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ninchenpinchen
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Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 86 Bewertungen
Bewertung vom 17.03.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


sehr gut

Magisch: nochmal 15 sein

Schon die Leseprobe von Christian Hubers Roman „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ hatte mir außerordentlich gut gefallen, fand ich witzig, unkonventionell, machte mich neugierig. Was mochten wohl die großen Geheimnisse des Protagonisten sein?

1999: Pascal, von allen Krüger genannt, und sein bester Freund Viktor treiben ihr jugendliches Unwesen in Bodenstein an der Naab. Krügers inzwischen alleinerziehende Mutter – im Kleinfamilienernährungsstress - glänzt meistens durch Abwesenheit. Bei Viktor ist es anders. Sein überaus gestrenger Vater ist Lehrer, wegen seiner häuslichen und schulischen Erziehungsmethoden ist er als „der Sergeant“ bekannt.

In Bodenstein gibt es von den Jungs einige sehr angesehene junge Erwachsene: Ayla, Anna und Dave, der Skaterkönig. Denen möchte man imponieren, da möchte man dazu gehören.

Da platzt Jacky, die 16-jährige Zirkusakrobatin, in das Leben und Treiben der Jungs und viele Wertigkeiten verschieben sich.

Der Leser ist mittendrin im spannenden Geschehen und erlebt die Protagonisten hautnah, schaut ihnen über die Schulter, möchte sie oft warnen, sich mit ihnen freuen, mit ihnen feiern. Worauf kommt es wirklich an im Leben?
Zitat, Seite 351: „Jacky und eine Eigentumswohnung. Finanziert durch einen Bausparer und einen Kredit mit Staffelzinsen bei der Sparkasse. Alles abgeschliffene Eiche, Terrakotta-Blumentöpfe auf dem winzigen Balkon, der nur Sonne bekommt, wenn diese sich in den Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuserfassaden spiegelt. Eine Einbauküche aus dem Katalog. Aktenordnerschränke. Nur noch siebzig Jahre abbezahlen, bis man endlich sterben darf, und auf dem Fensterbrett verwelkt das Basilikum.“

Nur eine Sache hat mich gestört und das möchte ich Herrn Huber und auch dem Lektorat ankreiden: Ein Revolver ist keine Pistole und das wird hier leider dauernd durcheinander geworfen. Schade!

Fazit: Wer Coming-of-Age höchster Güteklasse lesen will, der ist hier genau richtig. Ein super-spannender Roman, sogar mit kompletter Musikliste, der sehr leichtfüßig daherkommt und großes Lob verdient. Magisch!

Bewertung vom 22.02.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


weniger gut

Drei Frauen und ein Truthahn

Dieser Roman „Butter“ ist schwierig zu beschreiben, da er keinen roten Faden hat und wenig Struktur. Der Leser weiß an keiner Stelle, wo alles hinführen soll und ist am Ende auch nicht viel schlauer. Von allen asiatischen Romanen, die ich bis jetzt gelesen habe, hat dieser hier mir am wenigsten gefallen. Der Vergleich mit „Die Vegetarierin“ ist auch hinfällig. Manchmal liest sich „Butter“ zäh, oft kommt Langeweile auf, manchmal auch ein Hoffnungsschimmer, aber so richtig glücklich bin ich nicht damit geworden.

Worum geht es nun? Rika, die Protagonistin, ist Journalistin bei einer Frauenzeitschrift und hat sich vorgenommen, die Geschichte von Manako Kajii zu ergründen. M. K. sitzt im Gefängnis und soll mindestens drei Männer getötet haben. Rikas Besuche bei M. K. sind meist sehr mysteriös oder M. K. will sie gar nicht sehen und die Fahrt ins Gefängnis war vergeblich, also Zeitverschwendung. Kajii lügt auch wie gedruckt, so dass weder der Leser noch Rika weiß, was nun Sache ist. Das ist für beide Parteien recht unbefriedigend.

Nun lässt Rika sich von Kajii durch die Geschichte treiben. Da werden Mutter, Schwester und Nachbarn der Gefangenen besucht, da wird Essen gegangen, sogar von ihr angeordneter Sex wird durchgeführt. Ein Kochkurs darf dabei natürlich auch nicht fehlen. Befriedigende Antworten gibt es nie, aber die Autorin versteht es schon hin und wieder den Leser zu schockieren.

Einmal dachte ich auch, huh, jetzt wird es doch noch spannend, als Reiko, Rikas extrem übergriffige Freundin, plötzlich und unverhofft zu Wort kommt. Ab Seite 268. War dann aber doch wieder nichts. Ich konnte mich weder in die eine, Rika, noch in die andere Frau, Reiko, einfühlen und in Kajii schon gar nicht.

Ab Seite 379 dachte ich, das Verhältnis der beiden Protagonisten Rika und Kajii kehrt sich um. Zugunsten von Rika, die endgültig die Oberhand gewönne, weil sie von Natur aus gütig ist und Kajii nie Güte gewohnt war. Aber auch das war nicht so.

Zum Spiel mit den Identitäten. Wer ist wer? Wer erweitert wessen Horizont? Wer erkennt Dinge, die bisher verborgen waren? Oder darf man nur an das glauben, was unmittelbar erreichbar ist? Soll man ein vermeintliches Idol anbeten und Fankult betreiben, oder lieber nicht? Allein oder zu zweit? Dieses Spiel hätte echt was werden können, wurde aber nicht. Schade!
So wurde es lediglich zur Frage aller Fragen, warum es keinen Truthahn geben durfte.

Fazit: Aus meiner Sicht leider nicht empfehlenswert. Viel Butter ja und die lieber essen als darüber lesen. Tolles Coverdesign, aber literarisch unbefriedigendes Verwirrspiel um diese drei Frauen und eine Handvoll Männer. Das können andere besser.

Bewertung vom 14.02.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


sehr gut

Die inneren Ungeheuer

Im Roman „Dschinns“ erfahren wir eine Sicht türkischer Gastarbeiter auf Deutschland. Das arme Deutschland, das kalte und herzlose Land (Seite 9) kommt dabei nicht besonders gut weg. Hier wird das Geld verdient, was in der türkischen Heimat nicht zu verdienen ist und dazu muss man eine fremde Sprache lernen, was der älteren Gastarbeitergeneration meist nicht besonders gut gelingt. (Allen anderen älteren Generationen natürlich auch nicht.)

Da sowohl die Arbeit am Buch, wie auch der Aufenthalt der Autorin hier gefördert wurde, hätte ich mir an manchen Stellen gewünscht, dass unser Land besser dabei weg gekommen wäre. Zwar: Ob das dann noch realistisch gewesen wäre, sei dahingestellt. Das Obligatorische: Bin ich Männlein oder Weiblein? Kommt auch, aber ohne das wohl keine Förderung.

Aber: Worum geht es? Hüseyin, das Oberhaupt dieser Familie, die hier beschrieben wird, stirbt plötzlich und unerwartet nach dreißig Jahren Arbeit in Deutschland in der lange erträumten und frisch erworbenen Eigentumswohnung in Istanbul. Jetzt müssen Frau und die vier Kinder zur Beerdigung von Deutschland in die Türkei fliegen. Und schnell muss es gehen. Sevda, die älteste Tochter und Hakan, der älteste Bruder, schaffen das nicht pünktlich. Emine, die Mutter, gerät bei der Beerdigung mit ihrer Schwägerin aneinander, die sie zutiefst verabscheut. Emine verabscheut Ayşe schon fast ihr ganzes Leben lang. Warum erfahren wir im Lauf der Handlung.

Jedes Familienmitglied bekommt ein Kapitel für sich, auch Perihan, die jüngere Schwester, und Ümit, der jüngere Bruder. Jeder von ihnen trägt seine „Dschinns“ mit sich herum. Die belastenden Dinge, die inneren Ungeheuer, die nicht verarbeiteten Traumata. Es ist ein schwieriges Leben ohne die Wurzeln, die man irgendwo eingraben kann. „Weil man nur dort zuhause war, wo man jemanden hatte, der einen verstand.“ (Seite 275)

Der Roman liest sich extrem flüssig, ist sehr, sehr gut geschrieben, Respekt. Die Autorin ist in Deutschland geboren und dies ist keine Übersetzung. Also: Deutsch ist ihre Muttersprache, wenn sie auch türkischer Abstammung ist. Inwieweit der Roman autobiographisch sein könnte, weiß die Leserin nicht.

Worüber die Leser auch durchaus mal nachdenken sollten, das ist die „Sinnlosigkeit“ unserer deutschen Vorgärten, in denen nur getrimmtes Gras steht und nichts Nahrhaftes wächst. (Seite 95)
Oder weiterhin Nachdenkenswertes: „[…] wie in Deutschland, wo jeder allein in seinem Zuhause sitzt und jede Geldmünze dreimal umdreht und alle immer nur bei der Arbeit oder im Bett sind.“ (Seite 300)

Fazit: Interessante Lektüre, genauso empfehlenswert, wie zwiespältig. Durchaus spannend, bei mir läuft es auf vier Sterne hinaus. Den einen Stern muss ich (leider!) abziehen, da mal wieder ein Protagonist nicht weiß, ob er lieber Männlein oder Weiblein ist. Wenn auch genial eingeflochten. Nicht schlimm das, aber es geht ja im Genderland kaum noch "ohne".

Bewertung vom 06.01.2022
Die Enkelin
Schlink, Bernhard

Die Enkelin


ausgezeichnet

Die Abnabelung aus der alten Welt

In Bernhard Schlinks Roman „Die Enkelin“ geht es zunächst um einen Todesfall. Birgit, die Ehefrau des Buchhändlers Kaspar, stirbt plötzlich und unerwartet. Möglicherweise hat sie auch nachgeholfen, diese genauere Interpretation wird dem Leser überlassen. Der Fund der toten Ehefrau gestaltet sich schon ein wenig gruselig, so möchte wohl niemand seine bessere Hälfte vorfinden.

Auch unerwartet sind die Inhalte von Birgits hinterlassenen Aufzeichnungen, die eigentlich zum Roman anwachsen sollten. Es gab sogar schon einen interessierten Verleger. Kaspar entdeckt also seit Birgits Tod täglich Neues und Unerwartetes und muss sich erst einmal damit arrangieren. Aus Birgits Notizen geht hervor, dass sie zur Zeit ihres Kennenlernens sogar schwanger war und später eine Tochter geboren hat. Der Freundin und Geburtshelferin wurde von Birgit auferlegt, das frisch geborene Mädchen gleich wegzugeben. Kaspar hatte von alledem nichts bemerkt und auch keinen Verdacht in irgendeiner Beziehung. Kaspar erzählt später von Birgit: „Sie hat ihren Ort in der Welt nicht gefunden.“ Seite 229.

Kaspar geht nun auf die Suche und findet die Tochter, Svenja, deren Ehemann und die „Enkelin“. Mit vielen Demütigungen, auch derben finanziellen Zugeständnissen erreicht der nun einsame Mann gelegentliche Besuche von Sigrun, der Enkelin.

Svenja, Birgits Tochter, die ihre Mutter nie kennenlernen durfte, sagt zu Kaspar: „Wir werden die neue Welt nicht erleben. Wir können nur für sie kämpfen. Aber sie wird kommen.“ (Seite 256) Das mutet fast so an, als spräche sie über unsere Gegenwart.

Sigrun, die Heranwachsende, geht in diesem Roman auf ihre ganz persönliche Heldenreise. Und Kaspar, der Stiefgroßvater, gibt Sigrun Hilfestellung dabei. Wie man vielleicht merkt, beschäftigt mich gerade sehr das Thema „Herr der Ringe“. Und ähnlich wie Frodo oder zuvor Bilbo verlässt unsere Sigrun hier das Auenland, sprich die völkische (rechte) Siedlung. Kaspar, der Stiefgroßvater wirkt hier als Verstärker, indem er der Enkelin andere Möglichkeiten aufzeigt. Der Gartenzaun wird also gleichermaßen eingerissen und die Protagonistin erweitert ihr Erlebnisfeld. Die ihr aufgezwungenen Begrenzungen funktionieren nicht mehr. Neue Erlebniswelten werden entdeckt und je nach Möglichkeit tiefergehend erkundet. Es geht hier um wenige Jahre vom Teenager zum jungen Erwachsenen.

Fazit: Welche politische Richtung wir auch vertreten, wir müssen lernen, die andere Seite zu akzeptieren, uns nach Möglichkeit kooperativ zu verhalten. Also in etwa so, wie sich Kaspar Sigrun gegenüber verhält. Vielleicht ist es das, was wir aus dieser Lektüre mitnehmen können. 5 Sterne, verdiente Sterne.

Bewertung vom 30.11.2021
Eifersucht
Nesbø, Jo

Eifersucht


weniger gut

Das kann er besser

Von Jo Nesbøs sieben Kurzgeschichten im Hardcover „Eifersucht“ war ich so dermaßen enttäuscht, dass ich fast keine Worte dafür finde.
Die erste Story „London“ war noch die beste und in der Leseprobe sogar vollständig zu genießen und – große Vorfreude, in der Hoffnung, der Rest wäre genauso gelungen. Aber ganz, ganz weit gefehlt.

Die Geschichten plätschern dahin, langweilig, platt, vorhersehbar und dieses großen Autors eher unwürdig. Schnipsel aus dem Notizbuch, zu kleinen Geschichtchen eilig und lieblos zusammengeschustert. So hat es jedenfalls auf mich gewirkt. Wurde da seitens des Verlages zu viel Druck gemacht? Und war keine Zeit für ein großes Werk, wie z. B. „Ihr Königreich“, einer der besten Kriminalromane, die ich je gelesen habe – und ich habe viele gelesen. Wirklich viele!!!

Das Buch an sich ist nett anzuschauen mit interessantem Cover,wenn man diesen Stil mag, blauem Schnitt, blauem Vorsatzpapier und blauem Lesebändchen.

Die Titelgeschichte „Eifersucht“ ist zwar nicht unspannend, aber mit zu viel und zu langatmiger sooo ausführlicher Kletterei. M. E. nach nicht wirklich interessant für die Nicht-Bergsteiger unter uns. Und das Ende dieser Geschichte kann man sich mit ein wenig Denksport selbst zusammenreimen.

Fazit: Leider überhaupt nicht empfehlenswert. Den zweiten Stern gebe ich nur, weil ich den Autor toll finde. Also: Kauft euch lieber „Ihr Königreich“, diesen raffiniert irren Wahnsinnskrimi, der ist jedes Geld wert.

Bewertung vom 15.11.2021
Meeressarg / Fabian Risk Bd.6
Ahnhem, Stefan

Meeressarg / Fabian Risk Bd.6


sehr gut

Blutbad in Kopenhagen

Meeressarg von Stefan Ahnhem ist bereits der 6. Kriminalroman mit Kommissar Fabian Risk. Der dicke Krimi mit den 504 Seiten liest sich sehr flüssig, trotz der vielen Protagonisten, und es macht nichts, wenn man die Vorgänger nicht kennt. So wie ich. Es würde sicher dennoch lohnen, eine Reise in der Vergangenheit anzutreten und die Vorgeschichte von Fabian Risk und dem allseits verhassten Kim Sleizner zu erkunden.

Fabian Risk hat jetzt seinen Sohn verloren und das erfährt man bereits in der Widmung am Anfang. Theodor ist nur sechzehn Jahre alt geworden, er hat sich umgebracht, im Knast, und Fabian untersucht die seltsamen Umstände. Obwohl Frau und Tochter die Sache ruhen lassen wollen.

Dann gibt es noch Dunja Hougard, Risks frühere, in Ungnade gefallene Kollegin. Die ermittelt im Untergrund intensiv und unerschrocken gegen Kim Sleizner. Gemeinsam mit dem Asiaten Qiang, dem Inder Fareed und manchmal auch mit Michael Rønning.

Tja … und wie sind der Mann und die Frau zu Tode gekommen, die in dem Auto am Meeresgrund liegen? In dem Auto, das für die beiden zum titelgebenden Meeressarg wurde?

Kim Sleizner, der überaus korrupte Polizeichef von Kopenhagen setzt Jan Hesk in der Sache als Chef-Ermittler ein, weil er glaubt, dass der ihm gegenüber so loyal ist, dass da nichts passieren kann. Aber da hat er sich gewaltig getäuscht.

Von dem Paar in zwei Kajaks, die im verheißungsvollen Prolog den Meeressarg entdeckt haben, hätte ich gern mehr erfahren. Schade.

Gestört hat mich zudem der zeitliche Ablauffehler auf den Seiten 119 – 121, der so leicht hätte vermieden werden können.

Fazit: Wer einen überaus spannenden Krimi lesen möchte, der das Wort „Pageturner“ mehr als verdient hat, der ist hier richtig. Zumal fast jedes Kapitel mit einem Cliffhanger endet und man unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Vier Sterne.

Bewertung vom 26.10.2021
Die letzten Romantiker
Conklin, Tara

Die letzten Romantiker


ausgezeichnet

Coming of Age x 4

Bei manchen Büchern weiß man instinktiv schon im Vorfeld, dass sie gefallen werden. Würde man sie sonst lesen?

„Die letzten Romantiker“ gehen über ganze Leben, mindestens aber über vierzig Lebensjahre. Die Ich-Erzählerin Fiona steht sogar mit einhundertzwei Jahren noch auf der Bühne und der Roman beginnt, als sie vier Jahre alt ist. Da ist ihr Bruder Joe sieben und die Schwester Caroline acht und zur Vervollständigung des Quartetts Renee elf Jahre alt.

Der Vater stirbt jung und unerwartet. Da zieht die Mutter sich zurück – in die große Pause – wie die Auszeit von den Kindern genannt wird. Die vier Kinder sind auf sich gestellt, mehr oder weniger. Denn die Mutter kommt nur sporadisch aus ihrem Zimmer, backt mal einen Geburtstagskuchen, ist aber meistens unerreichbar für die Kinder. Wenn auch physisch anwesend, so dauert doch die große Pause etwa drei Jahre.

Alle vier Kinder entwickeln sich so unterschiedlich, wie es nur sein kann. Renee, die Älteste, kümmert sich – so gut sie kann – um ihre Geschwister, ist aber oft völlig überfordert. Joe glänzt mit sportlichen Höchstleistungen und rettet Caroline und Fiona aus unterschiedlichen bedrohlichen Lebenslagen.

Der Roman gliedert sich in vier Teile: Kindheit und Jugend in Bexley, die jungen Erwachsenenjahre in NYC, später dann Miami und noch später wieder hier und da. Zwischendurch springen wir mit Fiona ganz weit in die Zukunft, ins Jahr 2079.

In der Danksagung am Ende erwähnt die Autorin, dass ihre Idee zu diesem Buch einer Familientragödie entsprang, die sie mit großer Beklommenheit erforscht hat. Wessen Familientragödie bleibt offen oder ob sich möglicherweise Autobiographisches hier verbirgt. Und dass dieses Buch lange gebraucht hat, ist glaubwürdig. Denn, so lange es gebraucht haben mag, es wird auch lange nachwirken.

Ich war gar nicht in der Lage, so schnell einen neuen Roman anzufangen, obwohl mir schon zwei Bücher aus dem Schrank ungelesener Bücher heftig zuwinken.

Die Figuren sind so durchdacht, wie man es nur selten findet. Ebenso die Dialoge. Hier erleben wir Schicksale, die sich so oder sehr, sehr ähnlich abgespielt haben müssen. Wir tauchen als Leser tief ein, so tief wie Fiona in den See der Kindertage. (S. 39/40)

Obwohl ich selbst keine Geschwister habe, glaube ich jetzt zu wissen, wie sich geschwisterliche Nähe, Entfremdung und erneute Nähe anfühlen. Und überhaupt lesen und erfahren wir, nebst Lügen, Geheimnissen und Verrat, wie unterschiedlich Menschen sein können, welche Lebensziele sie haben, was ihnen wichtig ist und wie sie bereuen, manches versäumt zu haben, was sich nicht nachholen lässt.

Und jetzt verspüre ich Lust und Bedürfnis, mir „The House Girl“, Tara Conklins Debüt, näher anzuschauen.

Fazit: Weit eindrucksvoller, als Titel und Cover erahnen lassen. Eins der Jahreshighlights auf jeden Fall. Unvergesslich. Wirkt nach. Lädt zum Noch-Einmal-Lesen ein. *****

Bewertung vom 05.10.2021
Was fehlt dir
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


gut

Fallbeispiele

Wenn ich sagen sollte, warum ich „Was fehlt dir“ lesen wollte, gäbe es nur diese Antwort: Ich fand es gleichermaßen verstörend wie gemütlich (hygge!) mit einer sterbenden Freundin in ein unbekanntes Haus zu ziehen. Vorübergehend natürlich.

Und nicht beleidigt zu sein, wenn zwei bessere Freundinnen dieses Ansinnen schon abgelehnt hatten.

Bald sterben kann auch lustig sein. Ich erinnere mich selbst noch daran, wieviel Spaß wir zu dritt hatten beim Abschied von der Mutter meiner Freundin. Die zum aktiven Sterben in die Schweiz fahren wollte und das dann auch tat. Natürlich haben wir am Ende des Abends geheult, aber vorher haben wir gelacht. Das war hoch emotional, so ist dieses Buch auch.

Im ersten Teil gibt es verschiedene Geschichten. Treffen oder Telefonate mit dem Ex. Ein sprechender Kater, der seine wechselvolle, außergewöhnliche Lebensgeschichte erzählt.

Und Erinnerungen der namenlosen Protagonistin an höchst merkwürdige Besuche bei einer alten Dame. S. 103: „Und wie ist es möglich, gleichgültig, um was es geht, wenn sie [gemeint ist hier die alte Dame] sich entscheiden muss zwischen dem, was Sean Hannity von Fox News sagt, und dem, was ihr eigener Sohn sagt, dass sie immer Sean Hannity glaubt.“ Kommt uns das beim herrschenden Zeitgeist bekannt vor? Oder auf S. 105: „Wenn sie nie ferngesehen hätte, sagte er [der Sohn der alten Dame], wäre sie nicht so, das weiß ich.“

Im Mittel- und Hauptteil geht es dann – relativ kontinuierlich – um die 24-stündige Begleitung der sterbenden Freundin, nebst Einkaufen und Putzen.

Ich glaub, ich muss auch mal irgendwo irgendwann eine Airbnb-Übernachtung buchen – mit inklusiver Geschichten erzählender Katze versteht sich. Es ist doch auch spannend in Behausungen anderer Leute zu übernachten. Letztens traf ich einen Mann mit Hund, der ließ die Hundesitterin immer bei sich im Gästezimmer übernachten, wenn er auf Reisen war. Wie aufregend!

Fazit: Das Buch kommt gleichermaßen leichtfüßig wie tiefgründig daher. Es wird nicht jedermanns Sache sein, diesem „Gedankensalat“ zu folgen. Ich tat es – sogar gerne, aber dennoch fehlte mir etwas, möglicherweise Struktur oder ein Erzählfluss, ich kann es nicht genau benennen.

Bewertung vom 01.10.2021
Diese Frauen
Pochoda, Ivy

Diese Frauen


gut

Im Land der begrenzten Möglichkeiten

In diesem Kriminalroman, der aber kein richtiger Kriminalroman ist, werden sechs Frauen miteinander verbunden: Essie, die Ermittlerin; Feelia, die Davongekommene; eine Mutter, eine Ehefrau, ein Opfer und eine Tochter.

Das Ganze spielt in Los Angeles und dort zu leben, erscheint alles andere als wünschenswert. Seite 267: „Die Rinnsteine füllen sich. Es rauscht in den Gullys. Der Müll, der nie entsorgt wird, wirbelt herum, fließt davon. Ein Fluss aus Getränkedosen, Styroporbehältern und Verpackungen strömt am Straßenrand entlang.“
Ein Mann fährt in einem Auto in L. A. herum und DIESE FRAUEN steigen oft ein aber nie wieder aus. Der Mann hat schon viele Frauen umgebracht, aber da es DIESE FRAUEN sind, wird nicht ermittelt. Wird Hinweisen nicht nachgegangen. Werden Anrufe nicht ernst genommen. So landen sie in der Gosse mit durchgeschnittener Kehle und einer Plastiktüte über dem Kopf.

Ivy Pochoda kann schreiben, ist kreativ, hat gute Ideen – ohne Zweifel. Sicherlich hat auch die Übersetzerin ihre Arbeit sehr gut gemacht. Dennoch hat mir etwas gefehlt, vielleicht ein roter Faden, vielleicht hier und da etwas Spannung und manchmal auch die Lust weiterzulesen. Bei dem Vorroman „Visitation Street“ ging es mir genauso. Er war gut geschrieben, die Protagonisten waren perfekt ausgeleuchtet, aber irgendwie fehlte etwas. Es ehrt die Verfasserin, dass sie DIESEN FRAUEN – gemeint sind die, die ihre Körper verkaufen – eine Stimme geben will, sie sichtbar machen will, aber hätte da ein Sachbuch vielleicht eher diesen Zweck erfüllt?

Ich habe mal darüber nachgedacht, was denn nun einen Krimi ausmacht. Und denke, das sind in erster Linie die Ermittlungen, an denen sich der Text entlang hangelt. Hier sind die Ermittlungen eher Nebensache, kommen fast wie zufällig daher. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum mir der rote Faden fehlt. Die Ereignisse wirken wie die aneinander gereihten Lebensgeschichten der sechs Protagonistinnen nebst Familie, Freunden, Kollegen. Mit manchen Sprüngen vor und rück. Da mangelt es an einem durchgehenden Konzept.

Fazit: So wirklich begeistern konnte mich dieser Roman nicht. Auch wenn er uns teilweise die Augen öffnet, wie es im so hoch gelobten Land Amerika in den Großstädten (vermutlich) wirklich aussieht. Da können gut aussehende Frauen ihr benötigtes Geld nur mit Prostitution verdienen und überall stinkt es, brennt es und liegt Müll herum. Na ja, mehr als 3 Sterne sind da nicht drin.

Bewertung vom 15.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Mit innerer Stärke souverän das Böse überwinden

Zu Beginn dieses wunderbaren Märchens ist Martin elf Jahre alt. Er ist der einzige Überlebende in seiner Familie, denn sein Vater brachte die Mutter und die Geschwister um. Und sich im Anschluss.

Aber Martin ist nicht allein, er hat einen einzigartigen Freund: den schwarzen Hahn. Der Hahn fand ihn schon als Baby, zwischen all den Körnern im Hühnerstall und ab da waren sie unzertrennlich. Und Martins Eltern ließen sie, zu dem Zeitpunkt lebten sie ja noch.

Nach dem Attentat lebt Martin mehr schlecht als recht in der Hütte. Die meisten Leute im Dorf sind misstrauisch, sie sind böse und dumm, wollen mit ihren Fehlern in Frieden leben. (S. 53) Und Martin ist klug und gut und das passt nun mal nicht zusammen. Und das nervt sie gewaltig.

Als ein Maler ins Dorf kommt, um ein großes Altarbild zu malen, gehen Martin und der Hahn mit ihm fort, als dieses Werk vollendet ist.

Im Land herrscht Krieg, Elend und Hunger. S. 168: „Weil nur die niedrigste Gesinnung in solchen Zeiten überlebt, denn Güte und Ehre brauchen genug zu fressen.“ Dazu werden in jedem Jahr zwei Kinder geraubt. Ein Junge und ein Mädchen. Die werden später dauer-betäubt und leiden. Und tauchen in der Regel danach nicht wieder auf.

Das Büchlein hat nur 223 Seiten, aber wir alle können viel daraus lernen. Denn Martin meistert seine Lebensaufgabe mit Bravour, Feingefühl und gewaltiger innerer Stärke. Er kann sogar Leben einhauchen. Gottgleich? Er hilft bei einer Geburt, als die Dorfhebamme sich weigert, zu erscheinen. Seite 172: „Sie [gemeint ist hier die Hebamme] kommt nicht, sagt Martin, als er wieder bei Frau und Reiter ist. Und so müssen sie es allein schaffen. Martin voller Mut. Mit diesem Vertrauen in eine Welt, die es nur in ihm gibt. Die er dem Kind einhaucht, das sich mit dem ersten Atemzug schwertut.“

Ich möchte noch den Beginn des Kapitels 22 auf Seite 144 erwähnen: "Nach und nach offenbaren sich die Regeln für das Leben auf der Burg. Wobei beliebig Regeln hinzuwachsen oder verschärft werden, aber nie aufgekündigt. Es gibt ein schwammiges Grundsätzliches, der Rest ist Glück oder Pech, man fährt wohl am besten mit Angst und Misstrauen ..." Hier mag jeder selbst überlegen, ob ihm das irgendwie bekannt vorkommt?

Fazit: Dieses feine Büchlein möchte ich jedem ans Herz legen, denn es macht Mut – gerade in dieser schwierigen Zeit. Es ist wirklich ein außergewöhnlicher Debütroman, eine literarische Entdeckung, wie schon im Klappentext vermerkt und verdient unsere höchste Anerkennung. Glanzvoll verdiente 5 Sterne dafür.