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sleepwalker

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Insgesamt 518 Bewertungen
Bewertung vom 01.12.2024
Meyerhoff, Joachim

Man kann auch in die Höhe fallen / Alle Toten fliegen hoch Bd.6


ausgezeichnet

„Man kann auch in die Höhe fallen“ ist das sechste Buch aus Joachim Meyerhoffs Erzählprojekt „Alle Toten fliegen hoch“. Bei diesem Buch war ich zwischen lautem Lachen und gelangweiltem Weiterblättern hin- und hergerissen. Dennoch hat mich seine Liebeserklärung an seine Mutter sehr gut unterhalten und ich werde die vorherigen Teile der Reihe auch noch lesen.
Aber von vorn.
„»Mama«, sagte ich zu ihr, »Überraschung! Ich komme morgen zu dir aufs Land. Ich möchte mich besser um dich kümmern, dir im Garten helfen, versuchen zu schreiben und«, ich bemühte mich, es verheißungsvoll klingen zu lassen, »wahrscheinlich bleibe ich sogar länger.«“ Mit diesen Worten kündigt Joachim Meyerhoff den Besuch bei seiner Mutter in Schleswig an der Ostsee an. Er steckt in einer Schaffens- und Lebenskrise. Nach dem Schlaganfall vor ein paar Jahren hat sich in ihm mit Mitte eine tiefsitzende Gereiztheit, ein Gefühl ständiger Erschöpfung, Überforderung und Dünnhäutigkeit hatte sich in ihm breitgemacht. Richtig die Nerven verloren hat er beim neunten Geburtstag seines Sohnes Elliot, was ihm den Zorn einiger Menschen eingebracht hat. Seine Mutter spannt ihn in ihren Alltag ein. Er arbeitet im Garten, sie gehen gemeinsam schwimmen und trinken Whiskey, reden viel miteinander und er schafft es, wieder zu schreiben. Herausgekommen ist ein Buch über sich selbst, aber auch eine Liebeserklärung an seine Mutter. „»Glaubst du, es wird ein Buch?«
»Ich weiß es nicht, Mama.«
»Ich würde, ehrlich gesagt, lieber doch nicht drin vorkommen.«
»Na bravo.«“
Aber ganz offensichtlich hat Mutter Meyerhoff (ich weiß inzwischen, dass sie Susanne heißt) sich das Buch verdient, denn sie scheint eine wirklich bemerkenswerte Frau zu sein. Ich denke, wir würden uns verstehen. „Meine Mutter sprach gerne mit den Dingen, stand in permanentem Austausch mit allem, was sie umgab“ – das finde ich ganz wunderbar. Unterhaltungen mit der Sonne und Vögeln gehen mir ebenso ans Herz wie die Tatsache, dass sie stachelige Brombeerranken mit einem „Wirst du wohl aufhören!“ zurechtweist oder sich bei einem Malvenschössling entschuldigt, dass sie auf ihn getreten ist. Das kommt mir sehr bekannt vor.
Ihr Sohn schreibt liebevoll über seine Mutter und ihr bewegtes Leben. Sie isst, taucht, backt, hackt Holz, erntet und mäht und das alles mit neuem Knie, neuer Hüfte und einer neuen Herzklappe. Sie ist ein Freigeist, „Rezepte empfindet sie genauso wie Geschwindigkeitsbegrenzungen als Bevormundung“. Dafür kann sie gleichzeitig Käsekuchen mit Rosinen, Rhabarberkuchen mit Baiser und Apfelkuchen mit Butterbröseln backen, was mich sehr beeindruckte. Wurde Joachim Meyerhoff von einem Oktopus großgezogen? Nein, aber von einer äußerst patenten Mutter.
Es gibt aber neben warmem-Apfelkuchen-und-Rohrnudel-Idylle auch düstere Zwischentöne. „Unsere Ehe war schrecklich, er hat mich betrogen, fast bin ich daran zerbrochen, doch ich habe mich nie getrennt.“, erzählt die Mutter. „Die Jahre gingen so dahin, und ich hab eigentlich immer nur gekämpft.“ Der Tod des mittleren Sohnes hat sie schwer getroffen, trotz Trennung hat sie ihren Mann bis zu dessen Tod gepflegt, ihren Lebensgefährten Michael Jahre später ebenso. Ihre Kinder waren und sind ihr Ein und Alles. „Es waren so gute Jahre, euch aufwachsen zu sehen und euch dabei begleiten zu dürfen“, sagt sie rückblickend.
Die Geschichten über seine Mutter haben mich oft zum Lachen gebracht. Die Theatergeschichten, die Meyerhoff zwischendurch erzählt, haben mich wesentlich weniger abgeholt, zwar sind sie durchaus ansprechend erzählt, aber irgendwie fehlt mir bei ihnen der Witz. Eines ist am Ende des Buchs klar: seine Schaffenskrise scheint Joachim Meyerhoff überwunden zu haben. Dank Mutter, dank harter Arbeit, dank Liebe und Geborgenheit. Er ist gefallen und wieder aufgestanden. Und Mutter? Die hat sich neu verliebt. Von mir gibt es für dieses Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 01.12.2024
Slaughter, Karin

Letzte Lügen / Georgia Bd.12


ausgezeichnet

Lange mussten die Fans auf Karin Slaughters neuesten Thriller „Letzte Lügen“ warten. Der 12. Teil der Serie um Special Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation und Rechtsmedizinerin Dr. Sara Linton hat aber in sich. Endlich haben die beiden geheiratet und die Flitterwochen stehen an. Dass diese nicht nur harmonisch verlaufen, war keine Überraschung. Dass der Aufenthalt in der Ridgeview Lodge so aus dem Ruder laufen würde, hatte ich aber nicht erwartet. Trotz der über 500 Seiten voller Brutalität, menschlicher Abgründe und Lügen war das Buch für mich ein Highlight.
Aber von vorn.
Zwei Tage nach ihrer Hochzeit starten Will Trent und Sara Linton in die Flitterwochen. Will hat als Ziel die abgelegene Ridgeview Lodge ausgesucht. Kinder des Kinderheims, in dem er aufgewachsen ist, durften dort einen Teil ihrer Sommerferien verbringen, er selbst konnte aber nie mitfahren. Jetzt möchte er diese Erfahrung nachholen. Um ihre Flitterwochen ungestört genießen zu können, haben er und Sara beschlossen, ihre wahren Berufe zu verschweigen. Bei einem nächtlichen Ausflug zum See hören sie einen Schrei und finden kurz danach am Ufer Mercy McAlpine. Die Tochter der Besitzer der Lodge ist lebensgefährlich verletzt und verstirbt trotz Wills Wiederbelebungsmaßnahmen. Der Hauptverdächtige ist mit Mercys ex-Mann Dave schnell gefunden, er und Will kennen sich aus dem Kinderheim und er weiß, dass „der Schakal“, wie sie ihn damals nannten, zu einigem fähig ist. Die acht übrigen Gäste der Lodge scheinen ebenfalls alle etwas zu verbergen zu haben, genauso wie die McAlpine-Familie. Patriarch Cecil und seine Frau Bitty planten, das Anwesen zu verkaufen. Mercy, die seit dem schweren Unfall ihres Vaters als Geschäftsführerin agierte und die Lodge modernisiert hatte, war dagegen und hatte deshalb Streit mit ihren Eltern. Auch mit ihrem Sohn Jon hatte sie Streit, er warf ihr an den Kopf „»Ich wünschte, du wärst verdammt noch mal tot.«“ Jetzt ist sie tot, Jon ist verschwunden, sein Vater Dave ist auch nicht auffindbar und der Rest der Anwesenden auf der Lodge ist keine große Hilfe, von denen scheint jeder ein Geheimnis zu haben. Auch der örtliche Sherriff ist als Freund der Familie nur mäßig engagiert. Da bekommt Will von seiner Partnerin Faith Mitchell mehr Unterstützung. Und dann gibt es einen weiteren Toten.
In ihrem gewohnten Stil tischt Karin Slaughter Brutalitäten auf. Es wird geprügelt, gestochen, geflucht, gekränkt und vor allem gelogen. Das Buch hat ein paar Längen, ist aber flüssig zu lesen. Für Neulinge wird alles Notwendige erklärt, man kann das Buch also getrost auch ohne Vorkenntnisse lesen. Die Geschichte beginnt 12 Stunden vor dem Mord und rast dann im Parforceritt durch die Ermittlungen. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven und dazwischen sind ein paar Briefe eingeflochten, die Mercy in verschiedenen Situationen an ihren Sohn Jon geschrieben hat. Die Charaktere sind, wie von der Autorin gewohnt, detailliert ausgearbeitet. Will und Sara bekommen ein paar neue Facetten. Die McAlpine Familie ist so dysfunktional, dass man Gänsehaut bekommt. Das Setting, die abgelegenen Lodge am See, die dazu durch schlechtes Wetter von der Außenwelt abgeschnitten ist, ist gut und anschaulich beschrieben.
Bei all der Brutalität hat das Buch für mich auch eine gewisse Komik. Bitty hat beispielsweise interessante Prioritäten. Tochter wurde gerade ermordet, ihr Adoptivsohn ist der Hauptverdächtige, jeder in der Lodge (nicht zuletzt sie selbst) ist durch und durch verlogen und ihr Enkel ist verschwunden – die kleine Notlüge von Will und Sara bezüglich ihrer Berufe ist für sie aber wahre Drama. Eine Art „running gag“ ist für mich, dass Will sich in jedem Band irgendwann verletzt. Die Frage ist dabei nicht ob, sondern wann. Für mich war „Letzte Lügen“ ein Highlight und ich empfehle es gerne weiter. Wer bezüglich Missbrauch und Gewalt nicht triggerfest ist, sollte allerdings vorsichtig sein. Von mir gibt es fünf Sterne.

Bewertung vom 22.11.2024
Engberg, Katrine

Aschezeichen / Liv Jensen Bd.2


sehr gut

„Aschezeichen“ heißt das neue Buch der dänischen Autorin Katrine Engberg. Es ist der zweite Band der Serie um die Ermittlerin Liv Jensen und nach dem eher schwachen ersten Teil „Glutspur“ hat er mich positiv überrascht. Wieso das Buch „Aschezeichen“ heißt, kann ich nicht nachvollziehen, eventuell nur die Verbindung zum Titel des Vorgängers, denn Asche und Glut gehören zusammen. Der zweite Teil des Titels „Die Wunden der Schuld“ passt besser und auch der dänische Titel „De hvide nætter“ (weiße Nächte) hat wenigstens ansatzweise etwas mit der Handlung zu tun.
Aber von vorn.
Vorsø ist eine 58 Hektar große, für die Öffentlichkeit gesperrte Insel im Horsens Fjord an der Ostseite Jütlands. Trotzdem fährt der iranisch-dänische Familienvater Tami Ansari mit seinen Kindern Cyrus (17) und Shirin (14) übers Wochenende zum Angeln dorthin. Am Sonntagmorgen findet Shirin ihren Vater mit durchgeschnittener Kehle in seinem Zelt. Ihr Bruder ist verschwunden. Hat der Täter ihn mitgenommen? Aus Angst, sie könnte auch in Gefahr sein, beschließt Shirin, sich zu verstecken. Privatermittlerin Liv Jensen bekommt von ihrem ehemaligen Mentor Petter Bohm den Auftrag, sich in dem Fall etwas umzuhören. Ihre erste Spur führt in dänische Auffanglager Sandholm (ehemals Sandholmlejren, jetzt Sandholm Center), dem vom Roten Kreuz unterhaltenen Lager, in dem Tami Ansari vor rund 30 Jahren gelebt hat. Und sie stößt schnell auf einen Bekannten: ihr Nachbar, der Automechaniker Nima Ansari ist ein Cousin des Toten. Sind dem alkoholkranken Tami seine mutmaßlichen Verbindungen ins kriminelle Milieu zum Verhängnis geworden? Oder ist der 17jährige Cyrus der Grund für den Mord? Und was hat der eigenbrötlerische Naturpfleger Lars Rørdam, der der Familie das Zelten auf der Insel erlaubt hat, mit allem zu tun?
Nach einem eher schwachen Serienauftakt mit „Glutspur“ hat mich „Aschezeichen“ positiv überrascht. Zwar hat das Buch immer noch einige Längen, ein paar Dutzend Seiten könnte man sicher ohne Probleme streichen, aber insgesamt fand ich es spannend, flüssig zu lesen und unterhaltsam. Mit der Übersetzung stehe ich an ein paar Stellen auf Kriegsfuß, manches finde ich handwerklich etwas unsauber. Der Krimi ist solide, die psychologische Komponente sorgt für konstante unterschwellige Spannung. Die Geschichte ist geschickt konstruiert, einige falsche Fährten schickten mich beim Mitraten in die Irre. Schön und gelungen fand ich auch wieder die Ortsbeschreibungen, sowohl die von Vorsø als auch die von Kopenhagen.
Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt, wobei jeweils einer der Protagonisten im Mittelpunkt steht. Diese sind aus dem ersten Teil bekannt, sie sind ein bisschen farblos beschrieben und weiterhin ausbaufähig. Der Strang Liv dreht sich um die Ermittlungen. Diese sind bodenständige Polizeiarbeit, auch wenn Liv nicht mehr als Polizistin arbeitet, beherrscht sie ihr Handwerk. Nima, Automechaniker, der hobbymäßig halluzinogene Pilze anbaut, ist das Bindeglied zur iranischen Gemeinschaft. Hanna Leon, die Psychologin, die bei Liv und Nima in der Nachbarschaft wohnt, ist ebenfalls wieder mit von der Partie. Ihre Rolle ist aber eher schwach und sie trägt weder zur Geschichte noch zur Lösung des Falls nennenswert bei.
Als Leser dänischer Zeitungen ist mir das Auffanglager Sandholm ein Begriff, es als zentrales Element eines Krimis wiederzufinden, barg für mich einen speziellen Reiz. Das Lager und das Leben dort ist in Rückblicken ins Jahr 1990 in Einschüben beschrieben. Die Situation der jungen unbegleiteten Flüchtlinge (Tami war bei seiner Ankunft in Dänemark erst 15), ihre Gedanken, Träume und Hoffnungen fand ich gut dargestellt. Die Beeinflussbarkeit der jungen Menschen durch Ältere und der Einfluss von Geheimdiensten sind durchaus realistisch.
Ich fand das Buch besser als den ersten Teil, aber es ist immer noch Luft nach oben. Von mir daher vier Sterne und ich bin gespannt auf den nächsten Band der Serie.

Bewertung vom 19.11.2024
Lentz, Michael

Grönemeyer


ausgezeichnet

Wer bei dem Buch „Grönemeyer“ von Michael Lentz eine Biografie erwartet, wird enttäuscht sein. Der Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt setzt vielmehr die Texte des Musikers in Relation zu dessen Biografie und ordnet sie ein. Dabei ist der Lebenslauf Grönemeyers nebensächlich, aber nicht unwichtig. Ich gebe zu, ich bin mit etwas anderen Erwartungen an das Buch herangegangen, trotzdem wurde ich nicht enttäuscht.
Das Buch ist eine beeindruckende Einordnung von Grönemeyers Werk in sein musikalisches Werden, wobei mir der sprachliche Duktus von Michael Lentz manchmal zu theoretisch, distanziert und professionell war. Eines ist klar: das Buch ist keine Unterhaltungslektüre. Dem Buch liegt eine beeindruckend umfassende Recherche zugrunde, der Autor zeigt eine profunde Kenntnis dessen, worüber er schreibt. Er zeichnet Herbert Grönemeyers Lebens- und Karriereweg nach. Von einer von Musik und Literatur geprägten bürgerlichen Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet, über ein abgebrochenes Jura- und Musikwissenschaftsstudium, eine aufstrebende Schauspielkarriere (umfassende Bekanntheit erlangte er durch seine Rolle in „Das Boot“) bis zu dem, womit er im Endeffekt Musikgeschichte geschrieben hat. Eng mit allem verknüpft war immer Grönemeyers politische Einstellung, „er entwickelte ein Sensorium für politisch brisante Atmosphären, das er in seinen Liedern produktiv machen sollte.“
Insgesamt ist das Buch eher eine 385-seitige Werkbiografie als eine Musiker-Biografie. Um daran Freude zu haben, muss man schon ein großes Interesse an Musiktheorie, Kompositionslehre und Literatur mitbringen, besser noch eine gewisse Grundkenntnis der Materie. Beides glaubte ich zu haben, dennoch empfand ich persönlich das Buch zugegebenermaßen als etwas zu anspruchsvoll für mich. Die Fülle an Analysen hat mich mehr oder weniger erschlagen und auch die Sprache des Autors lag mir nicht wirklich. Alle, die aber Lust darauf haben, hinter die Songs von Herbert Grönemeyer zu schauen, zu erfahren, wie er komponiert, wie seine Texte entstehen und warum er so singt, wie er singt, sind mit dem Buch sehr gut bedient. Michael Lentz beschreibt und analysiert Texte und Harmonien und verliert dabei die Person Grönemeyer nie aus den Augen. Interessant fand ich persönlich, wie seine Songs entstehen. Er „vertont keine Texte, sondern vertextet Musik“, heißt: die Musik kommt als erstes und hat den höheren Stellenwert. Der Text ist dazu eher eine Ergänzung, ein „ein Gewürz, ein weiteres Instrument, das sich unterordnet, oder eine Interpretationshilfe der musikalischen Atmosphäre.“
Man kann Herbert Grönemeyer und seine Musik mögen oder nicht. „Grönemeyer“ von Michael Lentz analysiert den Künstler und sein Werk unabhängig voneinander und doch als Einheit, minutiös, fast pedantisch detailreich und neutral, auf rein professioneller Ebene. Durch das Buch habe ich eine neue Sichtweise auf Musik und Person Herbert Grönemeyer gewonnen und deshalb habe ich die Lektüre trotz allem genossen und als lohnend empfunden. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 12.11.2024
Nordby, Anne

Kalter Sturm (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Mit „Kalter Sturm“ schickt Anne Nørdby ihren Ermittler Tom Skagen und seine Kollegen in ihren vierten Fall. Dieses Mal verschlägt es ihn eher unfreiwillig nach Island, wo er in vielerlei Hinsicht auf Neues und Unbekanntes stößt. Ein ruhiger, aber durchaus spannender Thriller mit viel Island, vielen Mythen und interessanten Charakteren.
Aber von vorn.
Eigentlich könnte im Leben von Tom Skagen, Ermittler der länderübergreifenden Sondereinheit Skanpol, Ruhe einkehren. Nach traumatischen Erlebnissen ist er endlich mit seiner Freundin, der schwedischen Polizistin Maja, glücklich. Aber die rechte Gruppierung „Åsgards Sønner“ ist immer noch auf der Jagd nach ihm. Wer der mysteriöse „Onkel“ ist, der der Chef der norwegischen Organisation ist, ist immer noch unklar, vermutet wird aber, dass es einen Informanten in den Reihen der Polizei gibt. Auf dem Weg in ein Safehouse in Kopenhagen lauern ihm zwei der „Söhne“ auf, weshalb er sofort zusagt, als er von einem Fall auf Island hört. Dort ist ein Fünfjähriger in einem Lavafeld auf der Halbinsel Dverganes verschwunden. Die sechsköpfige deutsche Familie Brandt lebt dort seit einigen Monaten auf einer Schaffarm, gegen Mithilfe bei der Arbeit gibt es freie Kost und Logis. Auf der Nachbarfarm wohnt eine weitere deutsche Familie, die beiden Familien gehören derselben religiösen Vereinigung an. Unversehens findet sich Tom Skagen zusammen mit seinen isländischen Kollegen Nils Jónsson, Bjarni Egilsson und Halla Austdal in einem Chaos aus Lügen, unkooperativen Mitmenschen, religiösem Fanatismus und isländischen Mythen wieder. Schnell wird der kalte Sturm, dem das Buch den Titel verdankt, zu ihrem kleinsten Problem. Zwar wird der kleine Jonas in einer Lavahöhle lebend gefunden, kurze Zeit später wird allerdings seine Mutter ermordet. In der abgeschiedenen und durch den heftigen Schneesturm abgeschlossenen Gegend kann das eigentlich nur eines heißen: der Mörder ist unter ihnen. Wird er wieder zuschlagen?
Als „Fan der ersten Stunde“ habe ich mich sehr über den neuen Tom-Skagen-Thriller und das Wiedersehen mit Tom, Jette und Maja gefreut und die Spannung hat mich von der ersten Seite an gepackt. Die Geschichte wird anfangs in zwei Handlungssträngen erzählt. Nach Toms Ankunft auf der Insel gibt es nur noch eine Erzählebene, der Erzähler ist neutral und als Leser:in weiß man immer etwa so viel wie die Ermittelnden. Daher machte es auch viel Spaß, während der Lektüre mitzuraten, wer hinter allem steckt und was die Motive sein könnten. Das ist gar nicht so einfach, denn fast alle scheinen etwas zu verbergen zu haben. Alle Charaktere sind gut und detailliert ausgearbeitet. Sicher kann man das Buch auch ohne Vorkenntnisse aus den anderen Teilen lesen und verstehen, ich empfehle aber die Lektüre der anderen Bücher in der richtigen Reihenfolge. Vor allem zum Protagonisten Tom Skagen kann man vieles besser verstehen kann, wenn man seine Vergangenheit kennt und seine Entwicklung mitverfolgt hat. Auch die Rolle von „Åsgards Sønner“ erschließt sich besser mit etwas Hintergrundwissen.
Noch viel interessanter als die Charaktere fand ich aber die Atmosphäre und die Landschaft, die Anne Nørdby hervorragend einfängt. Die klaustrophobische und düstere Stimmung mit der rauen Landschaft wird komplettiert durch den Schneesturm, die Dunkelheit, die er mit sich bringt und natürlich die isländischen Mythen mit den Elfen des versteckten Volks, des huldufólk, die man nicht wütend machen sollte. Das Auftauchen des religiösen Oberhaupts der Glaubensgemeinschaft, der die deutschen Familien angehören, bringt eine ganz neue Art „kalten Sturm“ mit sich, er verbreitet eine äußerst toxische Stimmung. Sprachlich ist das Buch gut gelungen, es ist trotz einiger Brutalität und Spannung eher ruhig erzählt, dabei flüssig und angenehm zu lesen. Mich hat es begeistert und ich empfehle es gerne weiter. Von mir gibt es fünf Sterne und ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Teil.

Bewertung vom 05.11.2024
Slaughter, Karin

Letzte Worte / Georgia Bd.4


ausgezeichnet

Ein mutmaßlicher Selbstmord, verschleppte Ermittlungen, ein echter Selbstmord und ein Mord, dazu eher lustlose Ermittler – das sind die Dinge mit denen sich Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation in Karin Slaughters „Letzte Worte“ herumschlagen muss. Für ihn einerseits frustrierend, andererseits trifft er die verwitwete Dr. Sara Linton wieder und lernt ihre Familie kennen. Und die Leserschaft bekommt mit diesem zweiten Teil der „Georgia-Serie“ einen spannenden Thriller mit überraschendem Ausgang serviert. Was will man mehr?
Aber von vorn.
„Ich will es vorbei haben“ – das sind die letzten Worte, die man bei der einer toten jungen Frau am Lake Grant findet, sie stehen auf einem zusammengefalteten Zettel, der unter ihrem Schuh liegt. Kurz darauf stellt Polizistin Lena Adams fest, dass die Tote eine Stichwunde im Nacken hat und auch die schwere Kette um ihre Taille, an der zwei zehn Kilo schwere Waschbetonblöcke befestigt waren, sprechen nicht für Suizid. Allison Spooner war Studentin am örtlichen College und arbeitete im Diner, hatte aber Geldsorgen und Probleme mit dem Studium. Waren das genügend Gründe für einen Suizid?
„Ich war es nicht“ – das sind die letzten Worte, die der Hauptverdächtige Tommy Braham mit seinem eigenen Blut an eine Zellenwand schreibt, kurz danach ist er tot. Davor hatte der Neunzehnjährige im Verhör Detective Lena Adams gegenüber gestanden, Allison getötet zu haben. Allison hatte im Haus von Tommys Familie ein Zimmer gemietet, der stark intelligenzgeminderte Junge scheint in sie verliebt gewesen zu sein. Als die Polizei eine Hausdurchsuchung machen möchte, greift er die Beamten an und verletzt einen schwer. Sind das genügend Beweise für seine Schuld? Sein Geständnis liest sich, als habe es ihm jemand diktiert. Hat ihn das Verhör durch Lena in den Suizid getrieben?
Sara Linton ist mit ihren beiden Windhunden wegen Thanksgiving bei ihren Eltern in Heartsdale, da Lena Adams und ihr Vorgesetzter Frank Wallace ihre Inkompetenz bei dem Fall zur Schau stellen, bittet sie Agent Will Trent um Hilfe. Das sorgt im ganzen Revier für Unmut und Will muss sich nicht nur mit dem Mord/Selbstmord auseinandersetzen, sondern mit unkooperativen Kollegen, während er mit der auch nach vier Jahren noch trauernden Witwe Sara anbändelt. Und solange er versucht, Schwung in die Ermittlungen zu bringen, gibt es ein weiteres Opfer.
Ich hatte „Letzte Worte“ schon vor Jahren zum ersten Mal gelesen, aber auch bei diesem Mal bin ich durch das Buch geflogen, was natürlich auch an der rasanten Handlung liegt. Die Geschichte beginnt am Montag und endet am Mittwoch und wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt (aus Sicht von Sara, Lena und Will, jeweils in der 3. Person). Für mich war es ein spannender Thriller mit überraschenden Wendungen. Der Spannungsbogen ist hoch, die zahlreichen Passagen mit dem Privatleben von Sara und Will waren für mich willkommene Verschnaufpausen. Die Protagonisten waren mit bekannt, daher kann ich sagen, dass Karin Slaughter sie liebevoll und fast detailversessen weiterentwickelt hat. Allerdings ging mir Saras Hass auf Lena Adams ein bisschen auf die Nerven. Sie macht sie für den Tod ihres Ehemannes Jeffrey Tolliver vor vier Jahren verantwortlich, aber ihr Verlangen, die Polizistin zur Strecke zu bringen, ist fast zwanghaft. Man bekommt auch einen Einblick in Wills Leben zwischen Arbeit, Legasthenie, dreiteiligen Anzügen und seiner gewalttätigen Ehefrau Angie. Sprachlich ist das Buch ein „echter Slaughter“, brutal, blutig und voller Gewalt- und Kraftausdrücke.
Das Buch ist nichts für schwache Nerven und empfindliche Mägen, ich empfehle es daher natürlich allen Fans der Serie, wobei ich allen nahelege, vor „Letzte Worte“ die anderen Bücher der Reihe in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Natürlich kann man das Buch auch ohne Vorkenntnisse verstehen, sie machen aber vieles leichter. Es ist ganz sicher nicht Karin Slaughters bestes Buch, von mir gibt es trotzdem fünf Sterne.

Bewertung vom 04.11.2024
Kerkeling, Hape

Gebt mir etwas Zeit


ausgezeichnet

Als das soziale Leben in Deutschland wegen Corona etwas heruntergefahren wurde, fingen die einen an zu stricken, andere backten Bananenbrot wie die Weltmeister und Hape Kerkeling stürzte sich in die Ahnenforschung. Seine Ergebnisse hat er in seinem Buch „Gebt mir etwas Zeit“ zusammengetragen, welches ich als von ihm selbst eingelesenes Hörbuch hören durfte. Es ist ein informatives, vor allem aber auch bewegendes und berührendes Buch geworden, das ich ganz sicher noch einmal hören werde.
Aber von vorn.
Hape Kerkelings Wurzeln liegen in den Niederlanden und lassen sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. Das hat ihn selbst wohl am wenigsten überrascht, hat er doch seit früher Kindheit eine enorme Affinität zu den westlichen Nachbarn. Aber das ist nicht alles, was er bei seiner Ahnenforschung herausfindet. Basierend auf einer DNA-Analyse bekommt er sowohl Kontakt zu noch lebenden Verwandten (die ebenfalls einen DNA-Test gemacht haben und daher in der Datenbank sind), als auch einen Einblick in die Vergangenheit und seine Herkunft. Die große Herzensangelegenheit Kerkelings ist aber, etwas über seine Oma Bertha herauszufinden, zu der er immer ein sehr enges Verhältnis hatte. Auch das, was er in dieser Richtung erfährt, ist interessant und (vermutlich) überraschend. Neben der Stammbaum-Beschau bis ins 12. Jahrhundert erzählt Hape Kerkeling aber auch einiges aus seinem eigenen Leben, vom Suizid seiner Mutter bis hin zu seinen ersten Schritten im Showbusiness und seiner ersten großen Liebe, die jung infolge einer HIV-Infektion verstarb.
Eines ist ganz klar: mich hat das Hörbuch begeistert. Hape Kerkelings Stimme fand ich angenehm, den Text, den er liest, informativ, bewegend und manchmal sogar spannend. Ab und zu habe ich während der fast elf Stunden etwas den Überblick verloren, und bei einem Hörbuch kann man ja nicht mal so einfach zurückblättern wie bei einem Buch oder E-Book. Aber wirklich störend fand ich das nicht, für mich ist es ja eigentlich auch egal, ob er von seinem elften oder zwölften Großvater schreibt und wie der nun genau hieß. Daher habe ich es wirklich genossen, mir das Buch „vorlesen“ zu lassen, an einigen Stellen habe ich herzlich gelacht, an anderen eine Träne verdrückt. Gelangweilt habe ich mich keine Sekunde und durch die Überschriften der Kapitel wusste ich auch immer, in welcher Zeitebene es spielt.
Das Buch ist nahbar, fassbar und bringt einem die Person Hape Kerkeling abseits seiner Kunstfiguren näher. Er erzählt lebhaft und anschaulich von den Problemen der Kerkelings im Laufe der Zeit. Auch seine eigenen Probleme spart er nicht aus und schont sich selbst nicht. Manchmal kann man bei allem Humor auch die Traurigkeit in seiner Stimme hören. Die Histörchen, die er um seine Vorfahren webt, sind überwiegend fiktiv, aber meist ebenso amüsant wie informativ. Abseits der Geschichten, die er sich ausgedacht hat, wartet das Buch mit einer Vielzahl an Fakten auf, die ich sehr interessant fand. Das Leben im „vergoldeten Zeitalter“, wie er es nennt, war mir bislang unbekannt, vor allem der religiöse Aspekt, den er mit geflüsterten Gottesdiensten und der versteckten Kirche „De Papegaai“ (der Papagei) beschreibt.
Mich hat Hape Kerkeling ein bisschen neugierig auf mein eigenes „Familienpuzzle“ gemacht. So wie er mit dem britischen Königshaus verwandt ist, gibt es in meiner Familiengeschichte laut meiner eigenen Großmutter eine Menge verarmten Adel, eine Unzahl unehelicher Kinder und irgendwo eine Linie zur Königin von Saba. Für seine herzerwärmende Reise in die Vergangenheit auf der Suche nach den Wurzeln und der Herkunft und die liebevolle Hingabe, mit der er die Geschichte seiner Großmutter erkundet, gibt es von mir fünf Sterne.

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Bewertung vom 28.10.2024
Slaughter, Karin

Harter Schnitt / Georgia Bd.5


sehr gut

„Harter Schnitt“ ist der fünfte Teil von Karin Slaughters „Georgia“-Reihe um Special Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation. Ursprünglich erschien das Buch 2013, jetzt liegt die Neu-Auflage vor. Für mich ganz klar nicht das beste Werk von Karin Slaughter, aber es bringt der Leserschaft die tragenden Personen der Serie etwas näher, denn Will Trent, Dr. Sara Linton, Faith Mitchell und natürlich auch Amanda Wagner sind „alte Bekannte“.
Aber von vorn.
Vier Monate nach der Geburt ihrer Tochter Emma ist Faith Mitchell wieder zurück im Dienst des GBI. Während sie arbeitet, kümmert sich ihre 63jährige Mutter Evelyn um das Baby. Als Faith die pensionierte Polizistin telefonisch nicht erreichen kann, schrillen bei ihr die Alarmglocken. Und tatsächlich wartet zu Hause der blanke Horror auf sie: Blutflecken überall, eine Leiche in der Küche und zwei bewaffnete Männer im Haus – von Emma und Evelyn ist aber nichts zu sehen. Ein Mann wird vor Faiths Augen erschossen, der Schütze flieht durch den Garten, wo er zwei Nachbarskinder bedroht. Faith erschießt ihn. In Gartenlaube findet sie Emma, gut versteckt unter einem Bündel Decken, von Evelyn fehlt allerdings jede Spur. „»Du weißt, weswegen wir hier sind. Gib es uns, und wir lassen sie gehen.«“ – das hatte einer der Verbrecher zu Faith gesagt, als sie ihn im Haus stellte. Aber Faith weiß nichts. Gegen ihre Mutter war vor vier Jahren intern ermittelt worden, ausgerechnet von Faiths Partner, Agent Will Trent. Sechs ihrer Kollegen waren wegen Bestechlichkeit und Unterschlagung (sie hatten bei Verhaftungen bei Drogendelikten Geld abgezweigt) ins Gefängnis gekommen. Captain Mitchell war ungestraft davongekommen. Ist sie doch korrupt und hat sie dadurch etwas aus der Vergangenheit eingeholt? Hat sie doch Geld beiseitegeschafft? Fest steht: Faith und Will müssten sie finden, bevor es zu spät ist.
Bei „Harter Schnitt“ geht Karin Slaughter, wie gewohnt, in die Vollen. Die übliche Gewalt und Brutalität, einige Tote, Verletzte und Verstümmelte, werden verknüpft mit einem bisschen Drama und dem persönlichem Schicksal eines der Protagonisten (dieses Mal ist es Faith Mitchell). Allerdings schöpft sie auch bei den Charakteren aus den Vollen und manchmal fühlte ich mich von der Vielzahl der auftauchenden (und sehr oft auch wieder abtretenden) Personen etwas überfordert. Wer gehörte jetzt zu welchem Clan? Eigentlich ist es aber auch egal, denn meistens spielt es für den Verlauf des Buchs und die Lösung des Falls ohnehin keine Rolle. Die Geschichte fand ich ohnehin ein bisschen sehr konstruiert, aber durchaus gut erzählt und der Schluss ist stimmig. Gekonnt bringt die Autorin ihrer Leserschaft Faith und ihre Familie näher, man versteht, wie nah sich Faith und Evelyn stehen, was Amanda Wagner mit alldem zu tun hat und wieso Faiths Verhältnis zu ihrem Bruder Zeke so verfahren ist. Und natürlich findet auch die aufkeimende Liebschaft zwischen dem immer noch mit Angie verheirateten Agent Will Trent und der verwitweten Dr. Sara Linton wieder ihren Platz.
Sprachlich ist das Buch so, wie ich es von Karin Slaughter nicht anders erwartet habe: blutig und brutal, auch bei der Wortwahl ist die Autorin nicht zimperlich. Es wird geflucht und wüst beschimpft. Die Spannungskurve war eine Berg- und Talfahrt mit ein paar Längen. Lang fand ich auch die Kapitel, selbst als Kenner von Karin Slaughters Werken hat mich der Umfang manchmal ein bisschen erschlagen. Weniger erschlagen, sondern viel eher geärgert, haben mich einige Rechtschreibfehler. Da hätten Buch und Autorin mehr Sorgfalt verdient. Ich empfehle allen „Slaughter-Neulingen“, vor „Harter Schnitt“ die anderen Bücher der Serie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Natürlich kann man das Buch auch ohne Vorkenntnisse verstehen, sie machen aber vieles leichter.
Ich empfehle das Buch gerne weiter, ziehe in meiner Bewertung aber wegen der Längen und der handwerklichen Fehler in der Übersetzung einen Stern ab. Von mir vier Sterne.

Bewertung vom 28.10.2024
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

„Es ist kompliziert“, ist mein Fazit zu „Kleine Monster“ von Jessica Lind. Zwar passt das Buch nicht so hundertprozentig zum Klappentext, aber mich hat es gepackt und berührt. Toxische, dysfunktionale Familien mit dunklen Geheimnissen – da fühle ich mich doch gleich zu Hause und abgeholt. Für mich war es ein Buch, das noch lange nachhallen wird.
Aber von vorn.
Pia und Jakob werden zum Elterngespräch in die Schule gebeten. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll eine Klassenkameradin belästigt haben. Luca selbst äußert sich nicht zu dem Vorfall. Pia ist zuerst überzeugt, dass das Mädchen den Vorfall erfunden hat. Dann schwindet ihre Überzeugung. Sie beginnt, ihren Sohn mit anderen Augen zu sehen und wird im gegenüber zunehmend misstrauischer. Schnell gibt es Gerede, Pia und Jakob werden aus der Eltern-WhatsApp-Gruppe entfernt. Und Luca schweigt. Pia fühlt sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Damals passierte ein Unglück, das ihre Familie bis heute prägt. Auch da wurde geschwiegen. Bis heute. Pia gerät in einen Strudel aus Gefühlen und Gedanken, der sich immer schneller zu drehen scheint. Im Mittelpunkt steht aber nicht Luca, sondern sie selbst, die Vorfälle in ihrer Vergangenheit und den Umgang ihrer Familie damit.
Wie gesagt, laut Klappentext dreht sich das Buch um einen „Vorfall“ zwischen Luca und einer Klassenkameradin. Das Ereignis gerät nach kurzer Zeit komplett aus dem Focus und Pia rückt in den Mittelpunkt. SIE kann plötzlich ihrem Sohn nicht mehr trauen, SIE sieht ihn mit anderen Augen. Aus der Familienangelegenheit wird schnell ein Psychogramm und eine one-woman-Show mit sehr viel Trauma, Erinnerungen und innerem Monolog. Und immer wieder geistern dazwischen Phantome namens Linda und Pia, deren Bedeutung man sich lange selbst erklären muss.
Das gibt der Leserschaft aber auch sehr viel Raum für ein eigenes Gedankenkarussell, zumindest war das bei mir so. Wie Pia und Luca wuchs ich in einer scheinbar glücklichen Familie auf, bei der man nicht unter die Teppiche schauen sollte, weil so viel darunter gekehrt wurde. Die Familie voller Schweigen und unausgesprochenen Vorwürfen kommt mir bekannt vor, dazu unkontrollierte Gefühlsausbrüche der Mutter, die ihrem Kind misstraut und immer das Schlechteste von ihm annimmt. Die Autorin verarbeitet hervorragend Pias verlorengegangener Mutterinstinkt und ihre Probleme mit der Tatsache, dass Luca und sie sich entfremden, er ihr sogar nicht mehr ähnlichsieht. Aus ihrer Sprache springt einem die entstehende Distanz aller Charaktere zueinander praktisch ins Gesicht, sie ist schlicht, modern und, ja, distanziert.
Distanziert blieb ich auch zu allen Charakteren. Ich konnte zu niemandem Nähe oder Sympathie aufbauen, allerhöchstens ein Funke Verständnis kam ab und zu durch. Aber als Stilmittel fand ich dieses Abstandhalten angemessen. Die Stimmung ist bedrückend, ich habe das Buch zwar in einem Rutsch durchgelesen, das ungute Gefühl im Magen hat mich aber nie verlassen. Der Zwiespalt, in dem sich Pia befindet und der Druck, ihre glückliche Familie nach außen darzustellen, ist in jeder Zeile spürbar, ihre Fassade bröckelt nur ab und zu, dann aber gewaltig. Mit der Tatsache, dass Pia ihrer Schwester Romi auf Instagram folgt, zeigt eines der großen Themen unserer Zeit: jeder, der auf Sozialen Medien einen Account bespielt, wird zur öffentlichen Person. Ihr zu folgen, oder sie zu verfolgen, ist leicht. Aber auch das Gegenteil ist möglich, geächtet und ignoriert wird nicht nur im realen Leben, sondern auch virtuell.
Der Schluss passt zum Buch, ob er befriedigend ist oder nicht, sei dahingestellt. Mit der Tatsache, dass eigentlich weder etwas gelöst noch geklärt wird, kann ich gut leben, es kommt mir aus der eigenen Historie bekannt vor. Und eines ist klar: Kinder sind auch nur Menschen, Eltern aber auch, mit allen Fehlern und Problemen. Für mich hat das Buch so wie es ist hervorragend funktioniert, aber ich bin nicht das Maß der Dinge. Daher spreche ich keine Empfehlung aus, vergebe aber fünf Sterne.

Bewertung vom 02.10.2024
Slaughter, Karin

Schwarze Wut / Georgia Bd.7


sehr gut

Als Fan der ersten Stunde habe ich „Schwarze Wut“, den fünften Teil von Karin Slaughters „Georgia-Serie“ schon bei seinem ersten Erscheinen 2013 im Original gelesen. Für mich war es wie eine Art Familientreffen, denn man begegnet nicht nur Will Trent und Sara Linton wieder, sondern auch Amanda Wagner, Faith Mitchell und (leider) auch Lena Adams. Es ist ganz sicher nicht Karin Slaughters bestes Buch, dafür fand ich es stellenweise zu komplex und verworren, aber ich habe es mit Begeisterung jetzt in der Neu-Auflage noch ein weiteres Mal gelesen.
Aber von vorn.
Will Trent, Special Agent beim Georgia Bureau of Investigations ermittelt undercover als Bill Black in Macon, Georgia. Dort treibt seit einiger Zeit ein neuer Drogenboss sein Unwesen. Der nennt sich „Big Whitey“ und niemand weiß, wer er eigentlich ist. Tatsächlich glauben einige sogar, es gäbe ihn gar nicht und er sei eine urbane Legende. Will arbeitet als Handwerker im Krankenhaus und ist nebenher als Mitglied in eine Biker Gang eingeschleust. Als er bei einem Einbruch Schmiere stehen soll, wird er Zeuge eines Überfalls. Ausgerechnet Lena Adams, die ehemalige Partnerin von Saras Lintons verstorbenem Mann Jeffrey Tolliver, wird in ihrem eigenen Haus überfallen. Ihr Ehemann Jared wird lebensgefährlich verletzt, Lena tötet einen der Angreifer und verletzt einen zweiten schwer. Im Krankenhaus trifft Will auf Sara, denn Jared ist ihr Stiefsohn (Jeffrey war Jareds Vater). „»Da sind Sie ja in einen ziemlichen Schlamassel hineingeraten, Wilbur.« - dieser Satz von Wills Chefin Amanda Wagner beschreibt nicht einmal annähernd, in was er da tatsächlich hineingeraten ist. Beruflich befindet er sich in großen Schwierigkeiten, denn er muss seine Tarnung aufrechterhalten und in alle möglichen Richtungen ermitteln. Als wäre das nicht kompliziert genug, befindet er sich privat in einem noch größeren Dilemma, denn er hat Sara nicht erzählt, dass er in Lenas Umfeld ermittelt. Sara nimmt ihm diesen Verrat übel. Sie hasst Lena, denn sie macht sie für Jeffreys Tod verantwortlich. Drogenkrieg trifft auf Zickenkrieg.
Wie gesagt, es ist nicht Karin Slaughters bestes Buch. Aber die Komplexität, mit der die Geschichte aufwartet, ist beeindruckend. Ich empfehle niemandem, das Buch ohne Vorkenntnisse aus anderen Teilen der Reihe zu lesen, dafür wird zu vieles angesprochen, was in den Vorgängerbänden passiert ist. Sprachlich ist das Buch hingegen genauso, wie ich es von der Autorin gewöhnt bin – brutal, voller Kraftausdrücke und blutig, es wird geschossen, gestochen und gefoltert. Gefoltert wurde leider auch die englische Originalfassung. Als „Mensch vom Fach“ fielen mir ein paar grundlegende handwerkliche und sehr ärgerliche Fehler in der Übersetzung auf.
Die Geschichte besteht aus drei Erzählsträngen, die nach und nach miteinander verflochten werden. Sie werden aus Sicht von Will, Sarah und Lena erzählt. Und die Autorin springt nicht nur bei den Erzählperspektiven ein bisschen hin und her, sondern auch bei den Zeitebenen. Kapitelüberschriften dienen aber oft als Zeitangabe, sodass die Leserschaft immer weiß, wo man sich in der Geschichte befindet. Die Charaktere sind Kennern der Reihe bekannt, sie werden daher eher aus- als aufgebaut und manchmal habe ich das Gefühl, die Autorin setzt gewisse Kenntnisse einfach voraus. In diesem Band fand ich ihre Beschreibungen der weiblich gelesenen Charaktere wie üblich etwas schwierig, sie sind entweder arrogant und überlegen (Amanda Wagner und Denise Branson) oder agieren unlogisch und stutenbissig/zickig wie Lena und Sara. Will steht wie ein Prellbock dazwischen und manchmal tat er mir wirklich leid. Die anderen männlich gelesenen Charaktere sind samt und sonders üble Machos.
Trotz der vorhandenen Spannung weist das Buch ein paar Längen auf, die ich flott überblättert habe. Ich habe es dennoch gern gelesen und empfehle es jedem Fan der Reihe weiter. Von mir vier Sterne.