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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

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Insgesamt 157 Bewertungen
Bewertung vom 08.09.2022
Der Klang der Erinnerung
Browning Wroe, Jo

Der Klang der Erinnerung


sehr gut

Birmingham, 1966: Als den jungen William die Nachricht eines furchtbaren Unglücks im walisischen Dörfchen Aberfan erreicht, steht für ihn sofort fest, dass er dorthin will, um zu helfen. Denn soeben ist er der Familientradition gefolgt und hat seinen Abschluss als Einbalsamierer gemacht und bei den 144 Toten, die durch einen Haldenrutsch ums Leben gekommen sind, wird jede tatkräftige Unterstützung benötigt. Doch was macht das mit einem gerade einmal 19-Jährigen, mit einem solchen Schicksal konfrontiert zu werden - gerade da es sich bei der großen Mehrheit um tote Schulkinder handelt? Und welche Verbindung hat William zu Allegris "Miserere", das er sich im Radio kaum anhören kann? Darüber berichtet Jo Browning Wroe in ihrem Debütroman "Der Klang der Erinnerung".

"A Terrible Kindness" heißt das Buch im englischen Original und warum man daraus einen deutschen Titel mit zwei Substantiven, die durch den Genitiv miteinander verbunden sind, machte, erschließt sich mir nicht. Zu austauschbar wirkt dieser Titel, zu abgenutzt und beliebig, als dass er hängen bleiben könnte. Dabei ist der Bestseller aus England durchaus erinnerungswürdig.

Browning Wroe erzählt in ihrem Debüt nämlich so souverän und warmherzig und mit einer solch großen Empathie für ihre Figuren, dass sich der "Klang der Erinnerung" fast wie ein warmer Mantel um die Leserschaft legt. Hört man sich dazu die in dem Roman vorkommenden Chorstücke an, die eine zentrale Rolle spielen, können einen die Emotionen schon einmal überwältigen.

So geht es auch William Lavery, liebenswerter Protagonist des Buches. Ausgehend von der historisch belegten Aberfan-Katastrophe, begleiten die Leser:innen diesen William auf dessen Weg zum Erwachsenwerden. Die Autorin springt kunstvoll und gelungen zwischen den Zeiten hin und her. Mal erleben wir William in Aberfan, über eine weite Strecke erkennen wir in ihm einen äußerst begabten Chorknaben in Cambridge, dann erzählt Browning Wroe vom Beginn seiner Einbalsamierer-Ausbildung. William ist dabei der absolute Fixpunkt, keine Szene kommt ohne ihn aus. Das Vertrauen und die Empathie, die Browning Wroe in diese Figur setzt, zahlen sich aus, denn lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, in dem ein solch hohes Identifikationspotenzial mit der Hauptfigur besteht. Natürlich macht William auch Fehler - nicht wenige gar - doch als Leser:in ist man immer bereit, ihm zu verzeihen und mit ihm auf einen guten Ausgang zu hoffen.

Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist das Setting. Chorknaben- und Internatsromane hat man schon häufiger gelesen, wie zuletzt beispielsweise "Edinburgh" von Alexander Chee, doch durch die Verbindung zum Berufsbild der Einbalsamierer und Bestatter gelingt Browning Wroe eine bemerkenswerte Liaison. Dabei spürt man jederzeit, wie gut die Autorin über dieses Berufsbild informiert ist, stammt sie doch selbst aus einer Bestatterfamilie in Birmingham. Auch sprachlich überzeugt das Buch, denn trotz des recht konventionellen Stils findet Browning Wroe immer wieder passende Vergleiche, die dem Roman einen melancholischen Unterton geben.

Was den Figuren hingegen ein wenig fehlt, sind die Ecken und Kanten. Über weite Strecken des Romans begegnet man eigentlich nur Sympathieträger:innen. Sei es Williams bester Freund Martin auf dem Internat, seine Liebe Gloria oder sein Onkel Robert, der sich seit dem Tod von Williams Vater rührend um den kleinen Jungen kümmert. Ambivalent wirkt lange Zeit nur Mutter Evelyn, die sich mit Williams Bindung zu Robert und dem Bestattungsinstitut nicht abfinden mag und aus ihm unbedingt einen Sänger machen möchte. Erst im letzten Drittel taucht mit Ray Price, Williams Kollegen in der Ausbildung, eine weitere Figur auf, bei der man sich nicht sicher ist, ob man sie mögen soll oder nicht.

Und letztlich überträgt sich diese fehlende Ambivalenz leider auch auf das Finale des Romans. Während ich mich die ganze Zeit fragte, warum William den Kontakt zu seiner Mutter abbrach und ob sich die in die Brüche ge

Bewertung vom 02.09.2022
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Bervoets, Hanna

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gut

Für das Subunternehmen Hexa begibt sich Kayleigh in die dunklen Ecken der Sozialen Medien. Sie sichtet verstörende Videos und Bilder und muss in Sekundenschnelle darüber entscheiden, ob diese den Nutzer:innen der Plattform zuzumuten sind oder gelöscht werden müssen. Mit zunehmender Dauer spürt auch sie die Auswirkungen dieser Arbeit auf sich selbst und ihre Kolleg:innen. Was macht es mit einem Menschen, wenn er tagtäglich mit Gewalt, Blut und Tod konfrontiert wird? Wie kann ein solcher Mensch leben? Kann er überhaupt leben? Darüber schreibt Hanna Bervoets in ihrem neuen Roman "Dieser Beitrag wurde entfernt".

Ob Julia von Lucadou, Berit Glanz oder Delphine de Vigan: Der Umgang mit den Sozialen Medien und seine Folgen finden immer stärker Einzug in die Gegenwartsliteratur. Folgerichtig, denn niemals zuvor wurde das gesellschaftliche Leben so stark geprägt durch Digitalisierung und durch virtuelle Kontakte.

Hanna Bervoets' Roman besticht zunächst einmal durch seine Knappheit von gerade einmal gut 100 Seiten. Trotz dieser Kürze gelingt es ihr durchaus, vor allem auf den ersten Seiten Intensität bei der Leserschaft zu erzeugen. Denn natürlich möchte man auch als Leser:in die Frage beantwortet bekommen, die der erste Satz mit großer Unmittelbarkeit stellt: "Und was hast du alles so gesehen?"

Die Konstruktion des Textes wirkt dabei zunächst wie eine Stärke des Romans, entpuppt sich letztlich aber als Schwäche. Denn Protagonistin Kayleigh erzählt ihre Geschichte einem Anwalt, der das Unternehmen Hexa im Namen von ehemaligen Mitarbeiter:innen wegen der prekären Arbeitsbedingungen verklagen möchte. Kayleigh erklärt in ihrer Antwort auf den Anwalt, warum sie sich der Klage nicht anschließen möchte. Dieser auf den ersten Blick aufregend wirkende Kunstgriff wird seiner inhaltlichen Ausführung aber nicht gerecht, denn am Ende bleibt man verwundert zurück und fragt sich, warum ausgerechnet dieser Mensch Kayleighs Geschichte erfahren sollte.

Dennoch ist vor allem das erste Drittel des Buches gelungen. Die Leser:innen erhalten einen unverstellten und - wie man anhand der Literaturliste am Ende des Romans erkennen kann - sehr gut recherchierten Blick in die völlig fremde Arbeitswelt einer Social Media-Moderatorin. Man spürt den psychologischen und den zeitlichen Druck, schüttelt den Kopf über die verknappten Arbeitspausen und über die unsäglichen Regularien, nach denen die Menschen entscheiden müssen, was der Gesellschaft noch zuzumuten ist.

Mit Voranschreiten des Romans wird aus dieser Arbeitswelt-Geschichte aber zunehmend ein queeres Liebesdrama. Hier verschenkt Bervoets in meinen Augen das große Potenzial der Geschichte, denn es wird viel zu viel masturbiert, getrunken, gefeiert und gekifft. Mutig daran ist, wie selbstverständlich die Autorin dabei über weibliche Sexualität schreibt, wie offenherzig auch über den Umgang mit Pornographie fabuliert wird. Dennoch hat mich das Buch in diesen Abschnitten verloren, da ich in dieser Ausführlichkeit nicht das Bedürfnis hatte, die intimen Geständnisse so zu erfahren.

Ein weiterer Nachteil ist, dass die Figuren mit Ausnahme von Ich-Erzählerin Kayleigh recht blass bleiben. Aufgrund von Kayleighs Schilderungen erfährt man zwar zahlreiche Details über ihre toxischen Liebesbeziehungen und Freundschaften, doch letztlich fehlte mir durch diese einseitige Darstellung die Tiefe der Charaktere.

Im Finale findet Hanna Bervoets glücklicherweise zur Stärke des Beginns zurück. Sie baut einen wahrlich überraschenden Twist ein, der einen fast dazu verleitet, den Roman noch einmal von Beginn an lesen zu wollen - unter neuen Aspekten.

Insgesamt ist "Dieser Beitrag wurde entfernt" ein recht lesenswerter knapper und äußerst moderner Roman, dessen großes Potenzial aber nur in den seltensten Momenten vollends ausgeschöpft wird. Eine große Aufmerksamkeit sollte ihm durch seine Aktualität und das bewusste Polarisieren aber dennoch gewiss sein.

Bewertung vom 31.08.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


gut

In der Familie Mohn trauert jeder anders um die verstorbene Mutter Johanne. Der älteste Sohn Steve rauscht auf seinem Skateboard durch die Straßen, den kleineren Micha überfällt eine große Leere und Schwester Linne lässt ihrem Zorn durch Gewalt auf dem Schulhof freien Lauf. Familienvater Adam scheint überfordert, denn auch sein Herz ist seit dem Tode seiner Frau zerbrochen. Auf Unterstützung durch die Umgebung kann die Familie dabei nicht hoffen, denn diese reagiert zunehmend mit Unverständnis und Verärgerung. Als der Trauerbeamte Ginster sich der Familie annimmt, scheint deren Leben vollends aus den Fugen zu geraten...

Vor gerade einmal einem Jahr überraschte Stefanie vor Schulte mit ihrem wunderbaren Debütroman "Junge mit schwarzem Hahn", führte die Leser:innen darin in eine düstere Märchenwelt und erhielt folgerichtig den Mara-Cassens-Preis für das beste deutschsprachige Debüt. So seltsam, so anders klang das im Vergleich zu anderen Werken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Nun findet man diese Andersartigkeit zwar auch in ihrem jüngst erschienenen Nachfolgewerk "Schlangen im Garten", doch letztlich ist dieser Roman im Vergleich zum Debüt eine Enttäuschung. Dabei ist der Schreibstil durchaus ähnlich und auch thematisch lassen sich Parallelen zum "Jungen" finden. In beiden Werken setzt vor Schulte auf kurze, prägnante Sätze, auf Satzfragmente. In beiden Romanen geht es vorrangig um trauernde Kinder, die zu gesellschaftlichen Außenseitern werden. Und in beiden Büchern spielt die Tiersymbolik eine entscheidende Rolle. Was im Debüt noch der schwarze Hahn als treuer Begleiter des Protagonisten war, sind hier Schlangen, die die Familie abstrakt und konkret bedrohen. Eine weitere Gemeinsamkeit sind die fantastischen Elemente, die das Debüt durchweg durchziehen und in "Schlangen im Garten" erst nach und nach zum Einsatz kommen.

Doch anders als im Vorgänger gelingt es Stefanie vor Schulte diesmal nur in Ansätzen, mit dieser dunklen Geschichte zu berühren. Der Hauptgrund ist die Figurenkonstruktion. Die Familie Mohn bleibt vage und versteckt sich hinter zahlreichen poetischen Vergleichen, die mir keinen Zugang zu ihr gewährten. Die Protagonist:innen lassen sich gar den Rang ablaufen von einigen der zahlreich auftretenden äußerst skurrilen Nebenfiguren. Die gelungenste unter ihnen ist wohl Bille, eine Obdachlose, die mit ihrem Einkaufswagen und einem fiktiven Hund durch die Straßen spaziert und sich ganz nebenbei als Retterin oder Schutzengel des Familienvaters Adam präsentiert.

Nicht gefallen haben mir zudem die deutlich überzogenen Reaktionen aus dem Umfeld der Mohns. Wohl keiner von ihnen hat das Buch "Im Grunde gut" von Rutger Bregman gelesen, denn sie allesamt repräsentieren fast ausschließlich das Schlechte im Menschen. Zusammen mit den immer fantastischer und unrealistischer werdenden Handlungen sorgten sie dafür, dass ich im letzten Drittel des Romans das Gefühl bekam, die eigentliche Geschichte der Familie mit einhergehender Gesellschaftskritik entgleite der Autorin. Wenn von "Blutegelfrauen", "Beinfriedhöfen" und "Drachenausgrabungen" gesprochen wird, bleibt leider kaum noch Raum für Familie Mohn. Ihre Trauer schien nur noch ein Begriff zu sein, wurde nur noch behauptet, stand aber gar nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses.

Auch sprachlich bleibt das Werk deutlich hinter dem "Jungen" zurück, die Dialoge sind zum Teil ärgerlich. "Seit wann hast du denn Schnurrbart, Steve!", fragt Nebenfigur Marlene in einer besonders schwachen Szene. "Angespannt und verklemmt wie zu Termin", heißt es an einer anderen Stelle. Da die Autorin in ihrem poetischen Stil ansonsten jedes Wort auf die Goldwaage legt, hätte ich hier doch etwas mehr Anspruch erwartet.

Dennoch bietet auch "Schlangen im Garten" wirklich gute Momente, in denen die bekannten Fähigkeiten vor Schultes aufblitzen. So kramt Familienvater Adam in der wohl stärksten Szene des gesamten Romans in den Erinnerungen fremder Menschen, indem er die Habseligk

Bewertung vom 08.08.2022
Tristania
Kurtto, Marianna

Tristania


sehr gut

Oktober, 1961: Als auf der kleinen südatlantischen Insel Tristan da Cunha der Vulkan ausbricht, geht es für die Menschen dort nicht nur um die Rettung ihrer eigenen Leben. Denn zusammen mit der Lava brechen Geheimnisse und Gefühle hervor, die fast genauso lange unter der Oberfläche brodelten wie das bedrohliche Magma. Im Epizentrum des Ausbruchs: Lehrerin Martha, ihre Nachbarin Lise und deren nach England geflohener Mann Lars sowie Jon, Lises und Lars' Sohn.

Wer den Namen "Tristania" liest, erinnert sich zunächst vielleicht an die gleichnamige norwegische Gothic Metal-Band, die um die Jahrtausendwende in der Szene mit einigen gutklassigen Alben durchaus Beachtung fand. Was den Debütroman der finnischen Autorin Marianna Kurtto mit dieser Band verbindet, ist der traurige Grundton, der sich wie ein glühender Lavastrom durch die 300 Seiten bewegt. Die zweite Auffälligkeit betrifft den Übersetzer Stefan Moster, der sich in für ihn nicht unbekannten Gefilden bewegt. Denn schon im letzten Jahr reiste Moster für den mare-Verlag literarisch auf eine Insel des Südatlantiks und begleitete in Olli Jalonens herausragendem Roman "Die Himmelskugel" den kleinen Angus auf St. Helena.

Gleich zu Beginn fällt den Leser:innen die poetische Sprache auf, die Kurtto im Prolog genial einsetzt, um die Wellen vor Tristan auf die Suche nach menschlichem Leben nach dem - übrigens historisch belegten - Vulkanausbruch zu schicken. Diese Poesie behält sie für den Rest des Romans bei, wobei der Einsatz nicht immer gleichermaßen gelungen ist. Schöne und treffende Bilder wechseln sich mit bemüht wirkenden Vergleichen ab. Zudem verhindert die etwas artifiziell wirkende Sprache eine nähere Verbindung zu den Figuren.

Meisterlich ist hingegen die Komposition des Romans. Insbesondere bei der Figurenentwicklung gelingt es Kurtto, mit den Erwartungen der Leserschaft zu spielen und ihr immer wieder den Spiegel vorzuhalten, um festgelegte Vorurteile zu hinterfragen und wieder über den Haufen zu werfen. Dies gelingt ihr durch die verschiedenen Perspektiven der Charaktere. Wir folgen den Ich-Erzählern Jon und Lars und lassen uns von einem personalen Erzähler durch die Gedankenwelten von Martha und Lise begleiten. Doch Kurtto belässt es nicht bei den Protagonist:innen, sondern spielt dieses Spiel bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. So entpuppt sich eine eigentlich schwache Figur als eigentliche Heldin, während ein vermeintlich rechtschaffener Charakter das vielleicht dunkelste Geheimnis hütet.

Sehr gut hat mir zudem die Empathie der Autorin für ihre Figuren gefallen. Zwar schickt sie sie auf eine melancholische und traurige Reise, schenkt ihnen aber immer auch Hoffnung und zarte Momente des Glücks. Ganz erstaunlich ist auch, wie es Kurtto gelingt, trotz des durchweg ruhigen Erzähltempos gerade in der zweiten Hälfte des Romans eine intensive und hochdramatische Spannung zu erzeugen.

Nun ist es schwer, diese Rezension zu verfassen, ohne auf das Finale einzugehen. In der Tat ist es am besten, sich auf dieses einzulassen und vorher so wenig wie möglich darüber zu wissen. Nur so viel sei gesagt: Es gibt einen wahrlich dramatischen Wendepunkt in der Geschichte, der die Leserschaft spalten und ungläubig zurücklassen wird. In der jüngeren Literatur hat zuletzt vielleicht Alex Schulman mit "Die Überlebenden" für einen ähnlichen Effekt gesorgt.

Insgesamt ist "Tristania" ein lesenswerter und gelungener Roman mit bemerkenswerter Figurenkonzeption und einem traurig-leisen und dennoch hochspannenden Plot, der allerdings sprachlich manchmal zu viel will und im Finale aufgrund eines Überraschungseffekts ein wenig an Glaubwürdigkeit einbüßt. Um in eine passende melancholische Stimmung zu kommen, lesen Sie zur Einstimmung auf den Roman am besten den wunderbaren Prolog - und hören ganz nebenbei einmal "Beyond The Veil", das wohl beste Album von Tristania aus dem Jahre 1999.

Bewertung vom 05.08.2022
Der Schrank
Sailer, Simon

Der Schrank


sehr gut

Als die Möbelpackerin Lena Kovac gemeinsam mit ihren Kollegen Yilmaz und Korni einen antiken Schrank innerhalb Wiens transportieren muss, ahnt sie noch nicht, dass dieser Auftrag ihrem Leben eine entscheidende Wendung geben wird. Erst als in ihrer Umgebung immer mehr Tiere und immer weniger Menschen auftauchen, beginnt sie, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Was will bloß dieser Schwan von ihr, der sich kaum aus ihrem Lieferwagen vertreiben lässt? Und was hat es mit der rätselhaften Perle auf sich, die Lena in einem der vier Schrankfüße findet?

Nach "Die Schrift" (2020) und "Das Salzfass" (2021) bringt der österreichische Schriftsteller Simon Sailer seine "Essiggassen-Trilogie" zu einem würdigen Finale. Dabei erhält er mehr denn je die kongeniale Unterstützung des Illustratoren Jorghi Poll, dessen Bilder die drei Bände aus dem Hause der "Edition Atelier" längst zu bibliophilen Perlen im Bücherregal haben werden lassen.

Den Menschen, die sich aus unerklärlichen Gründen bisher noch nicht auf den literarischen Spuren der Wiener Essiggasse bewegt haben, sei gesagt, dass sich alle drei Bücher völlig unabhängig voneinander lesen lassen, da sie nur lose durch den Spielort miteinander verbunden sind. Auch Neueinsteiger:innen können Lena und ihren Kollegen also völlig problemlos beim Transport des Schranks behilflich sein.

Während die eigentliche Handlung der Erzählung am Anfang ein wenig Zeit benötigt, um in Fahrt zu kommen, funktioniert die Figurenkonzeption gleich von Beginn an. Nach Leo Buri und Maurice Demel gibt es mit Lena Kovac im finalen Teil der Trilogie erstmals eine weibliche Hauptfigur. Lena ist eine starke Protagonistin, die die Sympathien der Leserschaft sogleich auf sich ziehen sollte. Sie überzeugt nicht nur als resolute Frau in einem Männerberuf, sondern scheint auch ihre Beziehung mit ihrem Freund Hakan jenseits von Geschlechterklischees zu führen.

Spätestens mit dem Auftauchen des Schranks beginnt die Erzählung, sich in die Sphären der Phantastik zu begeben, so wie wir es auch schon von der "Schrift" und dem "Salzfass" kannten. Simon Sailer findet die Balance zwischen Komik und Tragik, zwischen Blade Runner-Origami und Endzeit-Dystopie. Eine große Rolle spielen dabei zahlreiche Tiere, an deren seltsamen Verhaltensweisen wohl auch Bernhard Grzimek seine Freude gehabt hätte. Seien es Tauben, die eine verlassene Straßenbahn bevölkern, kuschelnde Dachse in einem Wohnzimmer oder ein Schwan, der sich partout nicht aus Lenas Lieferwagen verdrängen lassen will.

In diesen Momenten erinnert "Der Schrank" nicht von ungefähr an Kafkas "Verwandlung" und zeigt zudem, wie ein Roman wie "Die Verwandelten" von Thomas Brussig hätte funktionieren können, wenn ein Autor seine Figuren ernst nimmt.

Das eigentlich Überraschende an dem Buch ist aber, wie politisch und sozialkritisch es geworden ist. Denn letztlich sind es die prekären Arbeitsbedingungen von Lena und ihrem Team, die ebenso im Mittelpunkt des Geschehens stehen, wie ein übergreifender Blick auf den Umgang mit Tieren und Tierrechten allgemein. Wenn sich Pferde aus den Wiener Fiakern befreien und eine Frau, die durch ihren Trab an ein Pferd erinnert, zu Lena sagt: "Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus", benötigt es kaum noch das schief an der Wand hängende Bild namens "Tierrechte"in der Mitte des Bandes, um in dem Buch auch einen Kommentar zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation zu erkennen. Zwar standen auch schon in den ersten beiden Bänden Themen wie "soziale Isolation" oder "Streben nach Besitz" im Fokus, doch so deutlich wie "Der Schrank" setzte wohl keiner der anderen diese Signale.

Dass ich das Finale der Essiggassen-Trilogie dennoch nicht ganz so intensiv empfunden habe wie die beiden Vorgänger, liegt vor allem daran, dass mich diese noch mehr überraschen konnten. Gerade "Das Salzfass" konnte mich in seiner Mischung aus wirklich gelungenen Figuren und seiner grotesk-gruseligen und unheimlich komischen Handlung noch ein Stück

Bewertung vom 25.07.2022
Sturmhöhe
Brontë, Emily

Sturmhöhe


ausgezeichnet

Yorkshire, 1801: Als der neu zugezogene Mr. Lockwood seinem Mietsherrn Heathcliff einen ersten Besuch abstattet, wird er von diesem und dessen seltsamen Mitbewohner:innen der Wuthering Heights, der Sturmhöhe, nicht gerade freundlich empfangen. Doch wieso lebt dieser Heathcliff überhaupt zusammen mit dem jungen Hareton, der nicht sein Sohn ist? Als Lockwood sich von einer Krankheit erholen muss, erzählt ihm seine Haushälterin Nelly Dean die ganze unglaubliche Geschichte - und blickt dafür fast 40 Jahre zurück auf die Familie Earnshaw, deren beschauliches Leben durch die Aufnahme des Findelkinds Heathcliff eine dramatische Wendung erfuhr.

Vor etwa einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. In knalligem Rot ist nun Emily Brontës einziger Roman "Sturmhöhe" (Übersetzung: Siegfried Lang) erschienen und selten wirkte eine Farbwahl so angemessen wie in diesem Fall. Denn "Sturmhöhe" ist ein gewaltiger Ritt auf der Klaviatur aller menschlicher Emotionen. Und nicht nur Protagonist Heathcliff sieht auf seinem Rachefeldzug mehr als einmal Rot. Die Ausgabe verzichtet auf den Abdruck des in anderen Editionen üblichen Stammbaums, was Vor- und Nachteil zugleich ist. Zum einen sind die teilweise sehr ähnlichen Namen und Verwandtschaftsverhältnisse so komplex, dass man ohne den Stammbaum doch häufiger durcheinander gerät. Zum anderen nimmt der Stammbaum durch bestimmte Geburts-, Hochzeits- und Todesdaten auch einiges vorweg, wodurch der Überraschungseffekt etwas verpuffen würde.

Zunächst einmal ist es Emily Brontës Sprache, die auffallend schön ist und die Leser:innen unmittelbar teilhaben lässt an den Empfindungen Lockwoods, als dieser sich erstmals der rauen Landschaft der Heights nähert und auf eine unwirtliche Mischung aus Mooren, Heide und einem stetig wehenden Wind trifft. Die schillernden Naturbeschreibungen und die Einsamkeit des Anwesens lassen ihn beglückt ausrufen: "Der wahre Himmel für einen Menschenfeind!" Dass sich dieser für die Beteiligten als wahre Hölle entpuppt, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ahnen.

Äußerst gelungen ist auch die komplexe Erzählstruktur, die beim Erscheinen des Romans im Jahre 1847 - und damit einem Jahr vor Emily Brontës viel zu frühem Tod - als revolutionär galt. So erfahren wir es im informativen Nachwort von Susanne Ostwald. Das Besondere daran ist, dass sich Brontë hauptsächlich auf zwei unterschiedliche Erzählstimmen verlässt: Lockwood in der Rahmenhandlung und eben Nelly Dean in den Rückblicken. Beide schildern völlig subjektiv ihre Eindrücke und man muss ihnen als Leser:in vertrauen, um das ganze Drama für bare Münze zu nehmen. Vor allem mit Lockwood geht die Leserschaft eine Art Symbiose ein, denn wenn dieser den Heights und ihren Bewohner:innen am Ende des Romans einen weiteren Besuch abstattet, sieht er die Figuren eben mit genau denselben Augen wie die Leser:innen. Ein äußerst gelungener Schachzug der Autorin, die in weiteren Verschachtelungen der Erzählstruktur ihr großes Können beweist, indem sie beispielsweise Briefe oder Zitate der handelnden Figuren geschickt in die Erzählungen Nellys einwebt und dadurch für Abwechslung, Spannung und eine permanente Aufmerksamkeit der Leser:innen sorgt.

Ein weiterer Pluspunkt sind die äußerst komplexen und ambivalenten Figuren. So gibt es wohl keinen der Charaktere, der durch sein Fehlverhalten nicht den Zorn der anderen Figuren und der Leser:innen auf sich zieht. Andererseits gelingt es Brontë, dass man dafür Verständnis zeigt, dass man mit den Figuren leidet und sie nicht permanent verurteilt - wie schlimm ihr Verhalten auch sein mag. In dieser Hinsicht sticht besonders Heathcliff hervor, und es ist umso bemerkenswerter, dass Emily Brontë ausgerechnet ihn zum Fixpunkt ihres Romans macht. Heathcliff ist ein klassischer Bösewicht, ein Antiheld ersten Grades, ein

Bewertung vom 14.07.2022
Was geschieht in der Nacht
Cameron, Peter

Was geschieht in der Nacht


ausgezeichnet

Ein namenloses Ehepaar aus New York begibt sich auf eine lange und beschwerliche Reise in den äußersten Norden Europas, um im dortigen Waisenhaus ein Kind zur Adoption abzuholen. Ihr Quartier ist das seltsame Grand Imperial Hotel, dessen Gäste die Eigenheiten des Gebäudes sogar noch übertreffen. So verwundert es nicht, dass das gerufene Taxi sie am nächsten Morgen nicht wie geplant zum Waisenhaus bringt, sondern zum sonderbaren Heiler Bruder Emmanuel. Ist dieser Mann die Rettung für die todkranke Ehefrau? Oder steckt vielleicht ein ganz anderer Plan hinter den Machenschaften des Heilers?

In seinem neuen Roman "Was geschieht in der Nacht", der jetzt bei Liebeskind erschienen ist, erzählt Peter Cameron die Geschichte eines Ehepaares, das sich auf eine düstere Reise begibt, die einerseits die Liebesbeziehung der beiden Protagonisten zu einem versöhnlichen Ende führen und andererseits den Weg für eine neue, elterliche Liebe öffnen soll. Dass letztlich alles ganz anders kommt, spürt man praktisch vom ersten wunderbaren Satz an. "Der Abend senkt sich so beunruhigend abrupt herab wie der hastig fallende Vorhang vor einer Laienaufführung, die fürchterlich danebenging", heißt es dort und da auf den folgenden Seiten wohl so häufig wie in kaum einem anderen Roman die Wörter "dunkel" und "Dunkelheit" auftauchen, ahnt man als Leser:in früh, dass diese Reise durch lichtlose nordische Wälder zu einem unwirtlichen Bahnhof kein fröhlicher Urlaubstrip wird.

Cameron entpuppt sich in diesem fulminanten Beginn, der einen sofort in die Handlung hineinreißt, als Meister der Atmosphäre. Alles wirkt so bedrohlich und gleichzeitig kunstvoll, dass ich mich zeitweise in einem Arthouse-Horrorfilm wähnte. Doch die Horrorelemente entwickeln sich früh zu einem Mysterium, das seinen Höhepunkt mit dem ersten Auftritt des Hotels und seiner seltsamen Mitarbeiter:innen und Gäste erreicht. Eine Hotelhalle, die einer Krypta ähnelt, eine Bar, die nur von einem immer in Bewegung scheinenden Perlenvorhang separiert wird und natürlich die Menschen dort, die mit zunehmender Dauer des Romans wie verlorene Seelen wirken; Heimatlose, die eine so starke Verbindung mit dem Hotel eingehen, dass man fast das Gefühl bekommt, sie seien das Hotel.

Das cineastische Ambiente bleibt auf jeden Fall bestehen, doch nun hatte ich das Gefühl, mich in einem sehr guten David Lynch-Film zu befinden. So hätte es mich nicht gewundert, wenn durch diesen Vorhang plötzlich ein tanzender Kleinwüchsiger getreten wäre oder die im Hotel als Musikerin auftretende Diva Livia Pinheiro-Rima - schon der Name verrät ihren Glamour - sich für das Rückwärtssprechen entschieden hätte.

Neben der Atmosphäre sind es diese verrückten und skurrilen Figuren, die den Charme von "Was geschieht in der Nacht" ausmachen. Die zahlreichen Dialoge, bei denen der Autor übrigens konsequent auf Anführungszeichen verzichtet, strotzen vor Wortwitz, Klugheit und - insbesondere am Ende des Romans - philosophischer Tiefe. Denn Cameron gelingt es trotz aller Düsternis und der Schwere des drohenden Todes der Ehefrau, die Handlung einerseits erstaunlich leicht, spannend und unterhaltsam voranzutreiben und dennoch nicht die Schönheit der Literatur aus den Augen zu verlieren. So heißt es beispielsweise über den schon erwähnten Vorhang, die Perlen reagierten in ihrer Erzitterung "nur auf die Spannung der Welt".

Dass die von Peter Cameron in diesem Roman erschaffene Welt ihre Spannung nicht verliert, liegt vor allem am grandiosen Finale, das mit seiner tiefen Menschlichkeit verblüfft und die ein oder andere Länge, die das Buch in seiner Mitte aufweist, vergessen lässt. Der Autor schreibt sich in Höchstform und geißelt sich selbstironisch, indem er eine wahrlich nervige Nebenfigur komplett demaskiert und lapidar als "Ablenkung" abtut. Im letzten Akt des mittlerweile auch zu einem Beziehungsdrama gewordenen Buches schwingt sich dafür Livia in vorher kaum vermutete Handlungssphären, wobei es ihr beinahe gelingt, dem Hotel als

Bewertung vom 15.06.2022
Das Marterl
Laubmeier, Johannes

Das Marterl


ausgezeichnet

Als sein Vater 2009 mit seinem Motorrad tödlich verunglückte, endete für Johannes Laubmeier mehr als nur seine schon etwas in die Jahre gekommene Kindheit. Er lässt auch A. hinter sich, diese 12.000-Seelen-Kleinstadt in der Nähe von Regensburg, seine Freund:innen, seine Liebe, seine Erinnerungen. Zehn Jahre später kehrt er zurück und stellt sich nicht nur diesem ungeheuerlichen Schrecken der Vergangenheit, sondern auch den vielen inneren und äußeren Konflikten und dem Schmerz, die der abrupte Abschied damals mit sich brachte...

"Das Marterl" von Johannes Laubmeier ist der Debütroman des 1987 in Regensburg geborenen Schriftstellers und Journalisten, der kürzlich im Tropen-Verlag erschienen ist. Laubmeier schreibt darin so souverän und empathisch, dass man sich kaum vorstellen kann, ein literarisches Debüt zu lesen. Wobei man den Begriff "Roman" ein wenig weiter umfasst interpretieren sollte, denn in seiner Gesamtheit ist "Das Marterl" wahrscheinlich eher der Autofiktion zuzuordnen. Was daran biografisch und was fiktional ist, bleibt das Geheimnis des Autors und der Fantasie der Leserschaft überlassen.

Laubmeier erzählt in zwei unterschiedlichen Perspektiven. Zwischen die 2019 spielende Rückkehr mit Ich-Erzähler Johannes mischen sich immer wieder Kindheitserinnerungen des als "Jungen" betitelten Protagonisten, die sich auf das größtenteils sehr liebevolle Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater beziehen. Besonders daran ist, dass man die Unterschiede nicht nur am plötzlich auktorialen Erzähler erkennt, sondern die Texte auch stilistisch deutlich differieren. Während sich der erwachsene Johannes auf die Spurensuche seines Vaters und seiner Vergangenheit begibt und dabei immer wieder auch klug und berührend philosophisch-existenzielle Fragen einfließen lässt, ist man in den Kindheitsepisoden ganz nah am Jungen, man spürt seine Unsicherheit und Naivität, man lacht und weint mit ihm.

Sehr gelungen ist in diesem Zusammenhang übrigens die Coverauswahl, die ein Originalfoto des Jungen Johannes zeigt - geschossen von seinem Vater Hans, als dieser von Frau und seinem als Tiefseetaucher verkleideten Sohn vom Bahnhof abgeholt wird. Liest man diese Szene und legt sich den Schutzumschlag direkt neben das Buch, so erkennt man jedes kleinste Detail und taucht so nahezu unmittelbar in die Handlung ein. Als sei man selbst ein Tiefseetaucher, auf der Suche nach der so lange zurückliegenden Kindheit oder gar nach dem verlorenen Vater. Bewegend und besonders.

Insgesamt strahlt "Das Marterl" eine große Melancholie aus, verharrt dabei aber nicht ausschließlich in Traurigkeit, sondern erlaubt Johannes und seinen Leser:innen auch immer wieder heitere und unbeschwerte Momente. Wenn sich Klosterschüler Johannes und seine Freunde beispielsweise auf den Weg machen, um die Leiche eines verstorbenen Abtes zu sehen. Oder wenn sie ihre eigene Skapunk-Band gründen und dabei den Konflikt mit den patriotischen Jugendlichen der "Danubius Buam" suchen.

"Das Marterl" ist außerdem ein mutiges Buch, denn auf der einen Seite erfordert es überhaupt Mut, sich der Trauer und dem Verlust auf so persönliche Art zu stellen. Hinzu kommt jedoch, dass Johannes Laubmeier nichts beschönigt und nichts verherrlicht. Denn das ganze Ausmaß der Tragik um den Tod des Vaters und Johannes' inneren Konflikt wird den Leser:innen schrittweise und behutsam erst nach und nach wirklich klar.

Gerade zu Beginn des Romans fühlte ich mich stark an das im letzten Jahr erschienene und ebenfalls sehr gelungene "Niemehrzeit" von Christian Dittloff erinnert, in dem der Autor den Spuren seiner kurz hintereinander verstorbenen Elternteile folgte. Wobei Laubmeier stärker als Dittloff auf die eigene Kindheit blickt und er auch dadurch im Buch mehr Raum einnimmt als Dittloff, der sich noch deutlicher auf die Elternfiguren konzentrierte. Gern hätte ich in diesem Zusammenhang tatsächlich noch die ein oder andere Kindheitsepisode mehr gelesen, denn gerade im Bereich zwischen dem Zehnjährigen

Bewertung vom 12.06.2022
Wunderkind Erjan
Ismailov, Hamid

Wunderkind Erjan


ausgezeichnet

Trotz seiner gerade einmal knapp 150 Seiten ist dieser Roman ein Ereignis. Hamid Ismailov erzählt in einer wunderbar gelungenen Mischung aus Tragik und Komik die Geschichte des virtuos Geige spielenden Erjan und dessen Kindheit in der kasachischen Steppe in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre.

Als Rahmenhandlung dient eine Zugfahrt durch die Steppe gegen Ende der 90er-Jahre, auf der der namenlose Ich-Erzähler den 27-jährigen Geigenspieler trifft. Doch Erjan sieht aus wie ein Zwölfjähriger und erst nach einem Blick in seinen Pass kann er sein Gegenüber von seinem Alter überzeugen. Mit zwölf Jahren hörte Erjan nämlich urplötzlich auf zu wachsen, just nachdem er einen Sprung in einen durch Nukleartests entstandenen Stausee wagte. In der Folge erzählt Erjan seinem Begleiter auf der Zugfahrt seine Familiengeschichte.

Hamid Ismailov gelingt es in meinen Augen ganz hervorragend, die Leser:innen sowohl zum Lachen als auch zum Weinen zu bringen. Denn der historische Fakt, der dieser erzählten Kindheit zugrunde liegt, ist ein ungeheuerlicher: Von 1949 bis 1989 wurden in besiedelter Landschaft der Steppe insgesamt 468 Kernexplosionen ausgelöst, davon 125 überiridische. Die Sprengkraft übertraf in der Summe die der Hiroshima-Bombe um das 2500-fache. Darüber informiert das Buch in einem kleinen Auszug vor Beginn der Geschichte.

Trotz dieser nahezu unfassbaren Grausamkeit wirkt "Wunderkind Erjan" erstaunlich humorvoll, bisweilen sogar beschwingt. Die Übersetzung aus dem Russischen von Andreas Tretner, die auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, ist hervorragend, denn Tretner gelingt es, durch zahlreiche Wörter und Gedichte aus dem Kasachischen eine sehr hohe Authentizität zu schaffen.

Ein besonderer Erzählkniff ist, dass Erjan auf der Zugfahrt irgendwann einschläft und sich der Ich-Erzähler somit selbst zusammenreimen muss, wie Erjans Geschichte weiterging. Hier überwiegen die tragischen Ereignisse, denn der Erzähler ist offenbar ein Schwarzseher - oder nur ein Realist?

"Wunderkind Erjan" ist ein großartiger kleiner Roman, ein Märchen aus dem Realismus, eine Parabel, vielleicht eine Art Anti-Blechtrommel. Was wäre das für ein Orchester, wenn Erjan an der Geige und Oskar Matzerath auf der Blechtrommel sich ein Stelldichein gäben und den Erwachsenen und den Grausamkeiten der Welt lärmend-virtuos gegenüberträten und ihnen ein "Hört uns an!" entgegen schmetterten.

Ausdrücklich zu loben ist auch die wunderschöne Gestaltung des Buches aus der "Friedenauer Presse". Ich wünsche dem Roman viele Leser:innen - und den Leser:innen selbst, dass sie ihn entdecken mögen.

Bewertung vom 07.06.2022
So tun, als ob es regnet
Wolff, Iris

So tun, als ob es regnet


ausgezeichnet

Sie heißen Jacob, Henriette, Vicco und Hedda. Vier Menschen, die mehr oder weniger mit der Geschichte Siebenbürgens verknüpft sind, dieser vor allem aus der Schauerliteratur bekannt gewordenen Region im heutigen Rumänien. Sie sind die Hauptfiguren in Iris Wolffs "So tun, als ob es regnet", einem Roman in vier Erzählungen aus dem Jahre 2017, den Klett-Cotta nun als Taschenbuch neu aufgelegt hat.

Auf gerade einmal 160 Seiten gelingt es Wolff dabei eindrücklich, ein ganzes Jahrhundert so zu entfalten, dass der Leser nicht nur vier unterschiedliche Generationen kennenlernt, sondern ganz nebenbei auch noch unheimlich viel über die Geschichte Siebenbürgens erfährt. Dass Iris Wolff selbst gebürtig aus dieser Region stammt, merkt man dem Werk dabei durchaus an, denn die Empathie und Emotionalität, die die Autorin dabei entwickelt, lassen sich auf fast jeder dieser Seiten entdecken.

Die Sprache ist dabei beglückend poetisch, ein regelrechtes Fest - und das, ohne verkopft zu wirken. Insbesondere die erste Erzählung "Budapest?", die den Soldaten Jacob im Jahre 1916 ins umkämpfte Kriegsgebiet Siebenbürgen begleitet, ist in dieser Hinsicht der Höhepunkt des Buches. Wolff spielt mit der Sprache und den Leser:innen und schafft es sogar, die Schrecken des Ersten Weltkrieges sprachlich so poetisch und elegant darzustellen, dass es einem fast den Atem raubt. Sätze wie "Das Zischen der Raketen vermischte sich mit dem Heulen der Wölfe" stehen sinnbildlich für die Melange aus Leben und Tod oder Grauen und Schönheit. Gerade diese erste Erzählung vereint sowohl bei den Figuren, als auch den Ereignissen so viele großartige Szenen, dass man mit dem Staunen kaum hinterherkommt.

Die zweite Erzählung "Elemérs Garten" begleitet Jacobs Tochter Henriette im Jahre 1933 und strahlt bis zum bedrückenden Finale eine etwas größere Leichtigkeit aus. Liebevoll spinnt Wolff hier viele Andeutungen aus dem ersten Teil zu einer Protagonistin zusammen, die das Buch wohl wie keine andere der Figuren bis zum Ende prägen wird. Zudem nimmt sie Bezug auf das rumänische Sprichwort, dem das Buch seinen Titel verdankt. Wenn jemand "so tut, als ob es regnet", stellt sich bei dieser Person eine gewollte oder ungewollte Abwesenheit ein, in der dieser Mensch kaum ansprechbar scheint.

Die 1969 spielende "Eine Zitrone im All" begeistert vor allem durch die Ambivalenz des Protagonisten Vicco, seinerseits Henriettes Sohn. Vicco ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie gut Iris Wolff bis in die Nebenfiguren hinein die Figurenkonzeption gelingt. Denn Vicco ist ein Freiheitsliebender mit Angst vor der Freiheit. Ein angepasster Rebell. Ein melancholischer Weiberheld. Ein Muttersöhnchen, das sich vor seiner Mutter fürchtet und sich für sie schämt. Ein Philosoph, der nur Perry Rhodan liest. Ein behüteter Verlassener.

Die letzte, in der Gegenwart angesiedelte Erzählung "Wölfe und Lämmer" ist die einzige, die nicht in Siebenbürgen spielt, sondern auf der kanarischen Insel La Gomera. Viccos Tochter Hedda ist dorthin ausgewandert, und auch ihre Eltern haben Siebenbürgen längst verlassen und leben mittlerweile in Deutschland. Klug und berührend gelingt es Iris Wolff in ihr, die zentralen Motive des gesamten Buches - Träume, Heimat und Identität - noch einmal hervorzuheben, um sie im nächsten Moment von den Leser:innen fortzureißen in diesem Strom der Melancholie, der dem ganzen Werk als wiederkehrendes Merkmal folgt. Vicco ist schwer an Krebs erkrankt und träumt nicht einmal mehr siebenbürgisch. Und auch die kinderlose Hedda scheint keine große Verbindung mehr zur Heimat ihrer Familie zu haben...

"So tun, als ob es regnet" ist ein kleines Meisterwerk, in dem es der Autorin wegen ihrer wunderbaren Sprache und der hervorragend ausgearbeiteten Figuren gelingt, dass man sich diesen trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Auftritte stets nahe fühlt. Das Buch vereint große Themen wie Identität, Freiheit, Tod, Leben, Familie, Heimat, Politik und Krieg und verdichtet diese so stark, das