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Benutzername: 
ninchenpinchen
Wohnort: 
Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 86 Bewertungen
Bewertung vom 11.09.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


sehr gut

Drei Jungen und ein Hund

Manchmal sehe ich Dinge, die nicht da sind. Im Roman von Alex Schulman gibt es keine Berufe, dafür wird umso mehr geraucht. Freunde oder sonstige Besucher, bzw. andere Menschen, existieren auch nicht oder kaum. Also höchstens unwesentlich.

Es gibt aber das Sommerhaus am See; Vater, Mutter, Benjamin, Pierre, Nils & Molly, den Hund.
Benjamin ist die Hauptfigur, tritt aber nicht als Ich-Erzähler auf. Die Interaktion der Personen fand ich oft seltsam und dennoch nachvollziehbar.

„Die Überlebenden“ beginnt mit dem Ende. Die Asche der Mutter soll unten am See beim Sommerhaus verstreut werden. Das war ihr letzter Wille und das stand in ihrem langen Abschiedsbrief. Zu dem Zeitpunkt lebte der Vater schon längst nicht mehr. Und die Brüder waren sich fremd geworden und hatten kaum noch Kontakt. Nun aber fahren sie gemeinsam, notgedrungen, wieder zum Ort ihrer Kindheit, wo sie zwanzig Jahre nicht mehr waren.
Die ungeraden Kapitel mit Uhrzeit erschließen sich rückwärts im zwei-Stunden-Takt, im zweiten Teil sind sie gerade, aber immer noch rückwärts in die Vergangenheit gerichtet.

In den Episoden dazwischen erleben wir besondere Vorkommnisse, zum Teil sehr intensive, auch sehr grausame, die kaum auszuhalten sind. Hier läuft das Geschehen vorwärts, es sind aber auch Erinnerungen eingestreut.
Was machen drei Brüder und ein Hund da draußen an einem Sommerhaus am See? Sie schwimmen, sie laufen, sie angeln, sie gehen auf Erkundungstour in die umliegenden Wälder.

Ein furchtbarer Unfall passiert, umrahmt von anderen Unfällen, die aber weniger schwerwiegend sind.

Fazit: Ob der Trick, der hier angewandt wird, um dem Roman Leben und Intensität einzuhauchen, legitim ist, das mag jeder Leser individuell entscheiden. Ich jedenfalls war durchaus beeindruckt, hätte an ganz anderer Stelle Mystisches, Verdecktes vermutet. So vergebe ich verdiente vier Sterne.

Bewertung vom 01.07.2021
Von hier bis zum Anfang
Whitaker, Chris

Von hier bis zum Anfang


ausgezeichnet

Wie gut, dass sie nicht weiß …

Da schreibt ein Engländer einen amerikanischen Coming-of-Age-Roman, wie er amerikanischer nicht sein könnte. Denn Chris Whitaker dürfte ein waschechter Engländer sein. Am Anfang war ich so irritiert, las also nochmal den hinteren Klappentext – und ja – da steht Cape Haven, Kalifornien. Der Ort, bzw. diese Küste ist fiktiv, denn ich fand kein Cape Haven in Kalifornien. Aber ich folgte Chris Whitaker literarisch nach Cape Haven und zwar begeisterter von Seite zu Seite.

Aber, jetzt geht es von HIER BIS ZUM ANFANG. Wir begleiten Duchess, die Kindfrau, die so gern ein Outlaw sein möchte, ein ganzes Jahr lang. Als wir mit der Lektüre beginnen, ist sie dreizehn Jahre alt, am Ende ist sie vierzehn. Mit etlichen Ortswechseln, da muss sie durch. Und nicht nur da durch.

Die schöne Duchess sorgt hingebungsvoll für ihren kleinen Bruder Robin, der ist sechs Jahre alt. Und Star, die ebenso schöne Mutter, die zwar ihre beiden Kinder innig liebt, ist aber oft unfähig, für sie zu sorgen. Ständig ist das Geld knapp, so singt Star in einer Bar, alle Männer wollen ihr an die Wäsche, aber sie hat andere Vorstellungen. Was für welche, das erfahren wir im Laufe des Romans. In Cape Haven wohnen allerlei zwielichtige männliche Gestalten. Man weiß nicht so recht, was man von denen halten soll, wer ist gut und wer ist böse?

Dreißig Jahre zuvor hat Vincent King Stars kleine Schwester Sissy getötet und sitzt dafür im Knast. Dort bringt er noch einen um, in Notwehr. Nun kommt Vincent King wieder aus dem Knast und ganz Cape Haven gerät aus den Fugen.

Die gute Seele an dieser Küste ist Chief Walker, der furchtlose, aber im Alter kranke Polizist. Vincent King war und ist sein bester Freund, von Kindestagen an, was die ganze Sache für beide nicht einfacher macht.

Die Charakterentwicklung der Figuren ist so wahnsinnig gut gelungen, dass man meinen könnte, man sei ihnen oft in natura begegnet. Ich sehe sie regelrecht vor mir: Duchess, die keine Gefühle zulassen will, weil sie meint, dass es sie schwächt. Ihren kleinen Bruder Robin, den Ängstlichen. Chief Walker, den Guten, der leider mit der Liebe seines Lebens keine rechtzeitige Erfüllung fand. Hal, den Großvater, der früh davon abgehalten wurde, seinen Leuten näher zu kommen. Wir lernen auch fantastische Frauenfiguren kennen: Martha, die Engagierte, Fleißige und Polly, die Unkonventionelle, Warmherzige.

Das Ganze eingebunden in gelbe Leinenstruktur mit wunderbarem Cover und Lesebändchen, so fein gestaltet, wie es nur sein kann.

Fazit: Gern wäre ich noch länger in Cape Haven verblieben und hätte Duchess weiter in ihrer Entwicklung beobachtet. Alle Krimiliebhaber, die es gern literarisch wertvoll haben, die kommen hier voll auf ihre Kosten. Und können hier ein ganzes Buch voll vom harten amerikanischen Traum kosten. 5 Sterne!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.05.2021
Letzte Ehre
Ani, Friedrich

Letzte Ehre


sehr gut

Zersplitterte Frauen

Der Roman „Letzte Ehre“ von Friedrich Ani unterteilt sich in drei verschiedene Etappen. Drei Geschichten über Frauen, die geschändet, missbraucht, misshandelt und erschossen werden. Ja, ich weiß, dies sind vier Delikte, aber manche bekommen‘s mehrfach. Früher oder später.

Das Kommissariat bietet die Rahmenhandlung mit der Ich-Erzählerin Fariza Nasri, KOK, Kriminaloberkommissarin. Hin und wieder kommen auch die zwei Kollegen Farizas zu Wort: Jennifer Odoki und Dennis Kalk.

Am Anfang war ich etwas enttäuscht, hatte mir von Teil 1 mehr Ausführlichkeit versprochen. Das ist der Teil, der auf dem Klappentext innen und außen erwähnt wird. Da geht es um das Verschwinden der Schülerin Finja Madsen. Aber offensichtlich fand Ani diesen Fall nicht romanfüllend genug. Oder ihm lagen noch andere Fälle auf dem Herzen, die ihrerseits nicht romanfüllend gewesen wären.

Viele männliche Nebenfiguren, noch lebend oder verstorben, wie Vater und Sohn Barig, Polizei-Kollege Marco Hagen oder der Schüler Ben Tessler spielen oder spielten unrühmliche Rollen. Manche davon unbeabsichtigt. Oder sie sind schlicht überfordert mit dem, was das Leben ihnen abverlangt.
Auch einigen Frauen gäbe es allerhand vorzuwerfen, positionieren sie sich doch nicht deutlich oder nicht rechtzeitig genug. Oder sind sie bloß „verpuppt in Konkons aus Feigheit“? (Seite 190)

Gesamt ist der Roman extrem düster. Dazu passen die traurigen Gesänge von Townes van Zandt, der öfter erwähnt wird. (z. B. auf den Seiten 89 u. 222)

Richtig glückliche Figuren findet man also nicht. Fariza Nasri schaut dauernd in den Spiegel, ist unzufrieden, gelegentlich sehr unachtsam, traut sich selbst nicht und säuft, um ihr Unglück zu ertragen. In ihrer Kindheit und Vergangenheit ist so einiges schief gelaufen, das wird aber nur bruchstückhaft erwähnt. Es bleibt also so einiges offen.

Halt geben ihr ihre Freundinnen Sigrid und Catrin. Alle Drei treffen sich regelmäßig, bei einer zu Hause oder im Lokal. (Da ging das offensichtlich noch ohne "Zertifikate", seufz.)

Im Mittelteil lernen wir Ines Kaltwasser besser kennen. Auch sie ist eine zutiefst verstörte Seele mit vielen, vielen unverarbeiteten Altlasten. Fariza Nasri kann das zum Teil sehr gut nachvollziehen, fast zu gut.
Lange habe ich gerätselt, was das Cover mit dem Inhalt zu tun haben könnte. Aber das erklärt sich erst im dritten Teil. Seien Sie gespannt!

Ich hatte einmal die Freude und die Ehre (keine letzte Ehre, zum Glück!) Friedrich Ani persönlich erleben zu dürfen. Er brillierte mit einer bayrischen Mundart-Erzählung bei der Eröffnung des 4. Krimimarathons Berlin-Brandenburg im Jahr 2013.

Fazit: Ani ist ein herausragender & sehr ungewöhnlicher Erzähler, der möglicherweise nicht jeden Geschmack trifft. Aber das ist auch gut so. Ich hab den Roman auf jeden Fall kaum aus der Hand legen können und am Stück gelesen. Aber die Stimmung hebt er nun mal nicht. Dennoch: viel mitnehmen konnte ich trotzdem! ****

Bewertung vom 02.05.2021
Girl A
Dean, Abigail

Girl A


ausgezeichnet

Außer Kontrolle

Nun ist die letzte Seite von Girl A gelesen, inklusive Danksagung und die Rezension soll beginnen. Aber wie? Diesem besonderen Thriller von Abigail Dean gerecht zu werden, das ist eine Herausforderung, die wirklich selten vorkommt. An sich müsste ich fast alle anderen von mir rezensierten Bücher um einen Stern abwerten, damit die fünf Sterne für dieses ihre volle Berechtigung entfalten.

Girl A ist das zweitälteste Kind der gesamt sieben Geschwister. Sie heißt Alexandra (Lex) Gracie und ist fünfzehn Jahre alt, als ihr ENDLICH die Flucht gelingt. Die so schwierige Flucht aus dem Haus des Grauens, Moor Woods Road 11. Als die Familie dies Haus erwirbt und dahin umzieht, gerät die vor dem Umzug schon grenzwertige Situation völlig außer Kontrolle. Grenzwertig heißt in diesem Fall: Es wurde nicht geputzt, nicht gewaschen und regelmäßiges Essen gab es nicht! Siehe Seite 198: „[…] die schlimmsten Leiden des Hauses. Der Teppich unter meinem Bett war weich und verfilzt, und Schimmelgeschwüre waren bis hoch zur Matratze gewuchert. Unter dem Kinderbett lagen angefaulte Strampler, die von jedem von uns getragen und nie gewaschen worden waren.“

Dennoch war dieser Prozess schleichend. Richtig gut war sie nie, die Situation dieser Familie. Zu viele Kinder in zu kurzer Zeit, eine zutiefst unterwürfige Mutter und ein Vater, zunehmend durch Erfolglosigkeit vom Irrsinn gezeichnet. S. 241: „Im Lifehouse rackerte Vater sich vor leeren Bänken ab. Eine Gemeinde von Fliegen, unfähig, den Weg zur Tür zu finden, ging allmählich an den Fenstern zugrunde.“ Und S. 304: „Graue Haarbüschel klebten ihm an der Stirn. Die Mundwinkel sackten in die Hängebacken ab. Ein Geruch entströmte ihm, nicht bloß aus dem Mund, sondern von unter der Haut, als hätte sich dort etwas zum Sterben zurückgezogen.“

Die Kapitel sind nach den Kindern unterteilt: Girl A ist Alexandra, genannt Lex. Boy A ist Ethan. Delilah, die Schöne, ist Girl B. Gabriel, der Kurzsichtige ist Boy B. Noah ist Boy D. Evie, Alexandras überaus geliebte Schwester und Zimmergenossin ist Girl C. Daniel hat kein eigenes Kapitel. Boy C scheint es nicht zu geben und Daniel, als der Nachfolger, käme nach Noah.

Bevor der Roman fertig gelesen ist, kommt noch ein zusätzlicher Schock auf, lässt einem keine Ruhe und man liest ein bestimmtes Kapitel nochmal und wieder und wieder.

Dieser Thriller hat es wirklich in sich und man fragt sich – relativ spät – warum lesen wir solche Bücher? Weil wir uns versichern wollen, dass es uns besser geht? Weil uns das Morbide fasziniert? Oder sind wir bloß Spanner, die durch Schlüssellöcher lugen? Das muss wohl ein jeder mit sich selbst abmachen. Mich jedenfalls wird dieser schleichende Prozess, dessen Zeuge ich nun wurde, lange Zeit nicht mehr loslassen.

Wie reagieren wir wohl selbst bei absoluter Überforderung? Oder haben die meisten von uns nur schlicht das Glück, solches Unheil nicht anzuziehen?

Mich würde noch interessieren, ob eine reale Geschichte als Vorlage gedient hat? Jedenfalls konnte ich nichts dergleichen entdecken. Für Hinweise wär ich dankbar.

Fazit: Wer so viel allerfeinste Minuslektüre ertragen kann, dem sei dies Buch ans Herz gelegt. Hier passt einfach alles vom genialen Cover bis hin zur anspruchsvollen Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Hochverdient hierfür die fünf Sterne. Mehr gibt’s ja leider nicht.

Bewertung vom 20.04.2021
Der Junge, der das Universum verschlang
Dalton, Trent

Der Junge, der das Universum verschlang


ausgezeichnet

Vom toten blauen Zaunkönig

Das schräge, farbenfrohe dicke Buch mit seinen 560 Seiten fällt schon allein durch das prächtig gestaltete Cover, farbige Vorsatzblätter und ein wirklich prachtvolles Gesamt-Design auf. Und ich liebe gebundene Bücher mit Lesebändchen! Zwar ist der blaue Vogel auf dem Cover eher eine Meise als ein Zaunkönig(?), macht aber nichts.

Trent Dalton, der Autor, stammt aus Australien und da ich relativ selten Bücher aus Australien in Händen halte, ist dies in jedem Fall sowieso schon etwas ganz Besonderes. Alexander Weber hat kongenial übersetzt und ein großes Lob gebührt auch ihm.

Die möglicherweise autobiographische Geschichte des Autors, beginnt in den achtziger Jahren in Brisbane. Eli Bell erzählt in der Ich-Form, am Anfang ist er acht Jahre alt und sein Bruder August, genannt Gus, ist neun. Die Brüder leben zunächst mit ihrer Mum und ihrem geliebten Stiefvater Lyle (Ja, der ist hier ausnahmsweise mal der Gute!) in einem kleinen geerbten Häuschen, das Lyle von seinen Eltern bekommen hat. Wenn Mum und Lyle mal keine Zeit haben, weil sie Drogendeals einfädeln müssen, dann passt Slim, der engagierte Babysitter, auf die Brüder auf. Slim ist ein Ausbrecherkönig, soll einen Taxifahrer ermordet haben, aber er liebt die Kinder und sie lieben ihn. Der „richtige“ Vater der Brüder, Robert Bell, wird später auch noch eine größere Rolle spielen.

In den etwa zehn Jahren, die diesen Erzählbogen umspannen, da passiert unheimlich viel. Schönes, Schräges und auch sehr Schreckliches, was die Brüder in ihrer starken Gemeinschaft relativ gut verkraften. Manches erinnert an einen Episodenroman, obwohl immer dieselben Figuren eine Rolle spielen, wenn sich auch die Unterkünfte und die Betreuer im Laufe der Zeit ändern.

Eli, der unerschrockene Gefahrensucher, neigt oft dazu, sich in besonders katastrophale Situationen hinein zu manövrieren, wo er sicher am Anfang nicht abschätzen kann, wo das hinführt.
Elis Bruder Gus spricht nicht, obwohl er sprechen könnte. Meistens malt er Worte und Sätze in die Luft, die aber nur Eli erkennt. Oder die Brüder verstehen sich ganz ohne Worte.

Hin und wieder markierte ich Stellen mit Alben, Songs oder Fernsehserien, um mich in die Zeit hineinzuversetzen, in der der Roman spielt. Z. B. wird oft von der US-Amerikanischen Seifenoper „Days of Our Lives“ gesprochen, die startete tatsächlich im Jahr 1965 und wird bis heute(!) 2021 produziert.

Mit den auf Seite 114 erwähnten Aga-Kröten (Cane Toad) habe ich mich auch beschäftigt. Zitat: „[…] als ich sechs Aga-Kröten in den Gefrierschrank gesteckt habe, damit sie dort eines gnädigen Todes starben, und die zähen unansehnlichen Amphibien stattdessen in ihrem Tiefkühlsarg überlebten und Lyle, als er die Tür öffnete, um sich einen Feierabenddrink zu holen, auf seinen Eiswürfeln hockend anglotzten.“ – Einst, 1935, als Zuckerrohrkäfer-Vernichter ins Land geholt, hat sich diese giftige Krötenart in Australien derart vermehrt, dass inzwischen auf jeden Einwohner 420 Tiere kommen(!). Es hatte also fatale Folgen, das Ökosystem durch Menschenhand zu verändern.

Eli träumt davon Kriminalreporter bei der Courier-Mail zu werden, dort arbeitet auch die von ihm angebetete Caitlyn. Er möchte auch ein Haus im „Gap“ haben. Darüber unterhält er sich mit seinem Schulfreund und –feind Darren, der gibt seinen Senf dazu, S. 76: „Du musst ’nen Uniabschluss machen und dann bei irgendeinem Arschloch um ’nen Job betteln, damit er dich dreißig Jahre rumkommandiert, und du musst jeden Penny sparen, und wenn du endlich genug zusammengekratzt hast, gibt’s im Gap kein Haus mehr, das du kaufen kannst!“

Fazit: Wer Schräges und gleichermaßen Unterhaltsames lesen möchte, was teils krass gegen den Strich gebürstet ist, der ist hier genau richtig. Ein paar Lebensweisheiten und Weiterbildung gibt’s gratis dazu, denn wisst ihr, S. 433: […] der Sinn unseres Lebens besteht im Grund darin, das zu tun, was richtig ist, nicht das, was einfach ist.“ Fünf Sterne!

Bewertung vom 25.03.2021
Enriettas Vermächtnis
Madsack, Sylvia

Enriettas Vermächtnis


ausgezeichnet

Eine bizarre Konstellation

Sylvia Madsacks Roman „Enriettas Vermächtnis“ spielt in der Gegenwart, allerdings gänzlich ohne Corona. Denn die Protagonisten halten sich überwiegend in Hotels, Restaurants und Cafés auf, die natürlich alle geöffnet haben und die ihre Gäste mit ihren zahlreichen Spezialitäten herzlich willkommen heißen. Überhaupt spielen Essen & Trinken eine große Rolle.

Die Schauplätze des Romans sind Buenos Aires, Zürich und Salzburg. Besonders Salzburg und Umgebung wird so verheißungsvoll beschrieben, dass frau am liebsten sofort dorthin reisen möchte.

Worum geht es nun? Enrietta da Silva aus Argentinien, die titelgebende Figur ist hochbetagt verstorben und hinterlässt ein großes Vermögen an Bargeld und Immobilien, die aber veräußert werden sollen. Laut Testament beerben sie hälftig eine jüngere ehemalige Schauspielerin aus Salzburg, Jana, und ein Arzt aus Argentinien, Emilio. Die beiden kannten sich zuvor nicht. Der Schweizer Jurist und Testamentsvollstrecker Andreas Leuthard erweist sich nicht nur als hochprofessionell, sondern auch als psychologisch sehr versiert.

Als Jana und Emilio sich in der Kanzlei kennenlernen und später näher kommen, taucht Enriettas leiblicher Sohn auf, der im Testament nicht erwähnt wurde und von dem auch der Anwalt und Jana nichts wussten.
Armando da Silva ist überaus attraktiv, gilt als vermögender Verbrecher und ihm stehen nach Schweizer Recht außerdem drei Viertel des Riesenerbes zu. Das also ist die Ausgangssituation dieser bizarren Geschichte, deren Handlung und Charaktere natürlich frei erfunden sind. So steht es hinten und wird wohl gerade deshalb nicht stimmen.

Ich habe das Buch, was ich unbedingt haben wollte, innerhalb von vier Tagen verschlungen. Sehr untypisch für mich. Das Einzige, was mich gestört hat, ist, dass die Protagonisten sich sehr schnell sehr viel näher kommen, als es in der Realität sicher üblich ist.

Das Cover, die Wahl der Farben samt Haptik dieses wunderbaren Buches empfinde ich als überaus gelungen. Schrift und Zeilenfall stehen im perfekten Verhältnis und auch das von mir immer sehr geschätzte Lesebändchen ist vorhanden.

Fazit: Ja, ich bin neidisch auf die Protagonisten. Nicht weil sie viel Geld haben oder bald bekommen, sondern weil sie sich frei bewegen können, denn „Leben bedeutet, zu tun, nicht, zu unterlassen.“ (Seite 220) Viereinhalb Sterne.

Bewertung vom 25.02.2021
Die Mitternachtsbibliothek
Haig, Matt

Die Mitternachtsbibliothek


sehr gut

Wege ins Diesseits

Oder welche Träume sind meine eigenen?

Es gibt Tage, an denen alles schief geht. Nora hat einen Kater namens Voltaire und sie liebt Volts sehr. Als er plötzlich tot am Straßenrand liegt und ihr Chef ihr auch noch unerwartet kündigt, ist sie sehr verzweifelt. Ihre beste Freundin Izzy ist weit weg, in Australien, die Eltern sind tot und zu ihrem Bruder Joe ist der Kontakt abgebrochen. Noras Nachbar, Mr. Banerjee, braucht sie auch nicht mehr, denn der Apothekenjunge bringt seine Tabletten jetzt zu ihm ins Haus. Das hat Nora vorher gemacht. Und Leos Mutter Doreen sagt seine Klavierstunden nun generell ab, weil Nora zur verabredeten Zeit gar nicht zu Hause war. Noras Verzweiflung nimmt überhand und so will sie sich umbringen, mit Tabletten. Aber sie stirbt nicht.

Nora landet in einer Zwischenwelt, in der Mitternachtsbibliothek und Mrs. Elm, ihre alte Schulbibliothekarin erwartet sie dort. In den Regalen stehen die Bücher mit den alternativen Leben, die Nora hätte führen können …
Nun rutscht Nora zunächst in die Träume der anderen. Da gibt es Dan, den sie heiraten wollte, aber sie hat es sich in letzter Minute anders überlegt. Dans Traum war eine Kneipe auf dem Land mit sich selbst als bestem Kunden. Izzys Traum war ein Leben in Australien.

„Nora erkannte, dass die anderen Menschen, egal wie ehrlich man zu ihnen ist, die Wahrheit nur dann sehen, wenn sie nah genug an ihrer eigenen Realität liegt.“ Seite 269
Es gibt unzählige Begegnungen in unzähligen Leben und es ist schon ein Kunststück des Verfassers, dass man als Leser stets den Überblick behält. Das kommt alles sehr leichtfüßig daher, sehr kreativ und manchmal schräg gegen den Strich gebürstet.

Einzig der Referenzschwule, Noras Bruder Joe, hat mich extrem gestört, dafür gibt es einen Stern Abzug! So was kann ich echt nicht leiden, man gewinnt ja fast den Eindruck, als gäbe es ohne Schwule, Lesben oder Transgender kein Geld mehr für Publikationen.

Fazit: Ansonsten sind die Figuren und die jeweiligen Sets hervorragend ausgearbeitet, man kann sich bestens in die jeweiligen Situationen einfühlen, erlebt alles hautnah mit. Ein mögliches, sehr berührendes Ende kann man sich ausmalen. Ungewöhnliche und sehr empfehlenswerte Lektüre, bei der man sehr viel lernen kann, wenn man auf die wirklich zahlreichen angebotenen Themen aufspringt.

Bewertung vom 15.02.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


gut

Ausweglos

Cho Nam-Joo schrieb „Kim Jiyoung, geboren 1982“.

Jiyoung kommt aus einer Familie aus Korea mit weiteren fünf Personen: Vater, Mutter, Großmutter, ältere Schwester, jüngerer Bruder. Sie ist gut organisiert, bravourös in Schule und Universität, pflegt sehr ihr Äußeres, schafft ihre Abschlüsse mit guten Noten. Dennoch tut sie sich schwer, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Die Firmen wollen keine Frauen. Spätestens am Ende des Buches versteht man auch warum. Dazu passt dieses Zitat, Seite 111: „Wenn Frauen zu klug sind, fürchten Firmen, dass sie sich mit ihnen nichts als Ärger ins Haus holen. Sie sind das beste Beispiel dafür, meine Teuerste. Sie sehen doch, was Sie uns für Scherereien machen.“

„Die Republik Korea ist unter den OECD-Mitgliedern das Land mit dem größten Lohngefälle zwischen Männern und Frauen. Laut einer Statistik aus dem Jahr 2014 verdienen Frauen OECD-weit umgerechnet 844 Dollar auf 1000 Dollar Einkommen der Männer, in Korea sind es lediglich 633 Dollar.“ Seiten 144, 145. OECD = Organization for Economic Co-operation and Development, mit 37 Mitgliedstaaten.

Also hören die Frauen dann auf zu arbeiten, sobald ein Kind unterwegs ist. Alle Mühsal mit Schule, Uni und nervenaufreibender Arbeitssuche umsonst. Kann dann später das Kind mehr oder weniger alleine bleiben, finden sich für die meist akademischen Mütter nur noch Jobs wie etwa Eisverkäuferin. So sagt eine Eisverkäuferin zu unserer Protagonistin, als diese sich nach der Nachfolgearbeit erkundigt: „Ich habe auch einen Universitätsabschluss.“ S. 190. Deshalb dreht Jiyoung durch. Verständlich. Puh.

Einige weitere Zitate möchte ich noch erwähnen, die mir ungewöhnlich erschienen. Jiyoungs Eltern streiten sich am Frühstückstisch und die Mutter verschafft sich Gehör, S. 121: „Was sagst du da Dämliches? [Zum Vater] In welchem Jahrhundert leben wir denn? [Zu Jiyoung] … pfeif auf den Anstand. Tobe dich aus! Probiere dich in allem aus! Verstanden?“

S. 158,159: Daehyon, Jiyoungs Ehemann zu ihr: „Damit wir das lästige Geschwätz los sind, lass uns ein Kind machen und großziehen, solange wir noch so jung sind. […] Er sagte das so unbekümmert, als ginge es darum, eine norwegische Makrele zu kaufen oder ein Puzzle mit Gustav Klimts Bild >Der Kuss< zusammenzusetzen und an die Wand zu hängen.“

Jiyoung muss dann ihre so mühselig gesuchte Arbeit kündigen und denkt dann, S. 170: „Es war immerhin ihr erster Job gewesen, ihr erster Schritt in die Geschäftswelt. Man sagt, die Arbeitswelt sei ein Dschungel, und Freunde, die man nach dem Studium kennenlernt, seien keine wahren Freunde.“

Das Buch liest sich eher wie ein Sachbuch mit Romaneinlagen. Zahlreiche Fußnoten weisen auf diverse Statistiken hin. Zurück bleibt ein schaler Geschmack. Frau hat zwar viel erfahren über die koreanische Lebensweise und das Buch liest sich flüssig weg, aber wirklich Spaß macht das nicht. Es hat sicher durchaus seine Daseinsberechtigung, aber von allen asiatischen Büchern, die ich bisher gelesen habe, hat mir dies am wenigsten gefallen.

Ausweglos eben. Punkt. Drei Sterne ***

Bewertung vom 15.02.2021
Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1
Mohlin, Peter;Nyström, Peter

Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1


sehr gut

Heimspiel

John Adderly war undercover im Einsatz in Baltimore und entkommt nur knapp dem Tod, als der Chef des Drogenrings bemerkt, dass mit seinen Leuten ganz offensichtlich was nicht stimmt. Ein anderer Undercover-Agent rettet ihm das Leben, beide müssen fliehen, sind aber schwer verletzt. Erst im Nachhinein, im Krankenhaus, erfahren beide von ihren jeweiligen Einsätzen und freunden sich an. Sie verbringen nach ihrer Genesung einige Zeit zusammen im Safehouse, müssen sich danach aber trennen und dürfen aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt mehr zu einander haben.

Dieses Intro ist schon mal sehr ungewöhnlich und macht neugierig, wie es wohl weitergeht mit dem Protagonisten, zumal John unbedingt in sein Heimatland Schweden zurück möchte, was sich bei seinen Leuten beim FBI nur sehr schwer und mit grober Erpressung durchsetzen lässt.

Aber er schafft das und ermittelt nun in Schweden, in Karlstad, wo ein Cold Case erneut aufgerollt wird, in dem damals und – immer noch – Johns Bruder als Verdächtiger in einem vermuteten Mordfall eine unglückliche Hauptrolle spielt. Aber da John eine neue Identität hat, weiß niemand, dass der Verdächtigte sein Halbbruder ist.
Der Kriminalroman spielt in zwei Zeitebenen: 2009 und 2019. Auch die Kapitel wechseln zwischen Johns Sicht und der Sicht der Eltern der damals mutmaßlich ermordeten jungen Frau, deren Leiche aber damals nie gefunden wurde.

John ist in USA aufgewachsen, sein Vater hat ihn nach der Scheidung der Eltern mitgenommen, während Billy, sein Halbbruder in Schweden bei der Mutter verblieben ist. Auch die finanziellen Verhältnisse der gespaltenen Familie sind extrem unterschiedlich. John ist reich, sein Vater hat viel Geld gemacht im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, während die Mutter und Billy eher im Elend leben. John hatte auf jeden Fall beschlossen, egal, ob arm oder reich, sich nie von Geld lähmen zu lassen, wie sein Vater, dessen größte Angst der Verlust seines Vermögens war. (Seite 100)

Es gibt überhaupt viele Gegensätze im Roman, denn die Eltern der verschwundenen jungen Frau sind unvorstellbar reich, bedingt durch ein gut gehendes Modeimperium. So begütert ist John zwar nicht, braucht sich aber finanziell keinerlei Gedanken zu machen.

Was nur könnte eine reiche junge Frau, wie die verschwundene Emelie, dazu bewogen haben, sich mit einem so armen Schlucker wie Billy einzulassen? Oder kannten sie sich etwa gar nicht? Was ist da los?

John, der in Schweden Fredrik Adamsson heißt, hat natürlich auch ständig Angst, dass der Chef des Drogenrings ihm auf die Fährte kommt, da ja Karlstad auch Johns Geburtsort ist. Paranoia und auch Angstzustände begleiten ihn und machen ihm schwer zu schaffen. Und: Wenn ihn die Zeit als verdeckter Ermittler in Baltimore eines gelehrt hatte, dann die Tatsache, dass man so wenig wie möglich lügen sollte. Jede Lüge war ein Schritt in Richtung Entlarvung. (Seite 151) Geschult darin, sich seine Emotionen nicht anmerken zu lassen, brauchte man schon früher beim FBI eine Art von Teflonbeschichtung, nichts durfte haften bleiben. (Seite 98)

Fazit: Die Personen, samt Nebenfiguren, sind unglaublich gut ausgearbeitet in diesem umfangreichen Debüt der beiden Autoren, die sich offensichtlich hervorragend ergänzen. So kommt auf 524 Seiten nie Langeweile auf (Chapeau!) und das Cliffhanger-Ende lässt auf Fortsetzungen hoffen. Mir gefiel zwar die Auflösung nicht ganz so gut, aber das mag Geschmackssache sein. 4 verdiente Sterne.

Bewertung vom 04.12.2020
Dark
Fox, Candice

Dark


sehr gut

Hass und Neid unter korrupten Kollegen

Die Motivation der Polizei, die die australische Autorin Candice Fox hier in „Dark“ zeichnet, ist beängstigend. Geldgier scheint hier – wie leider überall auf der Welt – die Haupttriebfeder der meisten Protagonisten zu sein. Mit zwei Ausnahmen: Das ist einmal die Ich-Erzählerin Blair, die verurteilte Mörderin. Und andererseits Jessica, die – vorerst noch – hochmotivierte Polizistin im Detective-Rang.

Wechselweise wird in den Kapiteln Jessicas Sicht wiedergegeben, bei ihr in der dritten Person, und Blairs Sicht.

Was geschieht also hier? Dayly, die junge Tochter von „Sneak“ ist verschwunden. Spurlos zunächst. Und Sneak saß mit Blair zusammen im Knast. Sneak hat schon immer alles geklaut, was irgendwie brauchbar war, um u. a. ihre Drogensucht zu finanzieren. Blair hingegen war im früheren Leben Kinderärztin und später Chirurgin. Ein ungleiches Paar. Aber eins eint sie: Beide haben Kinder. Dayly ist Sneaks Tochter, die hier von allen gesucht wird und Jamie ist der kleine Sohn von Blair, den sie im Knast geboren hat. Er wurde ihr sofort weggenommen, aber zum Glück wurde er Blairs Freundin zugesprochen, einer Freundin aus Blairs früherem Leben.

Später im Buch beteiligt sich noch Ada an der Suche. Und Jessica sowieso.

Auf den ersten Blick scheinen die Fäden, die hier gesponnen werden, sehr verworren zu sein, aber das täuscht. Die Personen sind gut gezeichnet. Auch die mehr als zahlreichen Nebenfiguren passen sich gut ein ins Geschehen.

Die Polizei wird überaus kritisch ins Visier genommen, aber auch die Regierung bekommt ihr Fett weg. Und zwar derbe! So werden die Kriege auf der Welt als von der Regierung abgesegnete Morde bezeichnet, im Gegensatz zu den individuellen Morden, um die es hier geht, die von derselben Regierung überaus hart bestraft werden. (Seite 297)

Fazit: Ein Thriller der etwas anderen Art. Spannend, gut geschrieben, kreativ, oft ungewöhnlich. Man bleibt dran, will wissen, wie’s weitergeht. Dennoch: So ganz überzeugt bin ich nicht und vom Hocker gehauen hat der Thriller mich auch nicht. Vielleicht bin ich zu verwöhnt, weil ich vor kurzem „Ihr Königreich“ gelesen habe? (Ich runde von 3,5 auf 4 Sterne auf.)