Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Aischa

Bewertungen

Insgesamt 510 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2023
Nachhaltig mit Genuss
Svensson, Paul;Mourtada, Zeina

Nachhaltig mit Genuss


sehr gut

Die libanesischstämmige Köchin Zeina Mourtada und der in seiner schwedischen Heimat recht bekannte Koch Paul Svensson haben sich für dieses Kochbuch zusammen getan, um zu zeigen, wie man zu Hause gesund und nachhaltig kochen kann, ohne gänzlich auf tierische Produkte zu verzichten, wenn man das (noch) nicht möchte.

Das heißt konkret, die meisten der 77 Rezepte sind vegetarisch oder vegan, es gibt aber auch einige mit Fleisch oder Fisch. Sehr gut gefällt mir, dass die Gerichte oft einen internationalen Einfluss erkennen lassen, aber dennoch möglichst regionale Zutaten verwendet werden. Um auch möglichst einfach saisonal kochen zu können, hätte ich mir eine Einteilung nach Jahreszeiten gewünscht (statt nach Eintöpfen, Ofengerichten etc.).

Die Rezepte sind übersichtlich und gut verständlich auf je einer Doppelseite angeordnet, mit großformatigen, sehr ansprechenden Fotos, die Lust machen, sofort den Kochlöffel zu schwingen. Es gibt wenig Salat, viel Eintöpfe und Aufläufe. Das Buch ist vielleicht nicht ganz so abwechslungsreich wie andere Kochbücher, v.a. wer Hülsenfrüchte nicht mag, ist hiermit nicht sonderlich gut beraten. Ich jedoch liebe Kichererbsen, Bohnen und Co. und kann die Rezepte von Herzen empfehlen! Ich koche leidenschaftlich gerne und probiere regelmäßig Neues aus, und dennoch gehört das hier vorgestellte "Mac and Cheese im Bhutan-Stil" zum Besten, das ich seit langem zubereitet und gegessen habe!

Der ausführliche Theorieteil zu nachhaltiger Ernährung gibt neben dem bekannten "regional, saisonal und bio! auch weitergehende, interessante Empfehlungen, aber hier fehlen mir Quellenangaben und weiterführende Literaturangaben.

Hilfreich fidne ich die Tipps im Anhang, wie man Lebensmittel retten kann, sprich: weniger wegwerfen muss. Echt überraschend, was man mit braunen Bananen oder welkem Salat noch Schmackhaftes zubereiten kann!

Bewertung vom 24.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


gut

Uff. Mit Erleichterung habe ich diesen Roman nach den letzten Seiten zugeklappt. Ich breche die Lektüre eines einmal begonnenen Buchs so gut wie nie ab - hier hätte ich es tun sollen.

Doris Knecht erzählt zu viel Belangloses, zu viele Wiederholungen, es ist ein nicht enden wollendes Kreisen der Protagonistin um die Frage, wo und wie sie nach dem Auszug ihrer erwachsenen Kinder wohnen möchte. Dabei hatte die Geschichte durchaus vielversprechend angefangen: "Der Hund hat schon wieder ins Autor gekotzt." Ein origineller erster Satz, der hoffen lässt, dass es ohne viel Geschwurbel zur Sache geht, dachte ich. Als sich dann noch eine der beiden Töchter der Ich-Erzählerin darüber beschwert, dass sie seit Jahren wider ihren Willen in den Werken der schreibenden Mutter vorkommt, und diese daraufhin statt von ihrer Tochter von ihrem Sohn schreibt, war ich wirklich angetan, ich freute mich auf eine witzige, unterhaltsame Story.

Aber weit gefehlt. Die kurzen Kapitel mäandern um den bevorstehenden Umzug. Die derzeitige Wohnung kann sich die Protagonistin alleine nicht leisten, mit Untermietern möchte sie den Alltag nicht teilen. Kurze Neidanfälle auf Freundinnen und Schwestern, die rechtzeitig in Eigentum investiert haben, o.k. Aber das hat man dann nach einigen Abschnitten kapiert, ebenso wie die Tatsache, dass es die eine, absolute Wahrheit in Bezug auf Erinnerung nicht gibt.

Dazwischen findet sich reichlich erzählerisches Füllmaterial, das mich nicht interessiert: dass die Hauptfigur nicht gerne Ski fährt, oder die detaillierte Schilderung des Ausmistens ihres Hausstands vor dem Umzug - einfach langweilig. Auch sprachlich konnte ich keine Höhepunkte entdecken, alles plätschert so vor sich hin.

Doris Knecht ist Schriftstellerin und Kolumnistin für diverse österreichische Zeitungen und Magazine. Vielleicht hätten die kurzen Kapitel als Kolumnen besser funktioniert - für einen Roman reicht es meines Erachtens nicht, jedenfalls nicht für einen guten.

Bewertung vom 20.07.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


sehr gut

Die erst 28jährige Germanistin Caroline Wahl hat mich mit ihrem Romandebüt sehr beeindruckt und bewegt. Sie erzählt die Geschichte der jungen Tilda, die Erstaunliches leistet: Sie studiert Mathematik und jobbt regelmäßig an der Supermarktkasse, nicht nur, um ihr Studium zu finanzieren, sondern auch, um ihrer achtjährigen Halbschwester ein einigermaßen normales Leben zu ermöglichen. Die Väter haben sich längst aus dem Staub gemacht, die Mutter der beiden ist nicht in der Lage (oder willens?), sich um ihre Töchter zu kümmern. Im Gegenteil, betrunken wird sie zur gewalttätigen Furie, vor der die jüngste nicht immer rechtzeitig fliehen kann.

Als wäre das nicht schon genug Last auf Tildas Schultern bekommt sie auch noch eine Promotionsstelle angeboten, für die sie wegziehen müsste. Was tun? Die eigene Karriere verfolgen, endlich der familiären Hölle entkommen, aber die kleine Schwester eben dort zurück lassen? Neben diesem Dilemma spinnt Wahl einen weiteren spannenden Handlungsfaden, rund um den tragischen Unfalltod eines Freundes von Tilda. Und außerdem darf man sich als Leser*in auf eine völlig kitschbefreite Liebesgeschichte freuen.

Caroline Wahl schreibt knapp und dennoch präzise, scharf und bissig, aber auch Zärtlichkeit hat ihren Platz. Besonders die Dialoge schaffen Authentizität. Ein wirklich berührender Roman. Da verzeihe ich sogar die seltsame Marotte, sämtliche Zahlen, selbst in Zusammensetzungen, als Ziffern zu schreiben.

Bewertung vom 20.07.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


sehr gut

"Wir sind als Spezies erledigt, meiner Meinung nach", so pessimistisch äußerte sich Bestsellerautor T. C. Boyle unlängst im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit in einem Interview.

Und folglich sieht es für die Figuren in seinem jüngsten Roman auch nicht gerade rosig aus: Wir folgen den Mitgliedern einer US-amerikanischen Familie durch den alltäglichen Wahnsinn. Die menschengemachte Klimakatastrophe ist dabei Kulisse für einen Cliffhanger nach dem anderen - Gefahren durch Zecken- oder Schlangenbisse, Brände im völlig ausgedorrten Kalifornien, wo sogar der Wein nach Asche schmeckt, während in Florida Überschwemmungen an der Tagesordnung sind und man vielerorts nicht mehr mit dem Auto, sondern mit dem Motorboot zum Einkaufen fährt.

Dabei sollte der Roman meines Erachtens nicht als Cli-Fi gelesen werden. Denn zu wenig Fiktion ist dafür im Plot, zu sehr sind viele der beschriebenen negativen Klimaveränderungen bereits Realität. Und genau daraus bezieht "Blue Skies" auch sein Spannungspotenzial; die Geschichte klingt erschreckend real, alles ist sehr gut vorstellbar. Ebenso wie - leider - auch die Verhaltensweisen der Menschen. In alten Gewohnheiten verhaftet, zaudernd, nur sehr zögerlich stellt man sich um und ist dabei auch noch inkonsequent. Ein wenig insektenbasierte Lebensmittel verzehren, o.k, aber nicht mehr zu fliegen ist dann doch zu unbequem.

Boyle erzählt seine Familien- und Gesellschaftskritik gewohnt unterhaltsam-satirisch, die Figuren sind allesamt etwas überzeichnet, was meinen Lesegenuss jedoch keineswegs geschmälert hat.

Abstriche mache ich aufgrund der Übersetzung von Dirk van Gunsteren. Denn einige Anspielungen und Witze versteht man erst, wenn man die entsprechenden Passagen wieder ins Englische zurück übersetzt. Schade.

Bewertung vom 17.07.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


ausgezeichnet

Philipp Oehmke hat es einfach drauf: Der studierte Germanist und Journalist hat vor Jahren mit seiner Biografie über die Punkband Die Toten Hosen einen Verkaufsschlager hingelegt, und es würde mich nicht wundern, wenn auch sein erstes belletristisches Werk ein Bestseller wird.
Mich jedenfalls hat die Geschichte der fiktiven Familie Schönwald durchweg gefesselt, was bei über 500 Seiten schon eine Leistung an sich ist. Oehmke erzählt spannend, unterhaltsam, kurzweilig und informativ. Die Kapitel nehmen unterschiedliche Erzählperspektiven der Familienmitglieder ein: Harry, der als Staatsanwalt und Vater dreier erwachsener Kinder scheinbar ein erfülltes Leben hatte, nun aber im Rückblick den ein oder anderen Zweifel verspürt und (heimlich) eine Therapie beginnt. Seine Frau Ruth hingegen, die der Familie zuliebe auf ihre Karriere als Germanistin verzichtet hatte, wischt seit jeher alle Probleme beiseite, in der Hoffnung, dass das, worüber man nicht spricht, auch keine große Bedeutung erlangt; überdies möchte sie ihre Lieben nicht unnötig belasten. Und so ist es nicht wirklich überraschend, dass auch die drei erwachsenen Kinder wichtige Teile ihrer Leben verheimlichen, vor den Eltern oder vor ihren Partner*innen.
Dem Autor gelingt es hervorragend, durch die Perspektivwechsel zu zeigen, dass es oft nicht die eine Wahrheit gibt, und das innerfamiliäre Geflecht wird bei der Lektüre so geschickt aufgebaut, dass man das Gefühl hat, einer Familienaufstellung zusehen zu dürfen.
Der Plot steckt voller überraschender Wendungen, die sehr überzeugend aufgebaut sind. Besonders gelungen fand ich die Wandlung des ältesten Sohns, der in die U.S.A. ausgewandert ist, vom linksliberalen Linguistikprofessor zum Wahlkampfhelfer in Donald Trumps Make-America-Great-Again-Maschinerie. Oehmke erweist sich hier als ausgewiesener Kenner der U.S.-amerikanischen Gesellschaft, wozu sicher beigetragen hat, dass er fünf Jahre lang das New Yorker Büro des Magazins "Der Spiegel" leitete.
Ein paar Wiederholungen hätte das Lektorat kürzen können, aber ich gebe dennoch eine uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen hervorragenden Familien- und Gesellschaftsroman.

Bewertung vom 01.07.2023
Labyrinth Barcelona
Wiegand, Jens

Labyrinth Barcelona


ausgezeichnet

Auf der Suche nach einem wirklich guten Barcelona-Führer? Wer die katalanische Hauptstadt gerne zu Fuß erkunden möchte, dem empfehle ich dazu uneingeschränkt "Labyrinth Barcelona". Ich kenne nicht nur Barcelona von mehreren Kurzreisen (meine Tochter lebt dort), sonder auch einige einschlägige Reiseführer, und darunter ist dieser definitiv der beste.

Autor Jens Wiegand ist seit einem Vierteljahrhundert Wahl-Barceloneser. Und man merkt dem Buch nicht nur an, dass er sich hervorragend in der katalanischen Metropole auskennt, sondern man spürt bei der Lektüre auch seine Faszination für die Stadt, die so wunderschön zwischen Mittelmeer und der nahen Bergkette des Collserola gelegen ist. Und diese Faszination ist ansteckend!

Nach einer kompakten Einführung mit wichtigen Basics (Verkehrsmittel, Sprache u.a.) darf sich die Leserschaft erst einmal an je einer Doppelseite großartiger Fotos erfreuen, anhand derer der Autor seine persönlichen "Best of" vorstellt zu: Museen, Fotospots, Architektur, Aussichtspunkte sowie Bars und Restaurants.

Den Hauptteil nehmen 30 Touren ein, anhand derer man Barcelona zu Fuß erkunden kann, bequem und intensiv. (Genauer gesagt führt die Mehrzahl der Spaziergänge durch die Stadt, vier hingegen ins nahe Umland.) Wiegand berücksichtigt beliebte Touristenmagneten wie die Sagrada Familia oder die beliebte Flanier- und Einkaufsmeile La Rambla, hat aber auch unzählige (wirkliche) Geheimtipps in petto, so dass sich das Buch für einen Erstbesuch eignet, man aber damit sicher auch noch neue Seiten Barcelonas entecken kann, selbst wenn man die Stadt schon gut zu kennen glaubt.

Texte und Fotos wechseln sich angenehm ab, Übersichtskarten in den Innenseiten der praktischen Klappenbroschur sowie zahlreiche Stadtplanausschnitte geben hilfreiche Orientierung. Aktuelle Öffnungszeiten, Eintrittspreise etc. fehlen genauso wenig wie interessante, witzige oder überraschende Hintergrundinfos. Überhaupt staune ich, wie viele Informationen Wiegand in diesem handlichen Taschenbuch untergebracht hat, ohne dass dies zu Lasten der Übersichtlichkeit geht.

Meine klare und begeisterte Empfehlung für alle, die nach Barcelona reisen, egal ob zum ersten oder wiederholten Mal!

Bewertung vom 13.06.2023
Lightseekers
Kayode, Femi

Lightseekers


ausgezeichnet

Femi Kayode legt ein äußerst rasantes Debüt vor. Sein Protagonist Dr. Philip Taiwo - wie der Autor selbst seines Zeichens studierter Psychologe - soll als Privatermittler den Lynchmord an drei Studenten aufklären.

Die anspruchsvolle Geschichte fordert volle Aufmerksamkeit, belohnt dafür aber mit atemberaubender Action und faszinierenden Einblicken in Gesellschaft, Geschichte und Kultur Nigerias. Kayode thematisiert die Rivalitäten der verschiedenen Ethnien des Vielvölkerstaates, ein konfliktreiches Erbe, unter dem viele der von Kolonialmächten definierten Staaten Afrikas leiden. Die allgegenwärtige Korruption zeigt sich drastisch an willkürlichen Straßensperren von Polizeibeamten, die dadurch ihr mageres Gehalt aufbessern. Drogenhandel und Geheimbünde an Universitäten werfen dunkle Schatten auf die Studentenszene. Und nicht zuletzt entladen sich Spannungen zwischen Muslimen und Christen immer wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen. Wem dies zu übertrieben erscheint, der war wahrscheinlich noch nie in Nigeria, all dies ist pure Realität. (Da die Familie meines Mannes von dort stammt, kann ich "leider" auf direkte Quellen zurück greifen.)

Besonders gut haben mir die vielen kleinen Besonderheiten gefallen, die der Autor wie nebenbei einstreut. Etwa die zahlreichen Zwillingsgeburten bei den Yoruba. Diese Ethnie hat weltweit mit Abstand die höchste Rate an zweieiigen Zwillingen, und auch in der Kultur der Yoruba spielen diese eine große Rolle. Schon am Namen kann man erkennen, ob es sich um einen erst- oder zweitgeborenen Zwilling handelt. Hier wäre allerdings für die europäische Leserschaft ein entsprechendes Glossar hilfreich gewesen, viele Sachverhalte erschließen sich sonst vermutlich nur nach eigener Recherche.

Noch einmal anders hat sich mir der Roman erschlossen, nachdem ich das Nachwort des Autors gelesen hatte. Denn dort erfährt man nicht nur, dass die - in sarkastischer Weise "Necklacing" also Halsketten-Morde genannte - Lynchjustiz auf einem realen Fall beruht, bei dem ein wütender Mob Studenten Autoreifen quasi als Ketten um den Hals hängte, sie mit Benzin übergoss und anzündete. Sondern Kayode erklärt auch, dass er durch die Arbeit am Roman verstehen wollte, wie seine Landsleute zu derartiger Grausamkeit fähig sein konnten. Insofern ist die Figur Dr. Philip Taiwo sein Alter Ego, auch er ist nach langem Aufenthalt in den U.S.A. einerseits von den Zuständen in seinem Heimatland schockiert, andererseits treibt ihn die Suche nach Erklärungen für die Missstände an. Eine Ambivalenz, die er mit vielen teilt, die in der Diaspora leben. Man besucht sein Ursprungsland, möchte "nach Hause" kommen und doch fühlt sich Vieles so fremd an.

Für November 2023 ist der zweite Fall Taiwos angekündigt, den ich schon jetzt voller Spannung erwarte.

Bewertung vom 13.06.2023
Dalee
Gastmann, Dennis

Dalee


gut

Als Reiseautor und (Gonzo-)Journalist schätze ich Dennis Gastmann sehr, sein Debütroman hat mich leider nicht überzeugt. Vielleicht war ich vom Klappentext irritiert, der "Dalee" als Abenteuerroman ankündigt. Mag sein, dass Gastmann seine Recherchereise auf die Andamanen als abenteuerlich erlebt hat - Spannung habe ich im Roman über weite Strecken vermisst.

Und dabei klingt die Story, die auf wahren Begebenheiten beruht, wirklich spektakulär: Anfang der 1950er Jahre transportierte ein indischer Dampfer angeworbene Glückssucher, ganze Familien und Mahuts samt ihren Elefanten, um auf den Inseln der Andamanen Tropenholz zu roden. Aber gut die erste Hälfte des Romans wollte sich einfach kaum Lesegenuss bei mir einstellen, zu zäh und langatmig ist die Erzählung, sie verliert sich in Details, die Handlung schreitet nur mühsam voran. Vielleicht hatte ich bereits zu viel Vorwissen über Arbeitselefanten als dass mich hier Einzelheiten noch hätten fesseln können. Einige Passagen sind durchaus stimmungsvoll, gerade Landschaft, Flora und Fauna beschreibt Gastmann geradezu zauberhaft. Oder sollte ich sagen: märchenhaft? Wenn ich es mir länger überlege, dann hat "Dalee" wirklich etwas von einem indischen Märchen. Man kann es vielleicht auch als Parabel auf das Leben lesen, denn - ohne zu viel verraten zu wollen - am Ende ist alles in Auflösung begriffen, verschwindet einfach.

Als Abenteuerroman ist mir jedoch Vieles zu kitschig, das Verhältnis zwischen Mahut und Elefant zu verklärt, und wenn Tiere vermenschlicht dargestellt werden, stellen sich mir sowieso die Nackenhaare auf. Dagegen tritt leider das durchaus komplexe historische Geschehen sehr in den Hintergrund; es klingt zwar an, dass die Andamanen als Strafkolonie dienten, und auch ein Bombenkrater als Erbe aus dem Zweiten Weltkrieg ist kurz Schauplatz. Aber über die wirklich vielschichtige Historie der Inselgruppe habe ich durch den Roman kaum dazu gelernt. Bisweilen erinnert "Dalee" an die fantasievoll-philosophische Sprachwelt in "Life of Pi / Schiffbruch mit Tiger", aber ohne dessen Konsequenz. Gastmann mäandert sich so durch die Kapitel, probiert mal dies, mal das, um erst gegen Schluss wieder darauf zu kommen, dass er ja einen Roman schreiben wollte.

Überrascht hat mich ein Interview mit Dennis Gastmann, das ich erst nach der Lektüre von "Dalee" gelesen habe: Dort gibt er nämlich an, dass ihn ein Foto von Rajan, dem letzten tauchenden Elefanten in der Andamanensee zu seinem Roman inspiriert hat. Und genau eines dieser Fotos hatte ich schon nach den ersten Absätzen der Geschichte im Kopf. Ein wunderschönes, geradezu traumhaftes Bild - vermutlich hätte es meiner Lektüre gut getan, wenn ich das Buch als Traumsequenz gelesen hätte, so waren meine Erwartungen wohl die falschen.

Bewertung vom 12.06.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


sehr gut

Der Plot von Robert Seethalers jüngstem Roman ist schnell erzählt: Der junge Gelegenheitsarbeiter Simon greift zu, als sich ihm die Chance bietet, ein Café unweit des Wiener Karmelitermarkts zu eröffnen. Schnell wird es zum beliebten Treffpunkt der sogenannten kleinen Leute, darunter Arbeiter, Trinker, verkrachte Existenzen und verlorene Seelen.

"Simon dachte an seine Gäste. Es war merkwürdig, wie wenig er von ihnen wusste und wie gut er sie doch kannte." Ein derartiges Gefühl begleitete auch mich während der Lektüre. Seethaler lässt eine Vielzahl an Figuren auftreten, man erfährt als Leserin oft nur Eckdaten ihres Lebens, und doch meint man, sie zu kennen. Dabei widersteht er der Versuchung, die Charaktere zu überzeichnen, es bleibt bei gelungenen Persönlichkeitsskizzen, die im Gedächtnis bleiben. Nur schade, dass (aufgrund der schieren Anzahl der Personen?) kaum Entwicklungen erkennbar sind, und auch gesellschaftspolitische Einordnungen sind nur angedeutet, der Fokus liegt eher auf Momentaufnahmen.

Die Geschichte wird durch den ungemein liebevollen, bisweilen sogar zärtlichen Blick des Autors auf seine Figuren getragen; hier schreibt einer, der die Menschen liebt, mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten.

Bewertung vom 09.06.2023
Als mir die Welt gehörte
Kresser, Bastian

Als mir die Welt gehörte


ausgezeichnet

"Die Geschichten sind da, und ich muss sie erzählen" erklärt Bastian Kresser seine Motivation fürs Schreiben. Sein neuester Roman erzählt die Geschichte des böhmischen Trickbetrügers Victor Lustig, dessen Vita fraglos fasziniert: Vom kleinen Taschendieb und Glücksspieler erklimmt er schnell und überaus gewitzt die kriminelle Karriereleiter, entwickelt als selbsternannter Graf mit der "Rumänischen Schachtel" eine vermeintliche Gelddruckmaschine, veruntreut Wettgelder und Investitionen in Musicals, die nie aufgeführt werden und geht mit einem seiner größten Coups als "Mann, der den Eiffelturm verkaufte" in die Geschichte ein.

Kresser legt seine Geschichte als eine Art Vexierbild an, kaum glaubt man etwas, kippt das Bild und die Wahrheit scheint ganz anders zu sein. Der Autor lässt seinen Protagonisten immer mal wieder die vierte Wand durchbrechen und spielt bewusst mit Unwahrheiten, so dass sich seine Leserschaft nie so ganz klar darüber sein kann, was auf Fakten beruht, oder was hinzugedichtet wurde, um einfach eine gute Story zu erzählen. Letzteres ist definitiv gelungen, wie gebannt habe ich Kapitel um Kapitel verschlungen. Die Liebe des Autors zur Sprache ist auf jeder Seite spürbar, viele fremdsprachliche Ausdrücke und Zitate ergeben ein schönes Lokalkolorit, wenn man Victor Lustig nach Paris und über den Atlantik folgt. Zudem ist der Roman ein psychologisches Meisterstück, indem er nicht nur nachvollziehbar macht, wie derart viele Menschen auf den Hochstapler Lustig reinfallen konnten, sondern man auch Einblicke in das mögliche Bild bekommt, dass dieser Betrüger von seinen Opfern, aber auch von sich selbst hatte.

Ein großartiger Roman, ich sage von Herzen Danke, dass Bastian Kresser diese Geschichte auf unvergleichliche Weise erzählt hat.