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Frankfurt

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Insgesamt 785 Bewertungen
Bewertung vom 26.05.2025
Zaslavsky, Alice

Salads every day


sehr gut

Ich hätte nie gedacht, dass ein Salatkochbuch mir so viel Freude bereiten würde – aber Salads Every Day von Alice Zaslavsky hat mich komplett begeistert. Ich habe schon einige Rezepte ausprobiert – und jedes einzelne war ein Volltreffer! Besonders der Honig-Süßkartoffel-Risoni-Salat mit mariniertem Feta hat es mir angetan – warm, sättigend, aromatisch… einfach himmlisch.
Was dieses Buch so besonders macht, ist seine unglaubliche Vielfalt: Von schnellen Feierabendgerichten bis zu echten Highlights für die Grillparty oder den gemütlichen Couchabend ist alles dabei – und zwar in warm und kalt! Salat ist hier keine Beilage, sondern der Star auf dem Teller.
Alice Zaslavsky schreibt so charmant, liebevoll über Essen, dass man sich beim Lesen fast wie in einem kleinen Küchengespräch mit ihr fühlt. Die Texte machen Lust aufs Kochen, man merkt, dass die Autorin ihre Gerichte wertschätzt, das macht dieses Buch so sympathisch und lebendig.
Ich schätze besonders das praktische Gemüse-Register: Es hilft mir oft, mit dem, was gerade im Kühlschrank liegt, spontan etwas zu zaubern. Dazu kommen über 80 Dressings, die man herrlich kombinieren kann – da wird wirklich fast (!) jeder Tag zum Salattag!
Vor allem, wenn man die Ansage hat, dass es abends weniger Brot sein muss, ist man hier richtig.
💚 Fazit: Ein Muss für alle, die Salat lieben – oder ihn dank dieses Buchs endlich lieben lernen wollen!

Bewertung vom 26.05.2025
Wurmitzer, Mario

Tiny House


sehr gut

Tiny Houses versprechen ein Leben im Kleinen mit großem Glück. Doch was, wenn der reduzierte Lebensstil zur Kulisse einer Dauerperformance wird – und das Wohnen selbst zur Ware? Mario Wurmitzers neuer Roman nimmt diesen Trend zum Anlass für eine herrlich schräge, satirisch überdrehte Geschichte über Überwachung, Entfremdung und den absurden Wunsch nach Selbstverwirklichung im Zeitalter von Likes und Livestreams.
Im Zentrum steht Emil – ein stiller, passiver Held, der sich durch wechselnde Wohn- und Arbeitsverhältnisse treiben lässt, irgendwo zwischen Digital Detox und Dauerperformance. Die Welt um ihn herum gerät immer wieder ins Kippen: Häuser brennen, die Realität wird zur Fassade, und zwischen Bewerbungsgesprächen und Firmenesoterik blitzt der Irrsinn unserer Gegenwart auf.
Wurmitzer gelingt es mit erstaunlicher Leichtigkeit, das Groteske und das Tragische miteinander zu verweben. Sein Humor ist trocken, seine Sprache pointiert – und genau darin liegt die Kraft dieses kurzen, aber intensiven Romans. Die Handlung folgt keiner klassischen Logik, sondern wirkt wie ein Stream aus zufälligen Begegnungen, absurden Wendungen und immer wieder kleinen Momenten der Klarheit. So entsteht das Bild eines Lebens, das sich zwischen Anpassung und Auflehnung verheddert hat – und das doch nicht ganz aus der Bahn gerät.
Tiny House ist keine Wohnutopie und keine klassische Gesellschaftssatire. Es ist vielmehr eine fein austarierte Farce über das Lebensgefühl einer Generation, die gleichzeitig nach Rückzug und Sichtbarkeit, nach Bedeutung und Ruhe sucht – und dabei in den Widersprüchen der Zeit festhängt.
Fazit:
Ein witziger, intelligenter Roman über das große Chaos im kleinen Raum. Wurmitzer schreibt klug und komisch über das Wohnen, das Arbeiten und das Suchen – und trifft dabei erstaunlich oft den wunden Punkt. Ein lesenswerter Roman für alle, die sich manchmal fragen, ob das Leben nicht längst selbst eine Inszenierung geworden ist.

Bewertung vom 24.05.2025
Osagiobare, Nora

Daily Soap


ausgezeichnet

Nora Osagiobare hat mit Daily Soap einen literarischen Coup gelandet: einen Roman, der nicht nur bitterböse und blitzgescheit, sondern auch radikal gegenwärtig ist. Was auf den ersten Blick wie eine locker-leichte Satire wirkt, entpuppt sich als messerscharfe Gesellschaftsanalyse mit maximalem Unterhaltungswert – ein echter page-turner mit Haltung.
Im Zentrum steht Toni – eine Schwarze Frau in der Schweiz, deren Hautton die Behörden liebevoll mit „Cappuccino Macchiato, serviert an einem lauen Novemberabend in Sri Lanka“ kategorisieren. Klingt absurd? Ist es auch – und genau das ist der Punkt. Osagiobare deckt in jedem Satz auf, wie tief Rassismus, Mikroaggressionen und Exotisierungsfantasien in der sogenannten Normalität verankert sind. Tonis Leben ist ein täglicher Spießrutenlauf zwischen strukturellem Ausschluss, familiärem Irrsinn und Kopfschmerzen, die vielleicht mehr sind als nur medizinisch erklärbar.
Parallel läuft der zweite Handlungsstrang: Ein gutbürgerliches Unternehmen wird durch einen Rassismus-Shitstorm aus dem neoliberalen Himmel geholt und beschließt – völlig ironiefrei – eine Reality-Show mit Schwarzen Protagonist:innen zu produzieren, um sich reinzuwaschen. Was sich daraus entspinnt, ist ein herrlich groteskes Panoptikum medialer Selbstinszenierung, performativer Antirassismus-Kampagnen und kolonialer Denkmuster im neuen Gewand. Wer glaubt, Kapitalismus und „Diversity“ seien versöhnbar, wird hier mit Stil und Schmackes eines Besseren belehrt.
Was Daily Soap so besonders macht, ist Osagiobares Sprachkunst: Jede Zeile sitzt, jeder Seitenhieb trifft – und zwar dort, wo es wehtut. Ihr Ton ist gleichzeitig rotzig und verletzlich, ihr Humor so präzise wie entlarvend. Sie schreibt mit einer Haltung, die sich nie anbiedert, sondern konsequent von unten, von der Seite, aus der Erfahrung der Marginalisierten erzählt. Dabei gelingt ihr das Kunststück, sowohl wütend als auch verspielt, melancholisch wie überdreht zu sein – eben genau so wie eine gute Daily Soap: voller Drama, Intrige, Chaos, aber mit Substanz.
Und ja – diese Geschichte hat Tiefe. Die Familiengeschichten, die Osagiobare erzählt, sind schrill und voller Absurditäten, aber sie bleiben nie bloß Karikaturen. Sie sind durchzogen von Fragen nach Zugehörigkeit, Identität, Entfremdung und Nähe – verpackt in popkulturellen Referenzen, feministischen Verweisen und einem Bewusstsein dafür, dass persönliche Geschichten immer auch politisch sind.
Fazit:. Eine literarische Watsche für alle, die immer noch glauben, Rassismus sei ein Einzelfall oder Humor könne nicht politisch sein. Osagiobare führt uns durch einen absurden Spiegelkabinettstaat, der unsere Welt erschreckend genau abbildet – und dabei so unterhaltsam ist, dass man erst beim Lachen merkt, wie sehr es brennt.
Wild und wahnsinnig gut – unbedingt lesen.

Bewertung vom 24.05.2025
Scheiber, Jaqueline

dreimeterdreißig


ausgezeichnet

dreimeterdreißig ist ein absolut beeindruckendes Debüt – ein Roman, der tief ins Herz trifft und uns, die Leserschaft, nicht mehr loslässt. Jaqueline Scheiber erzählt hier von einem ungleichen Paar, Klara und Balázs, das gerade dabei ist, sich in einer Wiener Altbauwohnung mit den hohen, fast majestätischen drei Meter dreißig hohen Wänden ein gemeinsames Leben aufzubauen. Doch was folgt, ist eine einzige Nacht, die alles verändert – eine Nacht, die mit einem Schlag das Leben zum Stillstand bringt und Klara vor die existenziellen Fragen von Liebe, Verlust und Erinnerung stellt.
Dieses Buch ist mehr als nur eine Geschichte über Liebe – es ist ein schmerzhaft schönes, poetisches Kammerspiel, das zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselt und so die innersten Gefühlswelten der Figuren erschließt. Scheiber zeigt uns, wie zerbrechlich und doch unendlich kraftvoll Liebe sein kann. Ihre Sprache ist dabei zart, brutal und gleichzeitig meisterhaft konstruiert – jede Seite pulsiert vor emotionaler Tiefe.
Was dreimeterdreißig so besonders macht, ist der intensive Blick auf zwei so unterschiedliche Lebensgeschichten: Klara, die aus einem wohlhabenden, behüteten Umfeld kommt, und Balázs, der mit einer ganz anderen, geprägt von Erinnerungen an Ungarn und den Nachwirkungen der kommunistischen Vergangenheit aufwächst. Durch diese Kontraste entsteht eine feinsinnige Erzählung, die auch subtil Gesellschaftliches und Klassismus beleuchtet, ohne dabei jemals belehrend zu wirken.
Die Autorin nimmt uns mit auf eine Reise durch das Zusammenspiel von Erinnerung und Gegenwart, von Glücksmomenten und Schmerz, die das Ende einer Liebe unvermeidlich machen. Man spürt förmlich das knarzende Parkett, die offenen Flügeltüren und das leise Ticken der Uhr, während Klara verzweifelt versucht, die Zeit anzuhalten oder zumindest das Unvermeidliche zu verstehen.
Ein weiteres besonderes Highlight ist der wunderschöne, kunstvoll gestaltete Farbschnitt des Buches, der nicht nur optisch überzeugt, sondern auch die emotionale Atmosphäre des Romans unterstreicht – eine perfekte Symbiose von Inhalt und Design, die zeigt, wie viel Liebe zum Detail hier steckt. Dass dieses außergewöhnliche Werk beim renommierten, kleinen österreichischen Leykam Verlag erschienen ist, unterstreicht deren exzellentes Gespür für literarische Perlen, die man nicht verpassen darf.
Für alle, die sich auf eine tiefgründige, literarisch kunstvolle Reise einlassen wollen, ist dreimeterdreißig ein absolutes Muss. Ein Buch, das erdet und gleichzeitig schwerelos macht, das mit jeder Seite mehr berührt und mit seinem vielschichtigen Psychogramm von Klara und Balázs nachhallt.
Mein Fazit: dreimeterdreißig ist ein kraftvolles, berührendes und sprachlich meisterhaftes Romandebüt, das von einer Liebe erzählt, die nicht endet, auch wenn das Leben es tut. Ein wunderschön gestaltetes Buch, das man am liebsten mit der Hand auf dem Herzen liest – und das einen lange begleitet. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.05.2025
Swanberg, Johanna

Sommer ohne Plan


ausgezeichnet

Sommer ohne Plan ist genau das Gegenteil von planlos – Johanna Swanberg gelingt mit ihrem Debütroman ein durchkomponierter, pointierter und zugleich tief berührender Sommerroman, der Witz und Wärme gekonnt verbindet. Ein klarer, lebendiger Stil, schräge, aber glaubwürdige Figuren und ein feines Gespür für zwischenmenschliche Zwischentöne.
Swanbergs Stil ist leicht, dialogreich und gespickt mit liebevollen Details. Sie schreibt mit Augenzwinkern, aber ohne ihre Figuren bloßzustellen. Vielmehr begegnet sie ihnen mit Wärme und Verständnis. Ihre Sprache ist alltagstauglich und direkt, aber immer wieder überraschend – sei es durch eine absurde Wendung oder eine scharf beobachtete Pointe. Dabei wirkt der Ton nie bemüht humorvoll, sondern fließt natürlich aus den Eigenheiten der Figuren.
Ich muss auch die tolle Übertragung aus dem Schwedischen loben von Nina Hoyer. Sie hat den Text toll in ein lesbares Deutsch übertragen und man könnte meinen es ist auf Deutsch erschiene!
Im Mittelpunkt steht Cassie, die sich – urplötzlich Alleinerbin eines Hauses – in einem kleinen, sehr eigenwilligen Dorf wiederfindet. Die Begegnungen mit den Dorfbewohnern sind herrlich skurril: Da ist die Nachbarin, die zu viel weiß, ein Bürgermeister mit Mission und ein charmant-schrulliger Handwerker. Aus dem Kontrast zwischen Cassies anfänglicher Überforderung und dem seltsamen Charme der Dorfgemeinschaft entsteht ein fein gezeichneter, tragikomischer Sog.

Fazit:
Sommer ohne Plan ist ein klug erzählter Wohlfühlroman mit eigenem Ton, der nicht ins Kitschige abgleitet, sondern mit einer sympathisch schrägen Erzählwelt überzeugt. Ideal für Leserinnen und Leser, die humorvolle Romane mit Herz suchen.

Bewertung vom 21.05.2025
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen


ausgezeichnet

Als jemand, der asiatische Literatur sehr schätzt, war Das Haus der Türen von Tan Twan Eng für mich eine rundum gelungene Lektüre. Der Roman überzeugt mit einer durchdachten Struktur, vielschichtigen Figuren und einer Sprache, die ruhig und atmosphärisch ist, ohne je ins Pathetische zu kippen. Wirklich gut!
Die Handlung spielt vor der Kulisse des kolonialen Malaysia der 1920er Jahre. In den Mittelpunkt stellt der Autor Lesley Hamlyn, eine Frau der britischen Kolonialgesellschaft, deren Leben durch den Besuch des bekannten Schriftstellers W. Somerset Maugham eine unerwartete Wendung nimmt. Zwischen ihr und Maugham entsteht ein vorsichtiges Vertrauensverhältnis, in dem sie beginnt, über persönliche Erlebnisse und ihre Vergangenheit zu sprechen – darunter eine Beziehung die etwas heikel ist sowie eine Verwicklung in einen Mordfall (der wohl auf realen historischen Ereignissen basiert).
Tan Twan Eng gelingt es, historische Fakten, politische Umbrüche und persönliche Schicksale sehr präzise miteinander zu verknüpfen. Besonders interessant fand ich, wie das koloniale Machtgefüge, gesellschaftliche Rollenbilder und die eingeschränkten Handlungsspielräume von Frauen thematisiert werden. Geschichtlich spannend für mich.
Auch stilistisch hat der Roman überzeugt: Die Sprache ist klar, stellenweise poetisch, aber nie überladen. Die Beschreibungen der tropischen Landschaft, des Lichts, der Geräusche – all das schafft eine stimmige Atmosphäre, die sich gut mit der inneren Welt der Figuren verbindet. WOW! Lesley ist keine idealisierte Figur, sondern glaubwürdig gezeichnet – mit inneren Widersprüchen, Unsicherheiten und leisen Formen von Widerstand.
Erwähnenswert ist auch der literarische Kunstgriff, Somerset Maugham als Figur einzubauen. Er bleibt distanziert, aber aufmerksam, und dient gewissermaßen als Katalysator für die Erzählung – auch das sehr gelungen umgesetzt.
Nicht alle Handlungsstränge fand ich gleich spannend, manche Themen hätten für meinen Geschmack etwas gestraffter sein können. Dennoch überwiegt am Ende ein sehr positives Gesamtbild: ein Roman mit Tiefe, guter Beobachtungsgabe und einer historischen wie emotional glaubwürdigen Erzählweise.
Fazit: Das Haus der Türen ist ein ruhiger, intelligenter Roman mit gesellschaftlichem und politischem Hintergrund, gut eingebettet in eine persönliche Geschichte. Für Leserinnen und Leser mit Interesse an südostasiatischer Geschichte, britischer Kolonialzeit und fein erzählten Figurenbeziehungen absolut empfehlenswert.

Uneingeschränkte Empfehlung.

Bewertung vom 20.05.2025
Suter, Martin

Wut und Liebe


ausgezeichnet

Was haben ein mittelloser Künstler, eine karrierebewusste Buchhalterin und eine wohlhabende, alte Dame gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts – doch in Martin Suters neuem Roman Wut und Liebe kreuzen sich ihre Lebenswege in einer Geschichte über emotionale Abhängigkeiten, moralische Abgründe und die verzweifelte Suche nach Kontrolle über das eigene Leben.
Noah ist Anfang dreißig, ein Maler mit Talent, aber ohne wirtschaftlichen Erfolg. Seine Freundin Camilla – Buchhalterin, rational, zukunftsorientiert – trägt die finanzielle Last der Beziehung. Als sie sich trennt, wirkt es wie eine kluge Entscheidung: „Ich liebe dich, aber nicht das Leben mit dir.“ Eine nüchterne Trennung – oder doch eine Flucht vor einem Leben, das nicht den Erwartungen entspricht?
Was folgt, ist keine klassische Liebesgeschichte. Es ist vielmehr ein Roman über das, was nach dem Liebes-Aus bleibt: Wut, Leere, der Drang, sich zu beweisen – und eine fast groteske Hoffnung, durch materielle Sicherheit die Liebe zurückzugewinnen. Genau an diesem Punkt tritt Betty Hasler auf den Plan. Alt, scharfzüngig und reich, bietet sie Noah einen „Deal“ an, der auf Rache basiert – und auf ein Millionenvermögen. Moralisch fragwürdig? Absolut. Doch Suter macht deutlich: In der Grauzone zwischen verletzter Würde und menschlichem Verlangen gibt es selten eindeutige Entscheidungen.
Was Suter in diesem Roman wieder mal gelingt, ist die Balance zwischen psychologischer Tiefe und leichter, eleganter Erzählweise. Die Figuren wirken nie wie Stereotype – oft verwirrend, manchmal töricht, aber immer nachvollziehbar in ihren Widersprüchen. Besonders Noah, der zwischen Hilflosigkeit, kreativer Sehnsucht und wachsender Wut schwankt, entwickelt sich im Laufe der Geschichte zu einer tragischen Figur – nicht, weil er scheitert, sondern weil er glaubt, mit dem richtigen Einsatz die Liebe zurückkaufen zu können.
Auch Camilla ist mehr als nur die „kalte Berechnende“. Im zweiten Handlungsstrang gewinnt sie an Profil, versucht sich selbst zu behaupten – und verfängt sich dabei in einer eigenen Spirale aus Täuschung, Ernüchterung und Selbstinszenierung. Das Besondere: Auch sie wird von ihrer Version der Liebe angetrieben, aber in einer ganz anderen Tonlage als Noah.
Zwischen den Kapiteln entfaltet sich allmählich ein Beziehungs- und Gesellschaftsdrama, das sich gegen Ende zu einem fast thrillermäßigen Wirtschaftskrimi zuspitzt. Mit einem Gespür für Tempo und Timing lässt Suter die Handlung Fahrt aufnehmen, verwebt Kunstwelt mit Finanzskandalen, persönliche Niederlagen mit struktureller Ungerechtigkeit. Und dabei bleibt stets die titelgebende Ambivalenz: Wut und Liebe – beide Gefühle bedingen einander, nähren sich gegenseitig, fließen ineinander über.

Bewertung vom 20.05.2025
Docherty, Madeline

Erdbeeren und Zigarettenqualm (eBook, ePUB)


gut

Du bist jung, studierst in Glasgow, küsst zum ersten Mal ein Mädchen, verliebst dich in deine beste Freundin – und liegst plötzlich in der Notaufnahme. So beginnt Madeline Dochertys Debüt Erdbeeren und Zigarettenqualm – direkt, intim, verletzlich. Was wie eine Coming-of-Age-Geschichte klingt, entpuppt sich schnell als ein ebenso intensives wie schmerzhaft schönes Porträt über Freundschaft, Krankheit und das Erwachsenwerden in all seiner Widersprüchlichkeit.
Die namenlose Protagonistin erzählt ihre Geschichte in der Du-Perspektive – ein ungewöhnlicher, aber wirkungsvoller Kniff, der sofort Nähe schafft, aber auch anstrengend sein kann. Man wird nicht nur zur Leserin, sondern zur Mitfühlenden, zur Vertrauten, fast zur Beteiligten. Der Stil erinnert an Sally Rooney, auch durch das Fehlen von Anführungszeichen, doch Docherty schafft es, eine ganz eigene Sprache zu finden: roh, direkt, poetisch – mit einem untrüglichen Gespür für Zwischentöne.
Im Zentrum steht die Freundschaft zur charismatischen, lebenshungrigen Ella. Sie ist Stütze und Schwachstelle zugleich, Rettungsanker und Abgrund. Während sich die Ich-Erzählerin durch ein unstetes Leben voller Partys, Jobs, Affären und innerer Unruhe treiben lässt, bleibt Ella der Fixpunkt – bis das Ungleichgewicht ihrer Beziehung zu kippen droht.
Besonders eindringlich ist die Darstellung der chronischen Krankheit Endometriose: Schonungslos, ehrlich und ohne falsches Pathos zeigt Docherty, wie diese Diagnose das Leben der Protagonistin durchzieht – körperlich, psychisch, sozial. Wer selbst betroffen ist oder Betroffene kennt, wird sich gesehen fühlen. Wer davon noch nie gehört hat, wird es nach diesem Buch nicht mehr vergessen.
Was bleibt, ist eine Geschichte voller Widersprüche: wild und traurig, zart und laut, vertraut und fremd. Ein Roman, der nicht nur erzählt, sondern spüren lässt – den Schmerz, die Sehnsucht, die Leere, die Hoffnung. Und die Liebe, die manchmal nicht reicht.

Bewertung vom 20.05.2025
Moore, Georgina

Die Garnett Girls


sehr gut

Manchmal sind es die leisesten Romane, die am lautesten nachhallen. Die Garnett Girls ist genau so ein Buch: kein krachendes Drama, kein atemloser Plot – sondern ein fein gewobenes Familienporträt, das sich behutsam, aber mit Nachdruck ins Herz der Leser:innen schreibt.
Der Sommer auf der Isle of Wight scheint golden, die salzige Luft flimmert über dem alten Cottage am Meer – und doch brodelt es unter der Oberfläche. Hier lebt Margo Garnett, einst wild und glamourös, heute charismatisch und unnahbar. Sie schweigt über die Vergangenheit, über Richard, den Mann, der ging. Doch ihr Schweigen ist laut – und es hallt nach in den Leben ihrer drei Töchter.
Rachel, die Älteste, hält alles zusammen. Sie ist das Rückgrat der Familie, und gerade deshalb vergisst sie sich selbst. Imogen, die Mittlere, lebt zwischen den Zeilen ihres eigenen Theaterstücks, verlobt, aber zweifelnd, mit einem Mann, der zu gut scheint, um wahr zu sein. Und Sasha, die Jüngste, rebellisch, wild, in einer Ehe gefangen, die wie ein Käfig aus Samt ist. Jede von ihnen ringt um Freiheit – und trägt doch das Erbe ihrer Mutter wie ein unsichtbares Gewicht.
Georgina Moore gelingt mit ihrem Debüt das Kunststück, vier Frauenstimmen nicht nur hörbar, sondern fühlbar zu machen. Ihre Figuren sind keine glatten Romanheldinnen, sondern lebendige, widersprüchliche Charaktere – mutig, verletzlich, wütend, liebevoll. Sie lieben sich, sie streiten, sie reden (viel) – und trotzdem bleibt so vieles ungesagt. Diese Dichte an inneren Konflikten, an generationsübergreifenden Prägungen und unausgesprochenen Wahrheiten macht das Buch so tiefgründig – ohne je schwer zu wirken.
Besonders stark ist die Atmosphäre: Die Isle of Wight ist nicht nur Kulisse, sie ist ein eigener Charakter – mit ihren Kreideklippen, verwitterten Dielen, zerfallenden Cottages. Hier wird geschwiegen, gestritten, geliebt, getrunken – und sich langsam versöhnt mit dem, was war.
Moores Sprache ist ruhig, sensibel, voller Beobachtungskraft – und in der Übersetzung von Christiane Burkhardt wunderbar nuanciert ins Deutsche übertragen. Kein Satz ist zu viel, kein Bild zu kitschig. Statt lauter Dramatik gibt es hier Tiefe – und das ganz ohne Pathos.
💬 Fazit: Die Garnett Girls ist ein mitreißender, kluger Roman über das, was Familie mit uns macht – und wie schwer es ist, sich davon zu lösen. Ein Buch für alle, die in den kleinen Momenten das Große suchen. Für Sommertage – und lange Nachmittage am Fenster, mit Blick auf die eigene Vergangenheit.

Bewertung vom 20.05.2025
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


ausgezeichnet

Paola Lopez’ Debütroman Die Summe unserer Teile ist mehr als ein feinfühliges Familiendrama – er ist ein vielschichtiger, feministisch geprägter Roman über drei Generationen von Frauen, deren Leben durch familiäre Bande, kulturelle Brüche und eine gemeinsame Leidenschaft für Wissenschaft miteinander verknüpft sind. Die Geschichte spannt sich über acht Jahrzehnte und drei Kontinente – von Polen über den Libanon bis nach Deutschland – und behandelt zentrale Themen wie Selbstbestimmung, Rollenerwartungen, intergenerationale Traumata und das Ringen um Versöhnung.

Drei Frauen, drei Wissenschaften – ein Kampf um Selbstbestimmung
Im Mittelpunkt stehen die Chemikerin Lyudmila, ihre Tochter Daria – eine Medizinerin – und ihre Enkelin Lucy, die Informatik studiert. Alle drei sind in männerdominierten Wissenschaftsfeldern tätig, alle drei müssen sich dort behaupten. Lopez zeigt, wie diese Frauen über Jahrzehnte hinweg mit den Zwängen ihrer Zeit, tradierten Rollenbildern und familiären Altlasten kämpfen.

Lyudmila flieht im Zweiten Weltkrieg aus Polen in den Libanon und widmet sich dort kompromisslos ihrer Karriere als eine der ersten Chemikerinnen des Landes. Daria wächst in Beirut auf, verlässt den Libanon während des Bürgerkriegs, wird Ärztin in Deutschland – und erzieht ihre Tochter Lucy mit strenger Fürsorge und hohen Erwartungen. Lucy wiederum lebt 2014 in Berlin, hat den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen – und wird durch die Lieferung eines alten Klaviers, Symbol ihrer Kindheit, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.

Diese Generationenlinie verknüpft Lopez klug mit einer feministischen Perspektive: Die Wahl der Naturwissenschaften als verbindendes Element ist ein Statement. Die Frauen sind nicht Opfer, sondern Handelnde – wenn auch oft in stummen Kämpfen. Lopez zeigt, wie weibliche Selbstverwirklichung in männlich geprägten Kontexten oft nur unter hohen persönlichen Opfern möglich ist.

Mutterschaft als ambivalente Erfahrung
Ein zentrales Thema des Romans ist Mutterschaft – fern von Idealisierung. Lyudmila erscheint kühl und unnahbar; Daria als überfürsorglich und fordernd. Lucy fühlt sich eingeengt, nicht gesehen, überfordert von den Ansprüchen ihrer Mutter.

Lopez dekonstruiert gängige Mutterbilder und macht die Spannung sichtbar, die zwischen Fürsorge, Kontrolle und Selbstverwirklichung liegt. Keine der drei Frauen ist nur Täterin oder nur Opfer – sie sind geprägt von den Verletzungen ihrer Mütter, geben diese ungewollt weiter und versuchen gleichzeitig, ihren eigenen Weg zu gehen.

Besonders Lucy gelingt eine vorsichtige Annäherung an das, was vorher verdrängt und verschwiegen wurde. Ihre Reise nach Sopot wird zur symbolischen wie tatsächlichen Bewegung auf die eigene Familiengeschichte zu – ein tastender Versuch, den Zyklus der Sprachlosigkeit zu durchbrechen.

Das Schweigen zwischen den Generationen
Ein weiteres starkes Motiv ist das Schweigen – das Unausgesprochene, das zwischen den Generationen steht. Konflikte werden nicht benannt, sondern ausgesessen oder verdrängt. Die Figuren leiden nicht nur unter äußeren Umständen, sondern auch unter emotionaler Distanz, unausgesprochenen Erwartungen und familiären Missverständnissen.

Lopez zeigt eindrucksvoll, wie sich dieses Schweigen vererbt – und wie schwer es ist, es zu brechen. Dabei gelingt ihr eine feinfühlige Figurenzeichnung: Keine der drei Frauen wird idealisiert, doch jede erhält ihre eigene Stimme, ihre eigene Perspektive, ihre eigene innere Wahrheit. Die Wechsel der Zeitebenen sind fließend, die Übergänge zwischen den Lebensgeschichten der Frauen subtil und stimmig gestaltet.

Stil und Erzählweise
Lopez’ Sprache ist klar und atmosphärisch, mit einem Gespür für emotionale Zwischentöne. Besonders gelungen ist der Aufbau des Romans, der zwischen Zeitebenen und Perspektiven wechselt, dabei aber stets die emotionale Linie beibehält. Die narrative Struktur spiegelt das Fragmentarische der Familiengeschichte – manche Leerstellen bleiben bewusst offen und fordern die Leser*innen zur eigenen Reflexion auf.

Die wissenschaftliche Ebene – Chemie, Medizin, Informatik – dient nicht nur als Hintergrund, sondern als Ausdruck weiblicher Autonomie. Gleichzeitig thematisiert der Roman die strukturellen und persönlichen Hürden, denen Frauen in diesen Bereichen begegnen. Die Wissenschaft wird so zum Ort weiblicher Emanzipation, aber auch zur Projektionsfläche für familiäre Entfremdung.

Fazit
Die Summe unserer Teile ist ein bemerkenswerter Debütroman, der mit erzählerischer Kraft und psychologischer Tiefe drei Frauenschicksale über mehrere Generationen hinweg verknüpft. Paola Lopez erzählt von Selbstbehauptung, familiären Verletzungen und dem Versuch, eigene Wege zu gehen, ohne die Verbindung zu den Wurzeln zu verlieren.

Ein bewegender, feministisch fundierter Roman über Mütter, Töchter, Wissenschaft – und über die Frage, wie viel Vergangenheit in uns steckt. Für alle, die Familienromane mit Tiefgang, starken Frauenfiguren und gesellschaftlicher Relevanz schätzen.