Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Alais

Bewertungen

Insgesamt 184 Bewertungen
Bewertung vom 06.04.2022
Monster auf der Couch
Strandberg, Mats;Jägerfeld, Jenny

Monster auf der Couch


sehr gut

Wenn sich ein Buch nicht in eine Schublade packen lässt, dann dieses! Lange rätselte ich, was ich da überhaupt vor mir habe, und war doch bzw. gerade deshalb gleich fasziniert. Worum es geht: Monster (oder drücken wir es freundlicher aus: therapiebedürftige Gestalten) aus alten Klassikern wie Stevensons „Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“, Oscar Wildes „The Picture of Dorian Grey“ oder auch der Vampirgeschichte „Carmilla“ aus „In a Glass Darkly“ von Sheridan Le Fanu landen auf der Couch einer Psychologin aus unserer Zeit.
Die Therapiegespräche sind erstaunlich. Die Erzählungen der Patienten und Patientinnen folgen in Erzählweise und Inhalt eng den literarischen Vorlagen aus den klassischen Werken und passen doch hervorragend in die hier neugeschaffene Situation „auf der Couch“. Teilweise entsteht ein interessanter Kontrast zu den modernen Einstellungen der Psychologin, teilweise wird aber auch eine Brücke geschlagen und die Gemeinsamkeiten der Menschen der verschiedenen Zeiten treten zutage.
Gerade auch die moderne Rahmenhandlung mit der Psychologin gibt jede Menge Rätsel auf, die durch spannende Details der Buchgestaltung untermalt werden. Da finden sich von Hand geschriebene Briefe der Patienten und Patientinnen an die Psychologin, Zeichnungen, rätselhafte Flecken … Ich liebe diesen „authentischen“ Touch, der mir hilft, mich beim Lesen wie ein Teil der Welt des Romans zu fühlen. Ein wenig erscheint mir das auch eine Hommage an den irischen Klassiker „In a Glass Darkly“ von Sheridan Le Fanu zu sein, dessen Erzählungen als posthume Dokumente eines Arztes dargestellt werden. Auch die Psychologin ist zu dem Zeitpunkt, da wir uns durch die von ihr hinterlassenen aufgezeichneten Therapiegespräche lesen, nicht mehr da …
Letztendlich ließ mich „Monster auf der Couch“ ein wenig ratlos zurück. Einerseits hatte es mich begeistert und ich fand es ganz wunderbar, weil es ausgetretene Pfade verlässt und seinen ganz eigenen Weg geht. Es kam meiner Liebe zu Klassikern der (Horror-)Literatur, zur Psychologie, zur Geschichte und zu außergewöhnlichen Erzählungen, die mit einem Augenzwinkern erzählt werden, sehr entgegen.
Andererseits schwächelte es für mich im letzten Teil ein wenig, was vor allem an dem Patienten Dorian Grey lag, dessen fürchterlich flacher Charakter mich langweilte, sodass ich die Therapiegespräche mit ihm nicht so genoss wie mit den anderen Gestalten. Auch hätte ich mir das im Übrigen erfreulich überraschende Ende noch etwas ausgeschmückter gewünscht. Zumindest Letzteres ist aber Jammern auf hohem Niveau: unterm Strich ist „Monster auf der Couch“ für mich vor allem ein außergewöhnliches, humorvoll-skurriles Buch, das mich auf vielerlei Weisen fasziniert und ganz wunderbar unterhalten hat.

Bewertung vom 28.03.2022
Papier & Blut / Die Chronik des Siegelmagiers Bd.2
Hearne, Kevin

Papier & Blut / Die Chronik des Siegelmagiers Bd.2


ausgezeichnet

Leicht verrücktes Fantasyabenteuer, mit cleverem Humor und grandioser Lässigkeit erzählt:
Dies ist bereits der zweite Band der Chronik des Siegelmagiers, aber wer (wie ich) den ersten Band nicht gelesen hat, kann ganz beruhigt sein: Am Anfang steht eine ausführliche Zusammenfassung der Ereignisse aus dem ersten Band. Ich fühlte mich dadurch ausreichend informiert und hatte keinerlei Mühe, in die Geschichte einzutauchen.
Kevin Hearne erzählt aber auch auf eine unnachahmlich lässige Weise, die mich gleich begeisterte. Sie wirkt auf positive Art wunderbar amerikanisch und umfasst herrlich lustige Dialoge (großes Lob an das Übersetzerteam für die gelungene Übertragung ins Deutsche!). Worum es eigentlich geht: Der schottische Siegelmagier Al MacBharrais ist beunruhigt – zwei befreundete Siegelagentinnen sind in Australien verschwunden. Zusammen mit dem Hobgoblin Buck, der in seinem Dienst steht, bricht er auf eine gefahrvolle Reise auf, um sie zu suchen …
Buck war für mich ganz eindeutig der Star dieses Fantasyromans. Der Hobgoblin sorgt mit seiner gnadenlosen Geschwätzigkeit und Respektlosigkeit für gute Laune und bildet einen guten Gegenpol zum ernsteren Siegelmagier Al, der aufgrund eines Fluches (alle, die sich länger mit ihm unterhalten, beginnen, ihn zu hassen) für die Kommunikation mit anderen auf eine Sprach-App angewiesen ist. Wer Fan des Eisernen Druiden aus Kevin Hearnes anderen Romanen ist, kann sich außerdem auf ihn und seine beiden Hunde Oberon und Starbuck freuen. Und dann gibt es noch einige weitere schillernde Figuren ...
Die Handlung erschien mir wild, skurril und ereignisreich – leider auch oft sehr blutig, wenn auch nicht mit der voyeuristischen Detailgenauigkeit beschrieben, die man von schlechteren Thrillern kennt. Die Monster, von denen es reichlich gibt, werden allerdings als ziemlich plump und primitiv dargestellt. Das fand ich ein bisschen schade. Sie ähneln völlig emotionslosen Tötungsmaschinen, sodass es innerhalb der Erzählung akzeptabel erscheint, sie mit der gleichen Emotionslosigkeit niederzumetzeln – ich weiß nicht ganz, was ich davon halten soll … Undifferenziertes Denken würde ich dem Autor nämlich dennoch nicht unterstellen, dafür stellt er die meisten Handlungsfiguren zu vielschichtig dar und auch Empathie kommt in der Erzählung immer wieder zum Tragen.
Ausgestattet ist das Buch im Übrigen im hinteren Teil mit einem kurzen Glossar mit Hinweisen zur Aussprache (insbesondere für die vorkommenden gälischen Namen von Sagenwesen und der einen oder anderen Gottheit sehr nützlich, obwohl ich in solchen Fällen auch gerne gnadenlos meine eigene Aussprache erfinde).
Eine schöne Lektüre für Fantasyfans, souverän und mit cleverem Humor erzählt!

Bewertung vom 07.03.2022
Ancora
Hadler, Colin

Ancora


ausgezeichnet

Ein brillanter Pageturner, der mit magischem Realismus und Tiefgründigkeit aufwartet:
Tiefe, urwüchsige Wälder, inmitten dieser Wildnis Ancora, eine Dorfgemeinschaft, die sich sorgfältig von der übrigen Welt entfernt hält, und ganz in der Nähe geheimnisvolle, verlassene Ruinen … Vor diesem Hintergrund entfaltet der Autor eine spannende Geschichte rund um Romy, die zusammen mit ihren Freunden Aurel und Yannis in Ancora einen Urlaub der besonderen Art, ohne Smartphone oder jegliche andere moderne Technik, erleben möchte und keine Ahnung hat, auf was für ein gefährliches Spiel sie sich dabei einlässt …
Ganz kurz hatte ich zu Beginn aufgrund der Naturverbundenheit der Dorfbewohner, die geradezu religiöse Züge zu tragen scheint, die Befürchtung, diese Geschichte könnte sich in Richtung des furchtbar blutigen Horrorfilms Midsommar entwickeln, aber da habe ich den Autor Colin Hadler zum Glück unterschätzt. Auch wenn es ab und zu schön gruselig wird – er schlägt einen anderen, seinen ganz eigenen Weg ein und fesselte mich mit einer Erzählung, die mich immer wieder überraschte, mit magischem Realismus verzauberte und mit ihrer Tiefgründigkeit begeisterte.
Die Ancora umgebende Wildnis beschwört natürlich die Erinnerung an alte Legenden, aber auch die Handlungsfiguren wirken jede auf ihre Art besonders. Sie sind vielschichtig aufgebaut und werden so lebendig geschildert, dass es mir als Leserin leichtfiel, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Gleichzeitig hatte ich immer den Eindruck, dass sie etwas zu verbergen haben … Romy selbst ist mutig, warmherzig, zu Selbstkritik in der Lage und anderen Menschen offen begegnend – wie man es leider nur selten antrifft. Und auch in einem anderen Punkt ist sie alles andere als normal … aber ich will nicht zu viel verraten!
Ein Buch, das sich schnell und leicht liest, mich ganz in die besondere Atmosphäre des Dorfes und der umgebenden Wildnis eintauchen ließ und dabei immer wieder faszinierte und tief berührte.

Bewertung vom 26.02.2022
Mrs Agatha Christie / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.3
Benedict, Marie

Mrs Agatha Christie / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.3


ausgezeichnet

Unglaublich, aber wahr: Es ist nun schon über 100 Jahre her, dass der erste Roman von Agatha Christie veröffentlicht wurde. Doch meine Lieblingsautorin gab den Menschen nicht nur in ihren Büchern Rätsel auf, sondern auch durch ihr geheimnisvolles elftägiges Verschwinden 1926 ... Eine Episode, die bereits zu einem, wie ich finde, eher blassen Film mit Vanessa Redgrave und Dustin Hoffman, zu einer einfach wunderbaren Folge der britischen Doctor-Who-TV-Serie und nun die Autorin Marie Benedict zu diesem spannenden Roman mit einer so erstaunlichen wie plausiblen These inspirierte ...
Marie Benedict blickt dabei auf die junge Agatha von der Zeit des Kennenlernens ihres Mannes Archie (dem sie den Nachnamen Christie zu verdanken hatte) 1912 bis zu ihrem mysteriösen Verschwinden 1926. Erzählt wird in zwei Zeitsträngen, die sich allmählich einander annähern, und aus zwei verschiedenen Perspektiven – aus Archies und aus Agathas Sicht, deren Unterschiedlichkeit der Erzählung eine gewissen Würze verleiht.
Faszinierend war für mich unter anderem die unterschiedliche Wahrnehmung des Kindermädchens Charlotte durch Archie (der sie völlig unterschätzt) und Agatha (von der sie hochgeschätzt wird) - und wie diese dann jeweils auch auf mich abfärbte. Und dies selbst bei Archie, der in diesem Roman als ziemlich borniert dargestellt wird. Es erscheint unglaublich, dass sich die wegen ihrer tiefen Menschenkenntnis so berühmte Autorin ausgerechnet in so einen Mann verliebt haben soll. In ihrer Autobiographie zeichnete Agatha Christie allerdings auch ein gnädigeres Bild von ihm – und doch lässt sich erkennen, dass Marie Benedict genau diese für ihren Roman eifrig studiert hat. Viele Details, ob Kleidung oder ein Satz, den ihre Tochter Rosalind zu Agatha sagte, fand ich in der Autobiographie, die ich parallel zur Lektüre durchblätterte, wieder. Das hatte ich ehrlich gesagt gar nicht erwartet, sondern reine Fiktion. Umso plausibler erscheint dann natürlich die (wenn auch zwangsläufig fiktive und fantastische) Erklärung, die die Autorin in diesem Werk für die fehlenden Tage in der Biographie ihrer berühmten Kollegin vorlegt ...
Ein Buch mit vielen Facetten - in einer sehr ansprechenden, wohlklingenden deutschen Fassung von Marieke Heimburger, spannend, bewegend, empfehlenswert für alle Freunde und Freundinnen der Kunst des Erzählens ...

Bewertung vom 17.02.2022
Finne dein Glück
Gieseking, Bernd

Finne dein Glück


ausgezeichnet

Ein liebevoller Blick auf finnische Kultur und Begabung zum Glücklichsein - unterhaltsam geschrieben und erkenntnisreich:
Bernd Gieseking, Kabarettist und Autor, berichtet in diesem Buch liebevoll staunend von seiner Reise durch das Land, das jede Glücksweltmeisterschaft zu gewinnen scheint, und seinen Begegnungen und Gesprächen in verschiedenen Orten Finnlands mit Menschen, die dort leben.
Das klingt jetzt viel kitschiger als es ist: Tatsächlich fügen sich die einzelnen Kapitel, in denen so spannende Dinge wie Saunamützen und das Jedermannsrecht vorkommen, zu einem facettenreichen Bild zusammen, das auch Schattenseiten des Lebens in Finnland zeigt. Jedes Kapitel wird jedoch mit mindestens einem Glückstipp abgeschlossen – manchmal leider nur für Finnlandreisende geeignet, manchmal aber auch von zuhause aus umsetzbar.
Gieseking erzählt kurzweilig, oft mit einem sympathischen, erfrischenden Humor und stets auf eine angenehme, respektvolle Art. Dabei nimmt er die Suche nach dem Geheimnis des finnischen Glücks sehr ernst und gelangt am Ende zu, wie ich finde, interessanten Schlussfolgerungen.
Eine schöne "buchige" Reise voller Leseglück!

Bewertung vom 27.01.2022
Eine Geschichte des Lebens - auf zehneinhalb Arten erzählt
Taylor, Marianne

Eine Geschichte des Lebens - auf zehneinhalb Arten erzählt


sehr gut

Marianne Taylor präsentiert mit ihrem Buch eine wahre Schatztruhe des Wissens rund um das Thema Evolution. Die einzelnen Kapitel sind jeweils einer bestimmten Art gewidmet, beleuchten aber hauptsächlich verschiedene Aspekte des Lebens. Dabei wurden unter anderem mir kaum bekannte Lebewesen gewählt, wie der Zimtfarn (eine seit rund 180 Millionen Jahren im Wesentlichen unveränderte Art), der Nautilus (das so wunderhübsche und geheimnisvoll wirkende Covermodel) oder auch die Schwarze Strandammer (eine sehr traurige Geschichte), und auch Erscheinungsformen wie Viren, die zeigen, dass die Definition von Leben nicht immer einfach ist ...
Ich war bei diesem Buch ein bisschen hin- und hergerissen. Einerseits begeisterte es mich mit vielen faszinierenden Einblicken in die Vielfalt des Lebens und in dessen Geschichte. Ein bisschen konnte ich altes Schulwissen reaktivieren, vor allem aber auch viel Neues lernen. Die Gestaltung ist so farbenfroh, wie ich es liebe, und umfasst viele absolut atemberaubende, künstlerische Fotografien sowie einige hilfreiche Grafiken. Wichtige und hochaktuelle Fragen werden angesprochen und ich habe selten ein Buch gelesen, in dem das Ausmaß der menschlichen Schuld am derzeitigen Massensterben von Arten so erschütternd klar und deutlich dargelegt wird.
Andererseits fühlte ich mich auch oft von der Fülle von Fakten erschlagen und hätte mir manchmal weniger Details und mehr große Linien gewünscht. Zum Ende hin hatte ich das Gefühl, dass entweder mir oder der Autorin etwas die Luft ausging - und ich sah im letzten Kapitel eine große Chance verpasst, näher auf das Potenzial unfassbarer Entwicklungen der letzten paar Jahre, über die viel zu wenig berichtet wird und die daher vielen Menschen gar nicht bewusst sind, einzugehen, wenn dieses Potenzial auch durchaus angesprochen wurde.
Unter dem Strich war es für mich aber eine Lektüre mit vielen Wow-Momenten und bleibt für mich ein Buch, das ich zum Nachschlagen und Wiederlesen immer wieder gerne in die Hand nehmen werde.

Bewertung vom 05.01.2022
Perfect Day
Hausmann, Romy

Perfect Day


sehr gut

Ein wendungsreicher Thriller, der an ein düsteres, modernes Märchen erinnert
"Perfect Day" ist ein Thriller, der schon mit seiner Haptik (der Titel auf dem Cover fühlt sich wie Kreideschrift an) vermittelt, etwas ganz Besonderes zu sein, und dieses Versprechen hält er auch.
Worum es geht: Als ihr Vater mit dem Vorwurf, mehrere kleine Mädchen ermordet zu haben, verhaftet wird, fühlt sich das für Ann so an, als würde sie sterben. Ann kann nicht glauben, dass ihr geliebter Vater so etwas Schlimmes getan haben könnte, und möchte sich auf die Suche nach dem wahren Mörder begeben - womit sie sowohl sich als auch andere in große Gefahr bringt ...
Wer nun allerdings einen vorhersehbaren Handlungsablauf erwartet, wird sich wundern ...
Der Thriller geht unter die Haut. Die verschiedenen Handlungsfiguren werden mit viel Einfühlungsvermögen geschildert und gleichzeitig geben sie Rätsel auf. So fühlte ich mich Ann sehr nahe und zugleich wusste ich lange nicht, inwieweit ich ihr und ihrer Wahrnehmung überhaupt trauen kann, denn das Verhalten der Personen, die sie auf ihrer Suche trifft bzw. die sie begleiten, erschien mir manchmal sehr seltsam und nicht ganz logisch. Und tatsächlich sind auch nicht alle, die ihr begegnen, das was, sie auf den ersten Blick zu sein scheinen ... Im ganzen Buch herrscht ferner eine leicht gruselige, geheimnisvolle Atmosphäre, sodass ich mich teilweise wie in ein düsteres modernes Märchen versetzt fühlte.
Auch der Aufbau ist ungewöhnlich: Es gibt Einschübe mit von einem kleinen Kind verfassten Definitionen von Gefühlen wie Wut oder Zuversicht. Andere Einschübe geben Einblick in die verworrene Welt eines tief gestörten Täters und trugen sehr zu meiner weiteren Verwirrung bei.
Die Aufklärung zum Schluss hat mich ein bisschen enttäuscht, weil ich die Tätermotivation nicht überzeugend genug fand, aber dem Thriller ist es gelungen, mich immer wieder zu überraschen und rätseln zu lassen - und genau das erwarte ich von einer guten Thrillerlektüre.

Bewertung vom 10.11.2021
Stell dir vor ...
Hopkins, Rob

Stell dir vor ...


ausgezeichnet

Über die unterschätzte Kraft der Fantasie
Dieses liebevoll gestaltete Buch mit seinem praktischen sonnengelben Lesebändchen kam für mich genau zur richtigen Zeit, da ich schon kurz davorstand, unter anderem in puncto Klimawandel die Hoffnung für die Menschheit komplett aufzugeben und mich in das Schneckenhaus des Zynismus zurückzuziehen.
Rob Hopkins verleugnet den Ernst der Lage nicht, wedelt aber auch nicht mit dem Zeigefinger. Statt anzuklagen oder zu resignieren hat er viele erstaunliche Ideen, Projekte und Ansätze aus aller Welt zusammengetragen, wie Menschen auf angenehmere, farbenfrohere, freundlichere und vor allem eben oft umweltfreundlichere und klimaschonende Weise ihr Zusammenleben und ihre Städte gestalten. Inspirierende Beispiele, die neuen Mut schenken, bei denen ich mich aber auch oft fragte, warum ich erst jetzt davon höre, und warum ihnen generell so wenig Platz in der Medienberichterstattung eingeräumt wird. Eine bessere Gestaltung unserer Gesellschaften kann doch eigentlich, das beweist dieses Buch, ein mitreißendes Thema sein.
Als wichtige Kraftquelle, um die Herausforderungen zu bewältigen, die sich uns in einem immer bedrohlicheren Ausmaß stellen, sieht er die Fantasie. Dabei benutzt er bewusst den zu Unrecht oft verachteten Begriff "Fantasie" statt "Kreativität" und zeigt, wie hilfreich nicht nur eine größere Rolle der Fantasie in den Bildungssystemen der Kinder, sondern auch Kunstprojekte für Erwachsene sein können, um Probleme zu bewältigen.
Diese analytischen Betrachtungen und auch Meinungen und Forschungsergebnisse aus der Wissenschaft, die Hopkins in seinen Text einfließen lässt, vor allem aber die Kraft, die diese unterschiedlichen Projekte entfalten, waren für mich sehr spannend.
Es ist einfach ein tolles Buch, das ermutigt, die eigene Fantasie mehr wertzuschätzen und vielleicht selbst solche Projekte anzustoßen oder sich bestehenden Projekten anzuschließen.

Bewertung vom 28.10.2021
Schwarzes Herz
Kuhnke, Jasmina

Schwarzes Herz


ausgezeichnet

Ein packender Roman – authentisch, berührend und schonungslos erzählt, bis es schmerzt
„Ich schreibe, um anderen Frauen Hoffnung zu geben, damit sie sich nicht schämen und sich ihrem Schicksal ergeben. Ich will, dass du weißt: Du bist nicht allein. Du kannst es schaffen.“ S. 7
Dieses Buch lässt nicht unberührt. Belastende Themen wie Frauenhass, Mobbing und Rassismus in der Gesellschaft stehen im Zentrum dieses Romans, der auf brillante Weise den Lebensweg einer jungen Mutter nachzeichnet – von frühen Rassismuserfahrungen über eine toxische, von Gewalt geprägte Beziehung bis hin zur Suche nach einem neuen Weg im Leben. Dabei legt die Erzählung zielsicher den Finger auf Wunden in der Gesellschaft.
Die Sprache ist unverblümt, drastisch, manchmal vulgär und sollte daher eigentlich so gar nicht meinen Geschmack treffen – und doch ist das Gegenteil der Fall, denn die Autorin setzt sie mit großem Geschick und stets treffsicher so ein, dass mich die sprachliche Gestaltung noch tiefer in die Geschichte eintauchen ließ. Worüber auch immer Kuhnke gerade schreibt, immer spiegelt sich die jeweilige Gefühlswelt mit großer Wucht in ihren Worten wider. Man spürt förmlich die Energie des Laufsports, die lähmende Wirkung von Angst, die Spuren, die Gewalt bei Menschen hinterlässt, aber auch die tiefe Liebe der Protagonistin zu ihren beiden Kindern.
Und gleichzeitig wuchsen in mir immer mehr Respekt und Bewunderung für die Hauptfigur, die taff und verwundbar zugleich erscheint, die über die seltene Fähigkeit der Selbstreflexion und Selbstkritik verfügt, die mir in mancherlei Hinsicht so unähnlich ist und der ich mich doch das ganze Buch hindurch so nahe fühlte.
Es ist ein Buch, das aufwühlt und dadurch natürlich auch alte Wunden aufreißen kann – die Inhaltswarnung, die verantwortungsbewusst diesem Roman vorangestellt ist, hat auf jeden Fall ihre Berechtigung. Vor allem aber ist es auch ein Buch, das Hoffnung schenkt und Mut macht, niemals aufzugeben.

Bewertung vom 23.10.2021
Shelter
Poznanski, Ursula

Shelter


ausgezeichnet

Eine unfassbar spannende Geschichte und leider beängstigend realistisch!
Zum Inhalt: Schwer verärgert durch die Begeisterung eines befreundeten Paares für abenteuerliche Theorien beschließt nach einer feucht-fröhlichen Feier eine Gruppe von Studenten und Studentinnen, den Fans von Verschwörungstheorien eine Lektion zu erteilen: Sie möchten selbst eine Verschwörungstheorie erfinden, diese verbreiten und später die Menschen aufklären. Wie sich sicherlich der eine oder andere Mensch mit Erfahrung mit den sozialen Netzwerken denken kann, bekommen sie jedoch sehr bald ein ziemlich übles „Die-Geister-die-ich-rief“-Problem – das sich noch verschärft, als ein mysteriöser Octavio die Bühne betritt und ihre Theorie zu kapern beginnt …
Poznanskis Sätze fliegen nur so dahin. Die Erzählung zog mich so schnell in ihren Bann, dass ich kaum auf den Schreibstil achten konnte – „flüssig“ ist er somit jedenfalls ganz sicher! Darüber hinaus hat die Autorin einen wunderbar bissigen Humor, der ab und zu den beklemmenden Charakter, den die Geschichte aufgrund ihres Realitätsbezugs für mich hatte, etwas auflockerte.
Die Idee der Verbreitung einer Verschwörungstheorie zu späteren Aufklärungszwecken mag nüchtern betrachtet fürchterlich naiv und – leider im wahrsten Sinne des Wortes – brandgefährlich wirken, aber der Autorin gelingt es sehr gut, die besondere Stimmung zwischen Feierlaune und Verärgerung, aus der dieses gewagte Projekt entstand, zu vermitteln. Ich war sehr gespannt, wie sich dieses Experiment weiterentwickeln würde, und es erfüllt mich mit Entsetzen, wie schnell es außer Kontrolle geriet und Menschen in Gefahr brachte … Besonders beunruhigend, weil eine solche Entwicklung und das Gefährdungspotenzial eben ganz und gar nicht unrealistisch wirken …
So entsteht aus der Erzählung über ein faszinierendes Experiment schnell ein packender Thriller, der mich mit den Handlungsfiguren mitfiebern ließ. Diese Figuren baut die Autorin lebensnah und facettenreich auf und zugleich ist sie sehr gut darin, Misstrauen zu säen – bald waren mir tatsächlich alle Figuren suspekt.
Zum Schluss bietet die Autorin noch einen besonders gruseligen neuen Handlungsort und eine weitere Wendung, die mich ziemlich überraschte. Wenn mir auch dieses Ende nicht hundertprozentig schlüssig erschien, hat mich dieses Buch schlicht und ergreifend begeistert – eine beeindruckende Erzählung, die spannende Unterhaltung bietet und gleichzeitig zum Nachdenken anregt.