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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 02.05.2017
In der Mitte schlägt das Herz
Pretre, Rene

In der Mitte schlägt das Herz


ausgezeichnet

Als der Kinder-Herzchirurg René Prêtre 2009 zum Schweizer des Jahres gewählt wird, jubelt sein Team und seine Eltern sind stolz auf ihn. In Prêtres Arbeitsplan passt das Aufsehen um ihn als Medienstar weniger; denn er operiert gerade in Maputu/Mozambique. So nimmt ein südafrikanisches Fernsehteam einen Beitrag über den Schweizer Chirurgen auf. Prêtre kam als Bauernsohn im Schweizer Jura zur Welt und träumte als Kind von einer Karriere als Berufsfußballer. Prägend für Prêtres Berufsweg und entscheidend für seine Spezialisierung war seine Tätigkeit im New Yorker Bellevue Hospital. Das Bellevue ist berühmt dafür, dass Chirurgen dort an zahlreichen Schussverletzten aus Bandenkriegen Berufserfahrungen sammeln können wie sonst nur im Feldlazarett. Im Bellevue tat sich der junge Schweizer schon bald als begabter Operateur hervor. Weitere Meilensteine in Prêtres Biografie waren ehrenamtliche Tätigkeiten in Kambodscha und in Mozambik. Hier muss der Europäer erst lernen, seine Maßstäbe den Möglichkeiten anzupassen. Als Ausbilder der Chirurgen vor Ort legt Prêtre in beiden Ländern den Grundstein für den Aufbau einer Kinderherzchirurgie. In einem Alter, in dem ein Chirurg nicht zum ersten Mal darüber nachdenkt, wie ruhig seine Hände noch sind, zieht der Autor hier die Bilanz eines Chirurgenlebens. Selbstzweifel und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Scheitern spielen eine erstaunlich große Rolle in seiner Rückschau, handelt es sich bei tausenden von Operationen doch um nur wenige misslungene Fälle.

Sprachlich macht Prêtres Lebensbilanz, die er zuerst auf Band sprach, es ihren Lesern anfangs nicht leicht. Kurze Abschnitte verschiedener Textarten, das Drinnen im OP, das Draußen New Yorks, Fakten, Reflexion, Fußnoten wirken anfangs unruhig wie eine Sammlung von Splittern. Vielleicht gibt diese Unruhe genau die Atmosphäre eines Nachtdiensts im Bellevue wieder zwischen Adrenalinschub und Erschöpfung. Später erzählt Prêtre linear und in längeren Absätzen weiter. Die Beiträge sind jedoch eher thematisch als chronologisch geordnet. Eine Reihe von Fachausdrücken ist zu bewältigen, so dass ich das Buch eher Laien mit medizinischen Vorkenntnissen empfehle.

°°°°°
Zitat
„Ich brauchte noch einige Jahre, bis mich diese Anhäufung von Fällen in jene angenehme Sphäre hob, in der ich über echte Schwierigkeiten einer Operation urteilen, mich angemessen in die Mäander ihres Verlaufs versetzen konnte, um ihre Fallen zu antizipieren. Jene Sphäre, in der man mit Sicherheit weiss, dass man niemals diesen manchmal sehr schmalen Grat der kontrollierten Risiken verlassen wird.“ (Seite 45)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.05.2017
Berlin für die Hosentasche
Gutberlet, Bernd Ingmar

Berlin für die Hosentasche


ausgezeichnet

Der Berlin-Flaneur und Sachbuchautor Bernd I. Gutberlet führt zu Beginn seines Reiseführers zurück in die Zeit vor 1989, als West-Berlin von einer Mauer umgeben war und die Berliner Ausflüge nur in Parks, Schrebergärten oder auf Friedhöfe unternehmen konnten. Das üppige Grün der Stadt habe damals als Mittel gegen Lagerkoller gedient. Großzügige Wasserflächen haben einen kühlenden Einfluss auf das Stadtklima. Dem Besucher von außerhalb zeigt sich eine Stadt mit ehemals riesigen Industriebrachen und einem einzigartigen Lebensraum für Pflanzen und Tiere (weltweit hat Berlin die größte Mauersegler-Population), der durch das Bevölkerungswachstum leider bedroht ist. Listen-Fans können sich bei Gutberlet amüsieren mit den 13 hässlichsten Dingen zum Wegsehen, den wichtigen 10 Straßen, die bisher unterschätzt werden, oder den 7 bekanntesten Serien, die in Berlin spielen. Themen sind u. a., wie der Berliner so tickt, wie sich der Dialekt entwickelt hat, Berlin als Garnisonsstadt, Berlin als Ziel von Menschen aus 185 Nationen, die ehemalige Industriemetropole, die Zeit des Kalten Krieges, jüdisches Leben nach 1989. Beim Thema Arbeitslosigkeit, typisch Berliner Ineffektivität, maroder Infrastruktur, jüngster Gentrifizierung oder der berühmten Kodderschnauze nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund.

Äußerst gut gelungen finde ich in Gutberlets kleiner Berlin-Bibel die Verknüpfung von Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Architektur und Stadtentwicklung. Wer sich für diese Themen interessiert, findet einen Fundus an Informationen. So kann man mich immer wieder damit unterhalten, dass ein Anfang 1920 geborener Wilmersdorfer oder Charlottenburger im Laufe seines Geburtsjahres eingemeindet und zum Berlin-Wilmersdorfer und Berlin-Charlottenburger erklärt wurde. Noch Jahre später fuhr man „in die Stadt“ ins eigene Stadtzentrum oder „nach Berlin“. Ein wenig zu kurz kommen Themen, die Kinder interessieren (die Listen sind dazu ein vielversprechender Beginn). Da man über Berlin nie genug wissen kann, empfehle ich den kleinen gelben Bauklotz unbedingt.

Bewertung vom 02.05.2017
Wundervogel
Revell, Mike

Wundervogel


sehr gut

Der 11-jährige Liam fühlt sich, als hätte man ihn 1000 Meilen von seinen Freunden weg verpflanzt. Weil seine Großmutter nicht mehr allein leben kann und ins Heim kommt, zieht Liams Mutter mit ihm und seiner Schwester nach Swanbury/England ins Haus der Großmutter. Der Vater hat die Familie schon vor Jahren verlassen. Verständlich, dass Liam seinen Vater vermisst und sich in der belastenden Familiensituation von der Mutter vernachlässigt fühlt. Als einziger Mann im Haus spürt er den Druck, sich in seinem Alter nicht mehr zu fürchten. In der Schule wird er Ziel von Mobbing, weil er sich zu gut mit seiner Lehrerin versteht. Für einen Elfjährigen mit so vielen eigenen Problemen wirkt Liams Einfühlung in die Sorgen seiner Mutter da beinahe übermenschlich. Als im Umkreis einer baufälligen, mit Brettern vernagelten Kirche Liam ein riesiger Gargoyle entgegen schwebt, ist das der Beginn eines spannenden, unheimlichen Abenteuers. Während die zunehmende Demenz der Oma deutlich als Last zu spüren ist, kommt Liam im Tagebuch seiner Großmutter einem Geheimnis aus dem Jahr 1941 auf die Spur. Der Gargoyle als traditionelle Beschützerfigur stellt eine Verbindung her zwischen Enkel Liam und Großmutter Margaret Williams, die als Kind in Paris lebte. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Nationalismus ist gerade Unterrichtsstoff in Liams Klasse. Als Hausaufgabe seine demente Großmutter zu interviewen, kann der Junge sich nicht vorstellen. Glücklicherweise gibt es im Ort ehemalige Schülerinnen von Margaret, die sich an sie erinnern. Auch Liams Lehrerin, Mrs Culpepper, war Schülerin von Margaret Williams. Leider macht Liam sich bei den Jungen seiner Klasse mit seinen Unterrichtsbeiträgen keine Freunde. Dass Steinvogel früher seiner Großmutter Halt und Trost vermittelte und auch ihm besondere Fähigkeiten verleiht, wird immer deutlicher.

Mike Revell zeigt sich als temperamentvoller Erzähler, der meine Geduld mit Logiklöchern jedoch stark strapaziert hat. Dass ein 11-Jähriger eine 86-jährige Großmutter mütterlicherseits hat, scheint mir weit hergeholt. Die Enkel dieser Frauengeneration wären heute vermutlich eher um die 30 Jahre alt. Wie die Familie der Großmutter aus Paris über ein Exil in Spanien 1941 wieder nach England gelangt ist, bleibt offen. Unrealistisch finde ich bei einer Demenzkranken auch, dass ihre ungewöhnliche Kindheit in Frankreich nicht zur Sprache kommt, obwohl Demenzkranke ihre Kindheit im Alter häufig nacherleben.

Der ungewöhnlich reife, selbstlose Liam gibt wenig darauf, welche Rollenzuschreibungen für Jungen gerade gelten. Mit Hilfe des Phantasie-Gargoyles löst er das Rätsel um seine Großmutter auf eine originelle Art. Die Figur eines Gargoyle könnte zunächst ein Fantasybuch vermuten lassen. „Wundervogell“ ist jedoch eher ein Problembuch mit einer männlichen Hauptfigur und ein paar Anfänger-Schwächen im Text. Mit Krieg, Nationalsozialismus, Demenz, der Außenseiterrolle eines Neuen in der Klasse und einem abwesenden Vater lädt Revell in seinem Erstling zehnjährigen Lesern einen Berg an Problemen auf. Der äußere Umfang des Buches wirkt zunächst einschüchternd, im Lesefluss sind kurze Kapitel mit großzügigen Zwischenräumen von der Zielgruppe ab 10 gut zu bewältigen.

Bewertung vom 22.04.2017
Ayda, Bär und Hase
Kermani, Navid

Ayda, Bär und Hase


gut

Die anderen Kinder im Kindergarten nennen Ayda „Knirps“, weil sie sehr klein ist. Sie selbst findet das mehr als ungerecht; denn sie kann Radfahren, sich allein anziehen und ist dreisprachig – Deutsch, Persisch und Kölsch. Da sie ihre Cousins und Cousinen nur in den Ferien treffen kann und in ihrem Alter noch nicht allein durch ihr Stadtviertel streifen darf, wünscht sie sich nichts mehr als gleichaltrige Freunde. Aydas Eltern stammen aus dem Iran und leben schon lange in Köln. Jeden Abend bringt Aydas Vater sie mit einem festen Einschlafritual ins Bett und erzählt ihr eine Geschichte. Tief philosophische Fragen lösen Vater und Tochter gemeinsam, wie das Unglück in die Welt kommt, warum es arme Kinder gibt und wie man sich glücklich und traurig zugleich fühlen kann. Als Ayda sich eines Tages allein mit ihrem Kinderrad auf den Weg macht und dabei verunglückt, lernt sie Bär und Hase kennen und freundet sich mit ihnen an. Dass der große Bär besonders ängstlich ist, lehrt die drei, dass Alter und Körpergröße nichts über die Fähigkeiten eines Lebewesens aussagen. Im gemeinsamen Familienurlaub vertraut der Hase Ayda an, dass er sich vor Wasser fürchtet und darum nicht gern mit an den Strand kommt. Ayda nimmt die Gefühle des Hasen sehr ernst, bewahrt das Geheimnis und gibt ihm gemeinsam mit dem Bären Schwimmunterricht.

Für eine Fünfjährige, die bald eingeschult wird, zeigt sich Ayda sehr fit und selbstständig. Ihre Eskapaden im Alleingang sind nicht ungefährlich, aber zum Glück lebt sie in Köln-Eigelstein, wo sie jeder kennt. Die kleinen Zuhörer erleben Aydas gefährliche Abenteuer zum Glück nur in Gedanken und in der Sicherheit der Vorlesesituation.

Navid Kermanis Kinderbuch zeigt eine Reihe von Qualitäten; die rhythmische Wiederholung des Einstiegs zu Beginn jedes der vier Teile des Buches, die innige Vater-Tochter-Beziehung, die überzeugende Darstellung von Aydas Wünschen und Ängsten. Der Autor folgt mit dem Buch deutlich der Mission, ein multikulturelles Stadtviertel vorzustellen, das Klischee blonder, blauäugiger Kinderbuch-Helden zu durchbrechen und seine kleine Heldin mit den „fremden Kulturen“ der Bären- und Hasenwelt vertraut zu machen. Gefallen hat mir, dass die beiden Tiere bei ihren Eltern leben, mit denen sie sich abstimmen müssen und nicht einfach als Einzelgänger durch Köln ziehen können. Die Wortwahl könnte kindgerechter sein, den Begriff Ankündigen oder reif als Adjektiv für ein Kind würde ich bei Fünfjährigen nicht unbedingt voraussetzen. Hätte ich ein Mädchen namens Ayda in einer Kindergartengruppe, würde ich das Buch sofort anschaffen. In einem Vorlesebuch für Fünfjährige finde ich Aydas Probleme altersgemäß, allerdings sind für diese Altersgruppe die wiederholten Informationen über die persische Sprache und ihre Schreibweise überflüssig. Für 6- bis 8-jährige Selbstleser finde ich als Hauptfigur eine Fünfjährige mit den typischen Problemen eines Kindergartenkindes ungünstig. Schulkinder interessieren sich selten für soziale Konflikte, die sie bereits gemeistert haben, als sie „noch klein“ waren. Kermani kann trotz guten Willens noch nicht altersgerecht für Kinder schreiben und der Carl Hanser Verlag hätte bei einem Kinderbuch dafür sorgen müssen, dass Alter der Zielgruppe und der Hauptfigur miteinander harmonieren

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Bewertung vom 22.04.2017
Origami für alle
Täubner, Armin

Origami für alle


sehr gut

Armin Täubners Klassiker von 2006 liegt mittlerweile in einer großformatigen 11. Auflage von 2016 vor. Das Buch ordnet die gezeigten Projekte in drei Schwierigkeitsstufen. Faltschachteln und Aufblasfiguren entsprechen Stufe 3, einfache Umschläge Stufe 1. Geordnet wird nicht nach Grundformen (z. B. alle Arbeiten, die sich aus „Himmel und Hölle“ entwickeln lassen), sondern thematisch (Vögel, Tiere) oder zweckgebunden. Die abstrakten Begriffe Nützliches und Schmückendes finde ich für Kinder, die sich evtl. allein mit dem Buch beschäftigen, weniger passend. Methodisch ist das Buch nicht perfekt. Für Anfänger sollte z. B. eindeutig ersichtlich sein, auf welcher Seite eines zweifarbigen Papiers eine Arbeit begonnen wird. Volkstümliche einprägsame Bezeichnungen (Drachenform, Windmühlenform, zusammengeschobenes Quadrat) werden nicht benutzt, obwohl sie meiner Ansicht nach das Denken in geometrischen Grundformen fördern würden.

Grundwissen über zum Falten geeignetes Papier wird nicht vermittelt und das Selbstzuschneiden wird in einem Satz abgehandelt. Der entscheidende Hinweis fehlt, dass es dabei auf exakte rechte Winkel ankommt und nicht allein auf die Kantenlänge.

Für wie schwierig man die rund 40 Projekte hält, ist abhängig vom eigenen Perfektionsstreben. Faltschachteln, sternförmige Ornamente (die auf Fröbel zurückgehen) und perfekt gefaltete Kraniche sind keine Anfängerarbeiten. Ein einfaches Modell sehr sorgfältig zu falten kann anspruchsvoll sein, immer abhängig vom verwendeten Papier. Viele werden mit wachsender Begeisterung für Origami einfache Formen exakter, aus feinerem Papier oder in besonders kleinem Format falten wollen. Kraniche und geometrische Formen lassen sich schließlich auch in 2x2cm falten, lackieren und als Schmuckstück tragen.

Ob ein Origami-Buch „für alle“ möglich ist, bezweifele ich. „Origami für alle“ enthält sowohl Modelle für Anfänger wie für Fortgeschrittene. Das angenehm großformatige Buch eignet sich zum Nachschlagen und enthält einige Modelle, mit denen Kinder erfolgreich zu beschäftigen sind (Aufblasgfiuren = Knallteufel).

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Bewertung vom 22.04.2017
Ich bin niemand
Flanery, Patrick

Ich bin niemand


ausgezeichnet

Jeremy O’Keefe hat kurz nach dem Anschlag auf die Twin-Towers in New York eine Professorenstelle in Oxford angenommen und kehrt nun nach 10 Jahren wieder in seine Heimatstadt zurück. Sein Wechsel an eine New Yorker Universität bedeutet einen beruflichen Aufstieg; denn sein College in England hatte nur einen mittelmäßigen Ruf. Während längerer Abwesenheit von der Heimat konserviert man gern ein idealistisches Bild, das der Realität nur schwer standhalten wird. Auch während Jeremys Abwesenheit haben sich die Menschen und die Stadt verändert. Kurz nach seinem Weggang aus den USA hatte er sich von seiner Frau getrennt; so dass er außer zu seiner Tochter und seiner Mutter kaum noch Kontakte hat. Jeremy verstrickt sich zunehmend in harschem Ton in Diskussionen darüber, ob er einen britischen Akzent angenommen hätte oder sich inzwischen wie ein Brite verhalten würde. Da es sich hier um subjektive Eindrücke handelt, über die man schwer streiten kann, fällt Jeremys Beharrlichkeit bei diesem Thema deutlich aus dem Rahmen. Köstlich dagegen wirkt die Szene, als seine Mutter ihm vorwirft: „Sei nicht so pedantisch!“ Jeremy war schon früher ein schwieriger, hypochondrischer, negativ eingestellter Mensch. Aus seiner Sicht nimmt die Qualifikation seiner Studenten beständig ab, „alles“ verschlimmert sich. Er denkt in Stereotypen und handelt wie ein Altersstarrsinniger aus dem Lehrbuch. Schließlich bekommt Jeremy verdächtige Pakete, die ihn eine gezielte Verfolgung vermuten lassen und die Frage nach Privatsphäre im Zeitalter des Internets aufwerfen. Für einen Historiker, der über die Stasi zu DDR-Zeiten geforscht hat, sind Jeremys Ängste nicht unrealistisch. Im Vergleich zu seiner Tochter und der New Yorker Kultur-Schickeria wirkt Jeremy nicht besonders paranoid. Psychologisch finde ich die Frage höchst interessant, was für einen Mann von Mitte 50 gerade noch als normales Verhalten gelten kann. - Als Jeremy bei einem Termin vergeblich auf eine Studentin wartet und sich das nicht erklären kann, lässt er seine geistige Leistungsfähigkeit durch eine Neurologin untersuchen. Die Ärztin nennt ihm mögliche Ursachen für seine Ausfälle. Jeremy könnte in der Folge von 9/11 psychisch erkrankt sein, akut belastet und deshalb dünnhäutiger, an beginnender Demenz leiden oder tatsächlich verfolgt werden. Dass andere Jeremys Verhalten besorgniserregender finden als er selbst, könnte Hinweis auf eine hirnorganische Erkrankung sein, die der Patient als letzter wahrnimmt. Die Einordnung seines starrsinnigen Verhaltens ist kulturabhängig – und wird durch Jeremys jüngsten Ortswechsel nicht einfacher. - Anfangs habe ich den Roman stilistisch als holperig empfunden und wurde im Lesefluss immer wieder von der Frage nach dem Sinn unterbrochen. (z. B. ob ein Gegenstand kompetent sein kann, S. 10). Dass der vielfach preisgekrönte Patrick Flanery sich nach erstklassigen Vorgänger-Romanen nun ungeschickt ausdrücken sollte, leuchtete mir nicht ein. Erst als ich mir bewusst machte, dass ich von einem Icherzähler nur seine Sicht der Dinge erfahren werde, konnte ich die sprachlichen Marotten als Teil von Jeremys Verunsicherung sehen. Vielleicht mussten Jeremys Satzungetüme stehen bleiben, weil ein Mann wie er Texte nicht gegenlesen und korrigieren lässt. Da schreibt ein verstörter Mann mit berechtigten Zweifeln an seiner geistigen Leistungsfähigkeit und ich werde als Leser zum Zuschauer seines – möglichen – geistigen Verfalls. Auch wenn die Person eines älteren Geschichtsprofessors in seinem Elfenbeinturm wenig spektakulär wirkt, sollte man dem Roman ungefähr bis zur Mitte eine Chance geben …

Jeremy fordert die Geduld der Leser seines Manuskripts mit stereotyper Denkweise und einem gehörigen Maß an Starrsinn heraus. Wer sich von seinen Marotten nicht abschrecken lässt und Distanz zum Text schaffen kann, wird anerkennen müssen wie gekonnt Flanery seine Leser auf dem schmalen Grat zwischen Normalität und Erkrankung balancieren lässt.

Bewertung vom 22.04.2017
Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten
Carr, J. L.

Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten


sehr gut

Joe Gidner, der Icherzähler dieses Fußball-Märchens, ist von Beruf Glückwunschkarten-Texter und nach Ansicht seiner Nachbarn die Idealbesetzung, um eine offizielle Chronik vom märchenhaften Aufstieg einer Amateur-Fußballmannschaft zu verfassen. Der Text soll in jeder Hinsicht hervorragend werden. Die Kombination eines Vorworts aus Fußballersicht von Saša Stanišić mit der Ankündigung eines wirklich unerhörten Ereignisses weckten bei mir prompt Erwartungen, als würde ich nach einem Tusch der Kapelle auf den Zauberkünstler warten.

In der Schule eines 547-Seelen-Dorfes verläuft die Prüfung der Schulkinder durch den Schulinspektor unerwartet erfolgreich. Der Rektor Dr. Kossuth muss ein wahres Lehr- und Organisationstalent sein, um so viele kleine Gedächtniskünstler trainiert zu haben. Kossuth ist Emigrant aus Ungarn und als promovierter Philosoph in der Dorfschule weit überqualifiziert. Seine Fähigkeiten wird er nun gemeinsam mit dem Fußballtalent Alex Slingby zum Wohl der Fußballmannschaft einsetzen. Nach eingehender Beobachtung und Analyse dörflicher Fußballspiele entwickelt Kossuth sechs magische Regeln zum Erfolg, die dem Team von Sinderby einen steilen Aufstieg bescheren – bis zum Spiel gegen Manchester United. Kossuth als Theoretiker und Alex Slingby als Fußball-Stratege erweisen sich dabei als Dream-Team. Natürlich ruft der wundersame Erfolg der Elf auch die Presse auf den Plan und weckt Begehrlichkeiten bei Trittbrettfahrern, die sich im Ruhm der erfolgreichen Mannschaft sonnen wollen.

Der märchenhafte Aufstieg einer Amateur-Mannschaft lässt sich als Lehrstück lesen, wie man ein Projekt auf die Beine stellt, aber auch wie erfolgreich eine Dorfgemeinschaft ihre Sonderlinge und vom Schicksal links liegen gelassenen Mitglieder integrieren kann. Außer Spannung und Rührung erzeugt J.L. Carr in seinem Lehrstück befreiendes Lachen - mit geschickt platzierten ironischen Spitzen zum Dorfleben im ländlichen Yorkshire. Wer J.L. Carrs „Ein Monat auf dem Land“ noch für einen einmaligen Zufallstreffer gehalten hat, wird in diesem 1975 erschienen Fußball-Märchen einen versierten Autor entdecken, der die Wirkung seiner Worte bewusst einsetzt, um in einer bedeutungsgeladenen Atmosphäre seine Leser zu berühren.

Bewertung vom 22.04.2017
Die Hatz
Peace, J. M.

Die Hatz


gut

Die junge australische Polizistin Samantha Willis will nach einem Streit mit ihrem Freund ihren Frust austoben und verabredet sich mit ihrer alten Freundin in Brisbane. Spätestens zum Dienstbeginn am nächsten Mittag muss Sammi wieder fit sein. Als sie morgens noch nicht wieder zurück ist, meldet ihr Freund Gavin Sammi als vermisst. Sammi befindet sich derweil in den Händen eines Mannes, der sie in einem abgelegenen Landstrich um ihr Leben rennen sehen will. Sammi wird schnell klar, dass Don sein Spiel nicht zum ersten Mal spielt. Ihr Trumpf im Rennen um Leben und Tod: Don weiß nicht, dass er eine Polizistin entführt hat, die den Spieß umdrehen könnte, wenn sie mental die Kontrolle über die Situation behalten kann. Für die Leser stellt sich die Frage, ob der Busch Sammis Feind ist oder ihr Schutz bieten könnte. Während sie buchstäblich um ihr Leben läuft, zieht sich unter Leitung einer erfahrenen Kriminalbeamtin das Netz um den Täter zusammen, gegen den bereits in einem früheren Fall ermittelt wurde – damals leider erfolglos.

Das Szenario, in dem ein Serientäter sein Opfer mit fatalen Folgen falsch einschätzen könnte, hat mich in J.M. Peace‘s Kriminalroman sofort gefesselt. Mit exakten Zeitangaben zu Beginn jedes Kapitels drückt die Autorin von Beginn an aufs Tempo. Die Zeichnung der Figuren bleibt leider oberflächlich. So hätte ich gern ausführlich aus Janine Postlewaites Verhalten geschlossen, warum sie eine erfahrenere Ermittlerin ist als z. B. Sammi. Es genügt mir nicht, dass ein Autor Eigenschaften behauptet. Leider bremst der schlechte Stil des Buches die entstehende Spannung sofort wieder aus. Der Text versammelt eine frustrierende Liste von Fehlern und Stilsünden, die beim Piper-Verlag vor der Veröffentlichung jemandem hätten auffallen müssen. Sammis fieberhafte Suche nach einem Ausweg - während sie vor dem Täter flieht - wirkt treffend und nachvollziehbar, ihre Gedanken müssten von der Erzählerstimme nicht zusätzlich erklärt und damit verwässert werden. Der Wettlauf um Sammis Leben könnte in klarerem Stil weit beklemmender wirken. Die spontanen Gespräche und Gedanken von Polizisten und Angehörigen werden auf eine unglaubwürdig hochtrabende Stil-Ebene gezogen. Verbwiederholungen (ständig geht eine Figur irgendwo hin, um etwas zu tun, anstatt es einfach zu tun), Füllwörter, „weiße Schimmel“, unnötige und ungeschickt gewählte Adjektive gehören korrigiert.

Nur wer mit der Auflösung eines Falles zufrieden ist und geringe Ansprüche an den Stil eines Buches stellt, sollte aufgrund des Settings zu diesem Erstling greifen.