lieber nicht!"

Bewertung vom 19.04.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


sehr gut

Als Andrew Green am Freitag, dem 13. November 1903 am hellichten Tage vor seinem Haus erschossen wird, steht die Polizei vor einem Rätsel. Zwar steht mit Cornelius Williams der Täter von Beginn an fest, doch was war das Motiv des Mannes? Über die Suche danach und über das Leben des "Vaters von Greater New York" schreibt Jonathan Lee in seinem neuen Roman "Der große Fehler".

Lobend hervorzuheben ist zunächst einmal Lees eigenes Motiv, diesen Roman schreiben zu wollen. Denn Andrew Haswell Green, Mordopfer und Protagonist, ist selbst in den USA zumindest bis zum Erscheinen des Romans mittlerweile nahezu in Vergessenheit geraten. Dabei verdanken die New Yorker ihm unter anderem den Central Park und die New York Public Library. Mit seiner sensiblen Hommage setzt Lee dem "vergessenen Helden" zumindest ein literarisches Denkmal, wenn schon im Central Park nur eine einzelne Bank dessen Namen ziert.

So sind es vor allem auch die biografischen Details aus Greens Leben, die "Der große Fehler" zu einer berührenden und lesenswerten Lektüre machen. Denn bei der Lösung des Kriminalfalls verrennt sich der Autor bisweilen in seiner Mischung aus skurrilen, kauzigen Nebenfiguren und abschweifenden Details, die den Roman unnötig in die Länge ziehen.

Feinfühlig nähert sich Lee jedoch dem Mann, der sich aus einer Bauernfamilie hochkämpfte und dabei nicht nur mit gesellschaftlichen Widerständen konfrontiert wurde. Denn Greens Leben ist auch von inneren Kämpfen geprägt, von seiner Homosexualität, seiner wechselhaften und launischen Beziehung zu seinem "besonderen Freund" Samuel Tilden, einem späteren Präsidentschaftskandidaten. In der Figurenzeichnung seines zerrissenen Helden setzt Jonathan Lee dadurch eindeutig die stärksten Akzente.

Nicht entmutigen lassen sollten sich die Leser:innen deshalb vom missglückten Beginn des Romans, bei dem Lee in altmodisch-onkeligem Humor offenbar besonderen Wert darauf legte, sämtliche Nebenfiguren als mehr oder weniger liebenswert und kauzig darstellen zu wollen. Während ich mich an den etwas altbackenen Stil relativ schnell gewöhnte, nahmen die humoresken Anteile glücklicherweise immer stärker ab, je mehr sich Lee in die Kindheit und Jugend seine Protagonisten begab.

Insgesamt bleiben der Kriminalfall und seine Auflösung erzählerisch recht klar hinter der Entwicklungsgeschichte Andrew Greens zurück und sorgen in meinen Augen auch nicht für die notwendige Spannung.

Ganz nebenbei erhalten die Leser:innen dafür aber einen unterhaltsamen Blick auf die Geschichte New Yorks, wobei es Jonathan Lee jedoch nur ansatzweise gelingt, atmosphärische Bilder dieser Stadt vor den Augen der Leserschaft entstehen zu lassen.

So ist "Der große Fehler" insgesamt keine Enttäuschung, wenn man die hohen Erwartungen ein ganzes Stück zurückschraubt. Vom auf der Rückseite vom Guardian zitierten "besten amerikanischen Roman des Jahres" dürfte das Buch in meinen Augen jedoch recht klar entfernt sein. Wer sich gern mit historischen Persönlichkeiten befasst und deren Entwicklung folgen mag, kann mit dem Buch aber nicht viel falsch machen. Fans von anspruchsvoller Kriminalliteratur kommen hingegen nicht auf ihre Kosten.

Bewertung vom 14.04.2022
Kasernen-Cowboy
Kudziela, Rainer

Kasernen-Cowboy


sehr gut

Als die Mutter des Jungen im Februar 1945 mit dem Säugling vor den russischen Truppen flieht, beginnt eine Odyssee über Bauernhöfe im Alten Land, die erst mit dem Einzug in eine verlassene Kaserne bei Stade, dem sogenannten "U-Block", eine gewisse Stabilität findet. Unter zahlreichen anderen Flüchtlingsfamilien sucht sich das Kind seinen eigenen Weg und erlebt dabei Schönes und Trauriges, Nebensächliches und Grundsätzliches. Doch all diese Erinnerungen sind für ihn "Momente, in denen das Herz des Jungen schneller und heftiger schlägt als sonst." So erfahren wir es im Vorwort des bewegenden Memoirs "Kasernen-Cowboy" von Rainer Kudziela.

Es ist ein Buch, das die Leser:innen von Beginn an für sich und seinen kleinen Protagonisten einnimmt, mit seinem unmittelbaren Stil und seinen kurzen prägnanten Sätzen. Kudziela wählt dabei das erzählerische Präsens, das zu dieser Unmittelbarkeit und Intensität entscheidend beiträgt. Um sich selbst den nötigen Abstand zu ermöglichen, erzählt er nicht in der Ich-Perspektive, sondern schreibt in der dritten Person von sich und seinen existenziellen Momenten. Ein kluger Schachzug, der es trotz dieser sehr persönlichen Begebenheiten den Leser:innen ermöglicht, sich zeitweise wie in einem Roman zu fühlen. Trotz der Knappheit der Sätze funkelt der "Kasernen-Cowboy" dabei auch sprachlich schön, insbesondere wenn der Junge durch unwirtliche Landschaften wie ein abgesperrtes Kasernen-Gebiet wandert, welches die Natur längst für sich zurückerobert hat.

Bemerkenswert ist dabei die Ehrlichkeit Kudzielas. Er beschönigt nichts, weder im Hinblick auf seine familiäre Herkunft, noch auf die Taten und Worte des Jungen. So berichtet er beispielsweise unverblümt über die SS-Vergangenheit des Vaters.

Die Leser:innen folgen dem Jungen auf dessen Erlebnissen im Alter von ca. drei Jahren bis zum Abitur mit 20 Jahren. Dabei haben mich vor allem die kleinen Momente sehr berührt. Etwa wenn der Junge zu Ostern in aller Frühe einen Fliederstrauch pflückt, um seiner Mutter eine Freude zu machen, diese dann aber völlig emotionslos reagiert und den Strauch überhaupt nicht kommentiert. Oder wenn er ein Foto seines früh verstorbenen großen Bruders betrachtet und darüber philosophiert, dass es seine eigene Geburt, seine Existenz vielleicht gar nicht gegeben hätte, wenn Wilfried nicht diesen schrecklichen Unfall gehabt hätte.

Ich bin diesem Jungen sehr gern gefolgt, habe mit ihm gelacht, mich mit ihm gefreut, mit ihm getrauert und mich über ihn geärgert. Zudem schaffte es Kudziela, dass ich mich nie gelangweilt habe, obwohl das Buch mit seinen gut 300 Seiten gar kein so dünnes ist.

Ein wenig gestört hat mich, dass die Gliederung des Buches eher thematisch als chronologisch angelegt ist. So gibt es diverse Zeitsprünge, bei denen der eben noch 14-Jährige im nächsten Moment wieder zehn ist. Außerdem ließen sich durch diese Gliederungen kleinere thematische Wiederholungen nicht vermeiden.

Überrascht hat mich, dass die Auseinandersetzung mit der SS-Vergangenheit des Vaters nur einen sehr kleinen Raum einnimmt. Eigentlich findet sie nur durch die jüngere Schwester kurz statt, der Junge selbst verdrängt sie mehr oder weniger erfolgreich. Hier hätte ich gern - eventuell im Nachwort - erfahren, ob es diese Aufarbeitung zumindest im Erwachsenenalter des Protagonisten gegeben hatte.

"Kasernen-Cowboy" ist dennoch ein sehr lesenswertes und berührendes Buch geworden, das gerade auch Freunde des Entwicklungsromans und der Coming-of-Age-Literatur ansprechen dürfte, denn an der Entwicklung des kleinen liebenswerten Burschen nehmen die Leser:innen wirklich von Beginn an mit hoher Intensität teil. Wer sich allerdings eine Auseinandersetzung mit der Vaterfigur wünscht, wie es zuletzt Felix Schmidt in seinem Memoir "Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte" sehr gut gelungen ist, dessen Erwartungen dürften hier nicht erfüllt werden.

Bewertung vom 12.04.2022
Die Molche
Widmann, Volker

Die Molche


ausgezeichnet

Anfang der 1960er-Jahre sieht sich der elfjährige Max in einem bayrischen Dorf einer älteren Jungenbande ausgesetzt, die vom äußerst gemeinen und gewalttätigen Tschernik angeführt wird. Als die Jungen mit Steinen bewaffnet Jagd auf Max' ein Jahr jüngeren Bruder machen, kommt es zur Katastrophe. Wie geht ein Kind damit um, wenn es seinen Bruder sterben sieht, weil es selbst nicht rechtzeitig eingegriffen hat? Wie lebt und überlebt es mit dieser Schuld in einer Welt voller schweigender und kriegstraumatisierter Erwachsener? Darüber schreibt Volker Widmann in seinem wunderbar gelungenen Debütroman "Die Molche".

Es ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Coming-of-Age-Roman geworden und ein äußerst wertvoller neuer Beitrag zu diesem ja doch recht umfangreichen Genre. Denn Widmanns Debüt ist alles andere als gefällig und wird die Leser:innen mit Sicherheit stark polarisieren.

Über jeden Zweifel erhaben dürften zunächst einmal die zahlreichen Beschreibungen sein, in denen Widmann vor allem in Naturszenen sein großes Können entfaltet. Farben, Gerüche, Geräusche - so bildhaft, poetisch und malerisch hat zuletzt wohl Florian Knöppler im ebenfalls großartigen "Kronsnest" geschrieben. Ich-Erzähler Max nimmt sein Umfeld mit einer so großen Intensität wahr, dass ich als Leser das Gefühl hatte, teilzuhaben am Gang über "zerbrechende Kiefernnadeln" und bei der Beobachtung "einer männlichen Zauneidechse im grünen Hochzeitskleid". Ich spürte die klirrende Kälte beim Schlittenfahren und hörte die zirpenden Grillen in der Sommerhitze. Allein dieses bildhafte Erzählen macht "Die Molche" zu einem Ereignis, das weit über den gewöhnlichen Entwicklungsroman hinausgeht.

Doch Widmann verlässt sich nicht allein auf die Schönheit der Sprache und polarisiert im starken Kontrast dazu nicht nur mit ungewöhnlich harten Szenen wie der Ermordung des Bruders, die bereits im ersten Kapitel ein früher Schock für die Leserschaft ist und sie recht unvermittelt aus der gepolsterten Lesekomfortzone reißt oder dem ungeschönten Schlachten eines Schweines. Auch die Sprache der Kinder gleitet mitunter ins Derbe ab, gerade wenn es ums sexuelle Erwachen geht, das in "Die Molche" einen ungewöhnlich großen Raum einnimmt.

So präsentiert sich der elfjährige Max doch recht frühreif, und insbesondere die sexuell expliziten Szenen mit der etwas älteren Ellie könnten einigen Leser:innen anstößig vorkommen. Letztlich wirkten sie auf mich aber konsequent, denn die Welt von Max und seinen Freunden und Feinden ist eine Welt, in der die Kinder viel zu früh erwachsen werden müssen, weil die Erwachsenen selbst - wenn überhaupt - nur körperlich anwesend sind. Wenn die Väter noch leben, sind sie gewalttätige kriegstraumatisierte Schweiger, die ihren Kindern beim Erwachsenwerden ebenso wenig eine Unterstützung sind wie die Mütter, die sich mehr oder weniger ihrem Schicksal der verwundeten Familie ergeben. So glauben die Erwachsenen beispielsweise, dass Max' Bruder seinem schwachen Herzen zum Opfer gefallen ist, während jedes Kind die Wahrheit kennt.

Diese frühe Reife drückt sich auch im Wortschatz und Verhalten der Kinder aus, wodurch ich manchmal den Eindruck bekam, es würde nicht authentisch erzählt. Doch aufgrund des stimmigen Gesamtkunstwerks störte mich dies mit der Zeit gar nicht mehr.

Die stärkste Szene des gesamten Romans ist gleichzeitig die Schlüsselszene, der das Buch seinen Namen zu verdanken hat. Ab Seite 96 gibt sich Max auf mehreren Seiten komplett der Natur hin, man bekommt sogar den Eindruck, als verschmelze er mit ihr. Es ist eine hinreißende, fast kontemplative Szene, die wohl niemand so schnell vergessen wird, der sie gelesen hat. In meinen Augen ist es eine der bemerkenswertesten Szenen überhaupt, die ich in den vergangenen Jahren lesen durfte und ich kam nicht umhin, sie gleich mehrfach genießen zu wollen. Die Molche, die Max in dieser Szene findet, werden nicht nur Max' Leben ändern, sondern treiben auch den Roman in eine andere Richtung, die biswe

Bewertung vom 07.04.2022
Das Mädchen, das man ruft
Viel, Tanguy

Das Mädchen, das man ruft


gut

Eine kleine Hafenstadt in der Bretagne: Max Le Corre, ein abgehalfterter Boxer, der als Chauffeur des Bürgermeisters Quentin Le Bars arbeitet, legt bei seinem Chef ein gutes Wort für seine Tochter ein. Die 20-jährige Laura ist gerade aus Rennes zurückgekehrt und sucht in ihrer Heimatstadt nun eine Wohnung und einen Job. Und siehe da: Le Bars lässt seine Beziehungen spielen und besorgt ihr beides innerhalb kürzester Zeit - jedoch nicht ohne Hintergedanken, denn ohne gewisse "Gefälligkeiten" macht so ein Provinzbürgermeister schließlich keinen Finger krumm...

"Das Mädchen, das man ruft" ist der neue Roman des französischen Autors Tanguy Viel, der kürzlich im Wagenbach-Verlag erschienen ist. Der Roman mit dem recht sperrigen Titel ist eine Mischung aus Krimi und Sozialdrama und punktet vor allem durch seine originelle Erzählweise. Denn Viel breitet auf gerade einmal 160 Seiten das gesamte Spektrum seines literarischen Könnens nahezu komplett aus und trifft dabei zumeist den richtigen Ton.

Zugegebenermaßen dauert es eine Weile, bis man sich als Leser:in an die vielen Verschachtelungen und an den Bewusstseinsstrom gewöhnt, an die endlos wirkenden Bandwurmsätze, die zum Teil ganz oben auf einer Seite beginnen und sich manchmal bis über die Seitenmitte hinwegziehen, hier einen Schlenker einlegen, um Boxer Max apathisch in einer Autowaschanlage zu beobachten oder sich plötzlich im Casino der Stadt wiederfinden, wo Bürgermeister Quentin Laura gerade besucht, um sich eine der besagten "Gefälligkeiten" abzuholen und dabei nicht aufgehalten wird, weder von Casino-Inhaber Franck, der aber ohnehin ein recht schmieriges Bündnis mit dem Bürgermeister eingegangen ist, so glauben wir es zumindest, wenn wir uns die erste Szene in Erinnerung rufen, noch von Francks Schwester Hélène, von der man sich dann als Leser:in doch noch eine gewisse Unterstützung für Laura erhoffte, aber Pustekuchen.

Mir gelingt es natürlich nicht einmal ansatzweise, so gut zu formulieren, aber der oben stehende Satz könnte zumindest als exemplarisch betrachtet werden. Nach den geschilderten Anpassungsschwierigkeiten fand ich diesen Erzählstil jedenfalls durchaus gelungen, auch wenn Viel es bei seinen Metaphern manchmal übertreibt und nicht jede davon sitzen mag.

Durch den Schreibstil wirkt die eigentliche Handlung jedoch recht aufgebauscht, denn die Geschichte ist relativ simpel zusammenzufassen: Ein junges Mädchen in Not lässt sich sexuell von einem Machtmenschen ausnutzen, ohne direkt dagegen zu protestieren, während ihr naiver Boxer-Vater den Bürgermeister sogar noch zu diesen Treffen karrt. Ein wenig "MeToo in der Bretagne" und thematisch recht gefällig, denn wer mag schon Widerworte dagegen erheben, dass eine solche Geschichte ihre Berechtigung hat, erzählt zu werden?

Dennoch gelingt es dem Autoren über weite Strecken ziemlich gut, trotz der simplen Handlung einen veritablen Spannungsbogen aufzubauen, denn tatsächlich fiel es mir schwer, vorauszusehen, in welche Richtung sich diese Geschichte denn nun entwickeln wird.

Und so ist die größte Schwäche in meinen Augen auch gar nicht die Handlung, sondern es sind die Figuren, die fast schon erschreckend eindimensional geraten sind. Auf der einen Seite der Bürgermeister, ein korrupter Machtmensch aus dem Lager "Old White Man" und sein Lakai Franck, ein Provinzlude im weißen Anzug - auf der anderen Seite Laura, eine Art Fille Fatale, die sich ihrer Reize durchaus bewusst ist, aber nicht in der Lage scheint, gegen den Missbrauch zu protestieren und ihr völlig verblödeter Boxer-Vater, der offenbar nicht erst im letzten Boxkampf seine finalen Hirnzellen geopfert hat. Gerade Boxer Max ist ein echtes Ärgernis, denn selbst Tanguy Viel scheint keine große Empathie für den armen Tropf übrig zu haben. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass auch ich keinen Zugang zu den Figuren fand und mir ihr Schicksal größtenteils leider egal blieb.

Insgesamt ist "Das Mädchen, das man ruft" trotz dieser Kritikpunkte ei

Bewertung vom 05.04.2022
Was es braucht in der Nacht
Petitmangin, Laurent

Was es braucht in der Nacht


ausgezeichnet

Fus und sein kleiner Bruder Gillou werden seit dem Tod der Mutter von ihrem Vater, einem Monteur bei der französischen SNCF, allein großgezogen. Während sich Fus zuhause liebevoll um den drei Jahre jüngeren Gillou kümmert, lassen seine schulischen Leistungen immer stärker nach. Spätestens als er in die Kreise rechter "Front National"-Freunde gerät, läuten beim sozialistischen Vater die Alarmglocken. Doch das familiäre Unheil scheint nicht aufzuhalten... Wie geht ein Vater damit um, wenn er nach und nach den Zugang zu seinem Sohn verliert und wie weit würde er gehen, um diesen verlorenen Sohn zu schützen und zurückzugewinnen? Davon erzählt Laurent Petitmangin in seinem bewegenden Debütroman "Was es braucht in der Nacht".

Es ist ein kurzer Roman von gerade einmal knapp 160 Seiten, dem es dennoch gelingt, große und wichtige Fragen zu stellen. Der Vater ist der Ich-Erzähler, und Petitmangin schafft es, seinem Protagonisten eine schnörkellose und authentische Stimme zu geben. Die Sätze sind kurz und unsentimental, doch gerade deshalb umso berührender. Denn auch wenn der Vater vieles verschweigt und es ihm sichtlich schwerfällt, seine Gefühle den Kindern gegenüber offen zu formulieren, spürt man sie zwischen den Zeilen überdeutlich: den Stolz, die Liebe, aber auch die Wut, den Schmerz, die Scham.

Das macht "Was es braucht in der Nacht" zu einer Besonderheit, denn in der Literatur gibt es trotz Édouard Louis noch immer recht wenige Romane, die sich mit den Emotionen und der Sprachlosigkeit von Menschen, insbesondere Männern, aus dem Arbeitermilieu beschäftigen und dabei von einem Autoren geschrieben wurden, der selbst aus diesem Milieu kommt. Denn Laurent Petitmangin, so erfahren wir im Klappentext, stammt aus einer Bahnarbeiterfamilie und aus Lothringen - genau wie die Protagonisten aus seinem Roman.

Zentrales Element der Handlung ist die entsetzliche Lücke, die der Krebstod der Mutter in die Familie reißt. Fus, zum Zeitpunkt des Todes gerade einmal zehn Jahre alt, wird fortan versuchen, diese Lücke ansatzweise zu füllen und seinen berufstätigen Vater in allen Belangen zu unterstützen. Der Vater scheint auf den ersten Blick nicht viel falsch zu machen, aber seine Berichte aus dieser Zeit sind auch äußerst verknappt. So sagen in einer besonders bewegenden Szene die beiden Jungen das Endspiel ihres geliebten Ferien-Fußballcamps ohne jegliches Murren ab, nur um dem Vater eine gut bezahlte Zusatzarbeit zu ermöglichen. Und das bei einem Jungen, der seit dem dritten Lebensjahr nur "Fus" genannt wird, weil er den Fußball so sehr liebt. Diese Szene ist ein besonders eindringliches Zeichen dafür, dass die Jungen viel zu früh erwachsen werden müssen - und Fus diese Lücke letztlich nicht schließen kann, worunter auch seine schulischen Leistungen immer stärker leiden.

Als Fus in die rechte Szene schlittert, findet der Vater, der seinen Söhnen zwar nicht emotional aber intellektuell unterlegen scheint, keinen Zugang mehr zu ihm und es findet eine beidseitige Abnabelung statt, die im letzten Drittel des Romans in eine Katastrophe mündet. Hier stellt der Roman die großen Fragen, ohne darauf Antworten zu geben. Er regt stattdessen zum Nachdenken an: Wie würdest du reagieren, wenn dein Kind dir entgleitet? Was bist du bereit für dein Kind zu opfern? Das Finale ist dabei so schmerzhaft wie intensiv und ließ mich bewegt und erschüttert zurück.

"Was es braucht in der Nacht" von Laurent Petitmangin ist ein Roman, der gleichermaßen schroff wie zärtlich ist, der aufrüttelt, wütend macht und schockiert. Es ist ein Entwicklungsroman, ein Roman über die Liebe eines Vaters zu seinen Kindern, ein Familien- und Gesellschaftsdrama, das nicht nur wegen der bevorstehenden Präsidentenwahl in Frankreich von großer Aktualität ist. Ein Roman, der lange nachwirkt. Eine Besonderheit.

Bewertung vom 04.04.2022
Habichtland
Knöppler, Florian

Habichtland


ausgezeichnet

Deutschland im Jahre 1941: Während Teile der Bevölkerung auf den Sieg des nationalsozialistischen Deutschland hoffen, möchte sich Hannes auf seinem kleinen Hof im schleswig-holsteinischen Kronsnest am liebsten aus der großen Politik heraushalten. Doch als er das Angebot erhält, stellvertretender Ortsbauernführer zu werden, erkennt er darin die Chance, seine Familie vor möglichen Gefahren zu schützen - zum Unmut seiner Frau Lisa, die sich still und heimlich längst im Widerstand organisiert hat...

Als vor einem Jahr Florian Knöpplers Debütroman "Kronsnest" im Pendragon-Verlag erschien, war ich förmlich hingerissen von dieser besonderen Mischung aus Entwicklungs-, Gesellschafts- und Liebesroman. Mit großer Empathie und herausragenden Naturbeschreibungen traf Knöppler mitten in mein Herz. Nun veröffentlicht der Verlag mit dem kleinen freundlichen Drachen den Nachfolger "Habichtland", der glücklicherweise abermals auf ganzer Linie überzeugt.

Schon das Cover deutet den Wandel der gesellschaftlichen Umstände mehr als nur an. Während in "Kronsnest" den Leser:innen noch ein liebes Schaf entgegenblickte, werden sie nun von einem auf der Lauer liegenden Habicht fixiert. Und so ist auch "Habichtland" insgesamt handlungsreicher, schneller und angriffslustiger ausgefallen als der Vorgänger, der seinerseits stärker mit den Naturbeschreibungen und einer herzerwärmenderen Geschichte punkten konnte.

Hannes, jugendlicher Held aus "Kronsnest", ist mittlerweile erwachsen und mit Lisa verheiratet. Gemeinsam leben sie mit ihren Kindern Niklas und Marie und Walter, dem letzten Partner der in der Zwischenzeit verstorbenen Mutter, auf dem aus dem ersten Teil bekannten Hof. Die Ehe steht auf der Kippe, Hannes und Lisa teilen weder Schlafgemach noch gemeinsame Interessen. So entwickelt sich eine immer unerträglicher werdende Wortlosigkeit, mit der Florian Knöppler sehr deutlich macht, welche Auswirkungen die Wirren des Zweiten Weltkriegs auch ohne konkrete militärische Handlungen auf ganz normale Familien haben konnte.

Knöppler verlässt sich dabei erneut ganz auf seinen Protagonisten, und die Figur Hannes ist spannend genug, um die Romanhandlung auf ihren breiter gewordenen Schultern zu tragen. Fein charakterisiert Knöppler ihn in all seiner Ambivalenz, und es gibt erneut keine einzige Szene, die ohne ihn auskommt. Hannes scheint ständig auf der Suche nach sich selbst zu sein, er wägt ab, was für seine Familie das Beste ist. Dennoch ist er kein Zauderer. Als auch noch seine Jugendliebe Mara im nahen Elmshorn auftaucht, scheint das Gefühlsdebakel komplett. Auf der anderen Seite hat er sein Aggressionspotenzial nicht immer im Griff und fühlt sich selbst an seinen Vater erinnert - der in "Kronsnest" ja eine ähnlich ambivalente Figur war.

Ohnehin strahlt diese Ambivalenz aus nahezu allen Figuren: Lisa, die sich im Widerstand organisiert und dabei ihre Familie vernachlässigt, Walter, der den Kummer eher in sich hineinfrisst und zum Gleichgewicht der Familie erheblich beiträgt, im letzten Drittel des Romans aber völlig unerwartete Seiten und Taten zeigt. Und selbst die Kinder sind nicht nur unschuldig, insbesondere Sohn Niklas, der seine Wut gern mal an Schwächeren auslässt, in den entscheidenden Momenten aber sein großes Herz zeigt.

Es sind diese Figuren, verbunden mit Knöpplers großer Empathie, die mir als Leser am Ende des Romans das Gefühl gaben, als würde ich mich von Freunden verabschieden. Das Ende ist jedoch so offen ausgelegt, dass man doch unmittelbar das Gefühl erhält, als könne man sich auch noch auf einen dritten Teil freuen. Selbst die Dialoglastigkeit hat mich nicht gestört, obwohl ich normalerweise kein Freund davon bin. Doch in "Habichtland" wirken die Gespräche authentisch und keinesfalls aufgesetzt.

Vergleiche ich beide Romane, hat bei mir "Kronsnest" zwar die Nase vorn, was allerdings auch daran liegen könnte, dass ich einerseits intensiver lese, wenn es sich bei den Protagonisten um Kinder oder Jugendliche handelt, wei

Bewertung vom 24.03.2022
Meinetwegen
Schifferli, Dagmar

Meinetwegen


gut

Die 17-jährige Katharina befindet sich im Jahre 1970 wegen einer zunächst nicht näher bezeichneten Straftat in einer geschlossenen Einrichtung für Jugendliche und trifft sich dort wöchentlich mit einem Therapeuten. In den Gesprächen setzt sie die Regeln und möchte sich nicht unterbrechen lassen. Es entwickelt sich ein intensiver Monolog, der Stück für Stück Details über die Tat enthüllt - und ganz nebenbei einen Blick in den Kopf des jungen Mädchens gewährt...

"Meinetwegen" von Dagmar Schifferli ist ein kurzer Roman von gerade einmal 112 Seiten, der vor allem in der ersten Hälfte formal und sprachlich überzeugt. Ich-Erzählerin Katharina macht nicht nur dem Therapeuten, sondern auch den Leser:innen schnell klar, dass sie diejenige ist, die den Ton angibt und setzt. "Eines aber müssen Sie wissen: Sie dürfen mich nie unterbrechen, niemals", heißt es gleich zu Beginn und so bleibt auch der Leserschaft nichts anderes übrig, als sich dem Gedankenstrom dieser ambivalenten und unzuverlässigen Erzählerin hinzugeben.

Katharina weicht dabei häufig von den Fakten ab, die mit ihrem Delikt zu tun haben, so dass es der Autorin gelingt, einen veritablen Spannungsbogen aufzubauen und die Leser:innen spekulieren zu lassen, warum Katharina sich an diesem Ort befindet. Selbst der Roman hält inne, wenn Katharina sich ihre Denk- und Sprechpausen nimmt. Dagmar Schifferli macht dies durch Leerstellen deutlich - eine ansprechende und anspruchsvolle Spielerei. Lesenswert sind auch die Gedanken Katharinas zur Sprache selbst. Nicht selten weist sie den Therapeuten und die Leser:innen auf Doppeldeutigkeiten hin und lässt immer wieder sprachliche Besonderheiten aus der Schweiz einfließen. Bisweilen erinnert das an Lyrik, man erkennt versähnliche Textteile und nicht von ungefähr verweist Dagmar Schifferli auf Gedichte wie die "Todesfuge" von Paul Celan.

Leider nutzt sich die Erzählweise aber ab etwa der Hälfte des Romans dann doch recht schnell ab. Katharina umkreist das eigentliche Thema der Sitzungen weiterhin großflächig, dem Therapeuten ist es dann irgendwann immerhin gestattet, kleine Kärtchen mit den Antwortmöglichkeiten "Ja" oder "Nein" in ihren Monolog einfließen zu lassen. Doch innerhalb des Monologs selbst - und damit auch innerhalb des Romans - ist kaum noch eine Entwicklung zu erkennen, was dazu führte, dass sich "Meinetwegen" trotz seiner Kürze bisweilen sogar deutlich länger anfühlte.

Ein weiterer Schwachpunkt ist das recht unausgegorene Ende. Ohne etwas darüber verraten zu wollen, hatte ich bei dieser außergewöhnlichen Art des Erzählens doch eine größere Überraschung, vielleicht sogar ein größeres Übel erwartet. Doch Dagmar Schifferli bleibt in ihrer Auflösung recht brav und belässt es bei den zuvor aufgebauten Sympathien für ihre Protagonistin.

Auch wenn andere Romane wie Angela Lehners "Vater unser" bereits auf den manipulativen Monolog setzten, halte ich Sprache und Form von "Meinetwegen" für ungewöhnlich genug und damit für die Stärke des Büchleins. In der Entwicklung der Geschichte und der Erzählerin und im Finale geschieht jedoch in der zweiten Hälfte zu wenig, so dass die genannten Vorzüge recht bald verpuffen. Schade, denn "Meinetwegen" hätte in meinen Augen ein größeres und aufregenderes Potenzial gehabt, wenn sich die Autorin mehr getraut und die Leserschaft noch stärker provoziert hätte.

Bewertung vom 22.03.2022
Unser Glück
Buchholz, Natalie

Unser Glück


sehr gut

Coordt und Franziska leben mit ihrem kleinen Sohn Frieder in einer Wohnung im Münchner Stadtteil Untergiesing und sind mit ihrer Wohnsituation eher unzufrieden. Doch plötzlich bietet sich ihnen die Möglichkeit, in eine mondäne Altbauwohnung in Schwabing einzuziehen. Was komfortabel klingt, hat allerdings einen Haken. Denn die Bedingung der Vermieterin ist nicht ohne: Ihr erkrankter Ex-Mann müsste dort in einem Extrazimmer wohnen bleiben, ohne dass er der Familie in die Quere kommt. Dennoch entscheidet sich das Paar für den Einzug - mit schwerwiegenden Konsequenzen...

"Unser Glück" ist der zweite Roman von Natalie Buchholz, die mit schnörkelloser Sprache und kurzen, prägnanten Sätzen die Leser:innen unmittelbar teilhaben lässt am Gentrifizierungs-Wahnsinn in deutschen Großstädten. Die oben geschilderte Ausgangssituation ist dabei so kühn wie hochspannend. Denn während sich Franziska mit dem unsichtbaren Mitbewohner zu arrangieren scheint, merkt man Protagonist Coordt dessen Unwohlsein eigentlich durchgehend an. Ständig fürchtet er sich vor einem möglichen Auftauchen des Mannes, nachts sitzt er in der Küche und beobachtet dessen verschlossene Zimmertür.

In diesem ersten Drittel des Romans entfaltet die Geschichte eine subtile Spannung, die sich mit einem permanenten Gefühl der Bedrohung vermengt. Dies erzeugte bei mir eine seltsame Faszination für den Roman und diese ungewöhnliche Wohnkonstellation. Im weiteren Verlauf verliert die Handlung ein wenig an Glaubwürdigkeit, bietet dafür aber allerlei Überraschungen. Auch hier blieb die Sogkraft der Lektüre bestehen, auch wenn ich vor allem eine große Wut auf die Figuren und ihre Taten entwickelte. Leider flacht der Spannungsbogen jedoch zu früh ab, so dass das Finale eher beliebig und erwartbar erscheint.

Während die Nebenfiguren gerade gegen Ende hin ein wenig blass geraten, ist Hauptfigur Coordt der Autorin sehr gut gelungen. Denn auch wenn man als Leser:in wohl nicht durchgehend mit ihm sympathisiert, entwickelt er eine Ambivalenz, der man sich schwer entziehen kann - was auch daran liegen mag, dass der Erzähler kaum einmal Coordts Perspektive verlässt. So scheint er gefangen zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen an einen Familienvater und dem immer stärker werdenden Leidensdruck. Denn einerseits soll er auch aus Sicht seiner Frau für das nötige Einkommen sorgen, um die Wohnung beziehen zu können, doch andererseits bezeichnet sie ihn auch als "Butterbrot" - ganz lecker eben, aber doch nicht der kulinarische Hochgenuss.

Ob die Figuren den Leser:innen zur Identifikation taugen, ist also eher fraglich, denn sie sind entweder zu unsympathisch oder berühren nur in Ansätzen. Dass die Autorin mit der beschwerlichen Wohnungssuche in Großstädten aber einen hochaktuellen Nerv trifft, steht nicht zur Debatte. Denn "Unser Glück" konfrontiert die Leserschaft direkt mit der Frage: "Wie weit würdest du gehen, um deine Traumwohnung zu bekommen?" Oder als Annonce zusammengefasst: "Suche Altbauwohnung, biete Leben".

Natalie Buchholz' "Unser Glück" ist ein Roman, der die Leser:innen vor allem in der ersten Hälfte packt, aufrüttelt und zum Nachdenken anregt. Wer sich der aufregenden, aber ein wenig überzeichneten Handlung hingibt, wird belohnt mit einem spannenden Familiendrama, dem erst gegen Ende ein wenig die Luft ausgeht.

Bewertung vom 16.03.2022
Am roten Strand / Ben-Neven-Krimis Bd.2
Wagner, Jan Costin

Am roten Strand / Ben-Neven-Krimis Bd.2


ausgezeichnet

Kurz nachdem die Ermittler Ben Neven und Christian Sandner den entführten kleinen Jannis befreit haben und einen der Täter verhaften konnten, werden die ganzen Ausmaße des Falles deutlich. Denn es gab ein ganzes Netzwerk an Pädophilen, die im Internet nicht nur Fotos und Videos austauschten, sondern auch reale Treffen mit ihren Kindern oder Enkelkindern anbahnten. Als zwei Verdächtige sterben, sieht sich das Team plötzlich mit einer ganz neuen Situation konfrontiert: Will sich jemand an dem Netzwerk rächen? Hinzu kommt, dass sich auch Bens innere Dämonen wieder zu Wort melden und der Polizist nicht nur äußerlich an seine Grenzen gerät...

"Am roten Strand" ist der zweite Band um den pädophilen Ermittler Ben Neven und sein Team, dessen Handlung überraschenderweise direkt nach dem ersten Buch "Sommer bei Nacht" von 2020 einsetzt. Jan Costin Wagner beweist darin erneut, dass ihm im Genre des deutschsprachigen anspruchsvollen Kriminalromans derzeit wohl maximal Friedrich Ani und Matthias Wittekindt das Wasser reichen können. Für das bessere Verständnis der Handlung und der Figuren ist es zwar nicht zwingend notwendig, den ersten Band zu kennen, in meinen Augen aber sehr empfehlenswert. Denn viele der inneren Kämpfe der Figuren kann man besser nachvollziehen, wenn man sie bereits in "Sommer bei Nacht" kennengelernt hat und auch der aktuelle Fall bezieht sich direkt auf den Vorgänger.

Der Sprachstil Wagners ist packend und gleichzeitig beklemmend. Die Dialoge wirken authentisch und nie aufgesetzt. Die Handlung erscheint erschreckend aktuell und lässt einen sofort an die Fälle in Lügde und Münster denken. Durch die Zerrissenheit der Figuren in Verbindung mit dem traurigen Kriminalfall verströmt "Am roten Strand" eine intensive und bedrohliche Atmosphäre, die immer durch eine gewisse Melancholie untermalt wird.

Die interessanteste Figur ist dabei wie schon im Vorgänger Ben Neven selbst, der stets auf dem schmalen Grat zwischen Selbsthass und innerer Zerrissenheit wandelt. Jan Costin Wagner hat mit dem mit seiner sexuellen Neigung kämpfenden Ben einen Protagonisten erschaffen, der noch mehr als im ersten Teil die Leserschaft spalten wird. Ein gewagter und kühner Schritt, mit dem es der Autor gar nicht darauf anlegt, von allen gemocht zu werden. Und auch wenn er Neven nicht verurteilt, wahrt er doch immer eine Distanz zu ihm und beschönigt nichts. Die Verurteilung überlässt er lieber Ben Neven selbst.

Insgesamt sind die Charaktere psychologisch wunderbar austariert. Jede Geste, jeder Blick hat eine Bedeutung. Jeder Zweifel und jedes leichte Flackern in den Augen. Die Perspektive der Figuren wechselt dabei ständig und lässt selbst in kürzesten Beiträgen auch die vermeintlichen Nebenfiguren nicht außer Acht.

Jan Costin Wagner ist eine Wohltat für die deutsche Kriminalliteratur, die zu oft mit Regionalkrimis und blutrünstigen Psychothrillern nur noch zu langweilen weiß. Denn "Am roten Strand" ist viel mehr als nur ein Krimi. Es ist eine genre- und grenzüberschreitende mutige Melange, die schon jetzt neugierig macht auf den dritten Band um Ben Neven und sein Team.