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KrimiElse

Bewertungen

Insgesamt 73 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2018
Die Gesichter
Rachman, Tom

Die Gesichter


ausgezeichnet

Warmherziges Sittengemälde
In seinem neuem Roman „Die Gesichter“ lotet der Autor Tom Rachman eine aufregende Vater-Sohn Beziehung mit viel psychologischem Spürsinn aus, wirft dabei einen warmherzig-kritischen Blick auf einen Ausnahmekünstler mit dem ihn umgebenden Kunstapparat und schafft mit Leichtigkeit und wie nebenbei eine spannungsgeladene, äußerst lesenswerte und wirklich grandiose Geschichte.

Bear Bavinsky, gefeierter Ausnahmekünstler, schillernde und exzessive Gestalt, Vater vieler Kinder und Mann zahlreicher Frauen, ist der leuchtende Mittelpunkt im Leben seines Lieblings-Sohnes Pinch. Bear malt wie besessenen mit großem Erfolg, verbrennt viele seiner Bilder, die ihn nicht zufrieden stellen, lebt Beziehungen zu seinen Frauen und Kindern immer solange, wie sie nicht kompliziert werden. Sein erklärter Lieblingssohn bewundert ihn und eifert ihm nach, doch mit einer einzigen Bemerkung über ein Gemälde von Pinch zerstört Bear alle Hoffnungen seines Sohnes auf ein Künstlerleben. Desillusioniert gibt Pinch das Malen für lange Zeit auf, träumt aber immer davon, seinem Vater menschlich und künstlerisch nahe zu sein. Und auch wenn es ihm gelingt, aus dem großen Kreis seiner Halbgeschwister derjenige zu bleiben, den der Vater zu seinem Lieblingskind und Nachlassverwalter bestimmt, steht er lange Zeit im übergroßen Schatten seines Vaters hintenan. Letztlich schlägt er sich als Lehrer an einer zweitklassigen Sprachschule in London durchs Leben. Nach dem Tod seines Vaters trifft Pinch eine ungeheuerliche Entscheidung und erreicht auf völlig überraschende Weise endlich das eigene innere Leuchten.

Die äußerst komplexe Vater-Sohn-Beziehung steht im Mittelpunkt der Geschichte. Bear als unglaublicher Charakter, talentiert und übermächtig, hält zwar in Bezug auf sein Leben und das seines Sohnes die Fäden in der Hand, ist allerdings als Familienmensch und Vater ein totaler Versager. Pinch, lange Jahre in seinem Schatten stehend und sprichwörtlich von seinen Tischabfällen lebend, lechzt immer wieder nach der Anerkennung von Bear, will dieser großen warmen Sonne um jeden Preis nahe sein, auch nachdem Bear sich neuen Frauen und Familien zuwendet. Es ist erstaunlich tiefsinnig beschrieben, was Pinch zu diesem Zweck auf sich nimmt, wie wenig er eigenes Licht ausstrahlt und wie lange er ohne es wirklich zu merken eigene Interessen komplett hintenan stellt. Umso erstaunlicher und für mich auf sehr überraschende und skurrile Art geschieht seine Emanzipation gegenüber dem mächtigen Vater nach dessen Tod.

Auch Bear muss um Anerkennung kämpfen auf künstlerischem Gebiet. Und das ist das zweite äußerst spannende Thema, dem sich der Autor zuwendet: der Kunstmarkt mit vielen Licht- und Schattenseiten, kapitalistischen Denkweisen versus wahrer Leidenschaft, Vermarktung, Spekulation und unzähligen skurrilen Galeristen, Sammlern, Journalisten. Was macht einen Künstler aus, genügt Talent für Erfolg oder braucht er Aufmerksamkeit durch Skandale und Ausschweifungen? Welche Hebel kann man manipulativ in Bewegung setzen?

Es ist grandios, wie warmherzig Tom Rachman seine Figuren beschreibt, wie nahe er den Leser an sie heran lässt, wie miteifernd und mitfühlend man die Geschichte dadurch verfolgt. Wortgewaltig und emotionsgeladen sind die zwischenmenschlichen Konflikte, manchmal skurril und oft mit erstaunlichem Witz geschrieben. Tief berührend ist das Schicksal von Pinch, der zeitlebens um Anerkennung buhlt. Tom Rachman kann großartig schreiben und hat eine wirklich gute, anspruchsvolle, emotionsgeladene, spannende und erstaunlich moralische Geschichte zu erzählen, wenn man sich ganz darauf einlässt.

Bewertung vom 08.10.2018
Weit weg von Verona
Gardam, Jane

Weit weg von Verona


ausgezeichnet

Coming of Age auf Britisch
In ihrem Erstling „Weit weg von Verona“ trifft die gefeierte britische Autorin Jane Gardam den Ton einer altklugen und launigen 13jährigen einfach perfekt. Skurril und aberwitzig, trocken und „very British“ folgt man auf verdrehten Gedanken und Wegen der Jessica Vye in Cleveland Sands und Cleveland Spa an der nordöstlichen Küste Englands, grandios übersetzt von Isabel Bogdan.
Es ist eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Zentrum der Geschichte ist die 13jährige Jessica, die sich in der Schule langweilt und aus Prinzip immer die Wahrheit sagt. Letzteres macht sie nach eigener Einschätzung ziemlich unbeliebt. Sie lebt an der ostenglischen Küste zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, als Luftangriffe der Deutschen das Land heimsuchten. Ihr Vater, ehemals Housemaster einer Schule, verdingt sich nunmehr als Hilfsgeistlicher und schreibt philosophische Zeitungsartikel. Die Mutter ist Hausfrau, eine etwas schnoddrige, und der kleine Bruder ist die Nervensäge der Recht unkonventionellen Familie.
Jessica möchte Schriftstellerin werden, spricht gerne wie Shakespeare in Blankversen und versucht alle Klassiker der örtlichen Bibliothek zu lesen - in alphabetischer Reihenfolge.
Ermutigt wird sie von einem Schriftsteller, der an Jessicas Schule sprach als sie neun Jahre alt war, gebremst von ihrer missmutigen Englischlehrerin Miss Dobbs, die in ihren Bemühungen nur die Flausen einer Heranwachsenden sieht.
Mitten im Lesen, Schreiben, in ihrer ersten Liebe und den Luftangriffen, bei ihren alltäglichen Verrücktheiten mit Freundinnen oder mit der Familie sucht Jessica ihren Weg, erzählt schnoddrig und mäandernd von ihren Erlebnissen und lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern.

Das Buch besitzt eine sprachliche Spitzfindigkeit und treibende Dynamik, die beim Lesen große Freude macht. Jane Gardams erster Roman zeigt sehr deutlich, warum sie für ihre Trilogie „Old Fith“ so gefeiert wurde. Einfach eine schöne Geschichte erzählt das Buch hier, unterhält auf höchstem Niveau und ist nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung rundum gelungen.

Bewertung vom 08.10.2018
Ida
Adler, Katharina

Ida


gut

Zeitreise
Wenn ein Buch schon alleine wegen des Namens der Autorin und dem der Romanheldin so viele Vorschusslorbeeren erntet, ist es schwer, dieses ohne hohe Erwartungshaltung zu lesen. Thematisch höchst interessant, bereits mit Preisen ausgezeichnet und von der Kritik viel gelobt kommt der Roman „Ida“ als Debüt der Autorin Katharina Adler daher.

Die Geschichte der Ida Adler, erzählt von ihrer Urenkelin Katharina Adler, beginnt, wenn auch nicht chronologisch berichtet, am Ende des 19.Jahrhunderts und endet 1945. Die Krankheitsgeschichte der berühmten Patientin Sigmund Freuds, als Hysterikerin eingestuft und durch sich selbst aus dessen Behandlung entlassen, ist geschickt verknüpft mit Idas Familiengeschichte. Höchst interessant mit wenigen eingestreuten Notizen Freuds, löst sich der Roman jedoch weit von Der Hysteriegeschichte und verleiht Ida Adler mit ihrem unglaublichen Überlebenswillen trotz der zeitgeschichtlichen Widrigkeiten und Wirrnisse eine starke Stimme. Nicht minder interessant ist der Werdegang des Österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer, Idas Bruders, und seines Umfeldes, wozu zum Beispiel Friedrich Adler, der den kaiserlichen Ministerpräsidenten Stürgkh erschoss, gehört.
Entspannt, mit Liebe zu Details des Wiener Lebens ist die Familiengeschichte erzählt, und obwohl manche Passagen bemüht und angestrengt wirken ergibt sich ein rundes Bild vom Leben der Jüdin, die bei Kriegsausbruch gezwungen war, ihre Heimat zu verlassen und mit Hilfe der Sozialdemokraten eine wahre Odyssee bis zur Ankunft in den USA hinter sich bringen musste.

Halb fiktional als Romanbiografie erzählt ist das Buch eine Mischung aus wenigen hinterlassenen Materialien der Ida Adler, viel zeitgeschichtlicher Recherche und mit Fantasie der Autorin gefüllten Lücken.
Stilistisch wirkt auf mich sehr störend, dass man diese Übergänge ziemlich deutlich mitbekommt. Das Buch hätte sehr gut funktionieren können, aber vielleicht fehlt der Autorin die Schreiberfahrung, und so entstehen trotz der durchaus gewollten zeitlichen und inhaltlichen Sprünge und der Unterschiedlichkeit der Geschichte zu viele Versatzstücke, die für mich einfach nicht gut zusammenpassen wollen. Sprachlich holprig und etwas mühsam zu lesen wird der Roman dadurch.
Es ist dennoch ein lesenswertes und interessantes Buch, wenn man darüber hinwegsehen kann und sich vordergründig faktisch auf Ida Adlers Geschichte einlässt.

Bewertung vom 19.08.2018
Das weibliche Prinzip
Wolitzer, Meg

Das weibliche Prinzip


sehr gut

Sanfter Feminismus
Ein bisschen weichgespült mutet Meg Wolitzers neuestes Buch „Das weibliche Prinzip“ an, nachdem man nach Verlagswerbung und Klappentext eigentlich einen feministischen Roman erwartet. Ich habe das Buch dennoch gerne gelesen, denn die Autorin kann schreiben und verknüpft Amerikanische Familiengeschichte und Coming-of-Age-Roman Geschichte mit einer Geschichte zur Frauenbewegung, letztere allerdings eher wenig kämpferisch.

Geer Kadetsky, ein schüchternes Kleinstadt-College-Mädchen und Faith Frank, seit Jahrzehnten eine Ikone der amerikanischen Frauenbewegung, begegnen sich bei einem von Faiths College-Auftritten. Die damals 63jährige Faith besitzt alle Attribute, die Greer gerne hätte: sie ist charismatisch, kämpferisch und unerschrocken. Die unsichere Greer verändert sich durch diese Begegnung und beginnt, sich wichtige Lebensfragen außerhalb ihrer kleinen heilen Welt mit ihrem Freund Cory, den sie seit Kindestagen kennt, zu stellen. Nach ihrem Abschluss bietet Faith Greer einen Job in einem neuen Frauen-Projekt an, Greer zieht nach Brooklyn und verabschiedet sich damit vollends aus ihrem alten Leben und ihren kleinlichen Zukunftsplänen. Viele positive und auch negative Erfahrungen prägen von da an ihren nicht immer leichten Weg, der sie zur Selbsterkenntnis, Einsicht und letztlich wieder zur zufriedenen Gelassenheit führt.

Meg Wolitzer zeichnet das feministische Erwachen und das Erwachsenwerden der Greer Kadetsky nach, eine Heldin, die sich letztlich versucht selbst zu verwirklichen, aus ihrem kleinen beengten Kreis auszubrechen und statt dessen einen steinigen aber idealistischen Weg einschlägt. Mit vielen Rückschauen und sehr differenzierten Nebenfiguren und Nebenschauplätzen ergibt sich ein unterhaltsames Konstrukt. Interessante Blicke auf die Geschichte der Frauenbewegung, denn auch wenn Faith Frank eine fiktive Figur ist, findet man Entsprechungen in der Frauenbewegung weltweit, und nicht zuletzt aktueller Bezug zu den Machtfragen der Trump-Ära hätten einen wirklich großartigen Roman hervorbringen können, wenn die sprachliche Spritzigkeit der Autorin bei der stellenweise hausbackenen und althergebrachten Übersetzung nicht auf der Strecke geblieben wären und wenn sich Meg Wolitzer nicht weitestgehend auf die kuschelige Gemütlichkeit der weißen weiblichen Mittelschicht beschränkt hätte, die auf Frauen-Konferenzen mit Appetizern in Edelklamotten frisch frisiert die schreckliche Welt ein bisschen zu verbessern versucht.

So ist es eben ein gut lesbarer, unterhaltsamer Roman, dem aber jeglicher feministischer Kampfgeist fehlt, der die Heldinnen seltsam unproduktiv verharren lässt, da die Frage nach Intersektionalität hinsichtlich wirtschaftlicher, sexistischer und rassistischer Benachteiligung nicht einmal gestellt wird und die statt dessen in Drogenschwadigen Erinnerungen schwelgen. Auch bezüglich Greers Weg dreht sich die Geschichte letzten Endes im Kreis, denn auch sie erhebt, als sie desillusioniert auf unbequeme Wahrheiten stößt, nicht wirklich ihre Stimme, sondern gibt den Stab letztlich nur weiter und zieht sich zurück.

Bewertung vom 11.06.2018
Krokodilwächter / Kørner & Werner Bd.1
Engberg, Katrine

Krokodilwächter / Kørner & Werner Bd.1


sehr gut

Einstiegsdroge

Eine pensionierte Musikdozentin, in deren Haus ein Mord nach ihrem Buchmanuskript passiert, ein junger Mann, der besessen nach dem Opfer gewesen ist und zwei Ermittler, die auf den ersten Blick so gar nicht zusammenpassen wollen, sind die Zutaten zum ersten Teil der neuen Kopenhagen-Thriller-Serie von Katrine Engberg, erschienen im Diogenes-Verlag mit außergewöhnlich schönem Cover.

Die Leiche einer jungen Frau, die erst weniger Monate zuvor im Haus der pensionierten Musikdozentin Esther de Laurenti eingezogen war, wird in ihrer Wohnung gefunden, und die erste Spur führt zu einem Buchmanuskript der etwas exzentrischen Esther, das auf verblüffende Weise dem Tathergang dieses Mordes ähnelt, und das nur online in einer Schreibgruppe diskutiert wird. Die beiden Ermittler Jeppe Kørner und Anette Werner versuchen, den Kreis der Verdächtigen und die ernstzunehmenden Spuren einzugrenzen, während weitere Morde geschehen, streng nach Romanvorlage.

Mit dem Reigen um die verdächtigen Personen, verfolgbaren Spuren und dem Miträtseln beim Lesen handelt es sich eher um einen klassischen Ermittlerkrimi als um einen Thriller, was mir jedoch sehr gefiel. Daneben machen die ausführliche Einführung der Autorin ins Setting und eine umfangreiche Biografie, die den Charakteren von ihr mitgegeben wird, das Buch zu einer hervorragenden Einstiegsdroge für weitere Fälle des Ermittlerduos aus Kopenhagen.

Zwar ist in diesem ersten Band Jeppe privat etwas gebeutelt und psychisch angeschlagen, erscheint gefährlich abgelenkt, sein Handeln umständlich und sich selbst im Wege stehend, so dass seine Partnerin Anette im Vergleich zu ihm souverän handeln muss, doch der background seiner privaten Probleme deutet darauf hin, dass er sich nicht als drogenversumpfter abgehalfterter Polizist durch alle Bände ziehen wird.

Nach einem sehr spannend angelegten Versteckspiel zwischen Polizei und Täter wartet das Buch am Ende mit einer überraschenden Auflösung auf, und auch wenn einige wenige Fragen offen bleiben, weil man als Leser gegen Ende eines guten Krimis hinter jedem kleinen Schatten gerne ein Monster sehen möchte, macht das Buch Lust auf weitere Bände dieses wirklich gelungenen nordischen Krimis.

Bewertung vom 11.06.2018
Das Mädchen, das in der Metro las
Féret-Fleury, Christine

Das Mädchen, das in der Metro las


gut

Blasser Bücherzauber

„...jedes Buch ist wie ein Porträt und hat mindestens zwei Gesichter...Das Gesicht von der Person, die es weitergibt. Und das Gesicht von der Person, die es empfängt.“

Ich habe mich locken lassen. Vom Titel und dem schönen Cover, vom Verlag, von der Verlagsinformation zur Autorin, deren Bücher bereits prämiert worden sind, und natürlich nicht zuletzt vom märchenhaften Plot, bei dem es um Bücher und ihr Macht zur Veränderung geht. Klingt genau nach einem Buch für mich, es hat mich aber leider überhaupt nicht gepackt, trotz guter Ideen und Ansätze, trotz guter Sprache und trotz eines meiner Lieblingsthemen - Bücher. Die Geschichte plätschert dahin, und ich bin nicht wirklich in der Lage zu sagen, woran das eigentlich liegt.

Juliette führt ein ereignisloses und sicheres Leben als Büroangestellte eines Pariser Maklerbüros, pendelt täglich die gleiche langweilige und ungefährliche Strecke lesend mit der Metro, geht am Wochenende regelmäßig ins Kino und verbringt ansonsten ihre Abende allein vor dem Fernseher in ihrem 1-Zimmer-Appartement. Ihre wenigen Liebhaber fanden das Leben mit ihr nach kurzer anfänglicher Leidenschaft langweilig. Eines Morgens, als sie spontan an einer früheren Station aussteigt, findet sie mitten in Paris ein mit Büchern vollgestopftes Lagerhaus und trifft Soliman, einen liebenswert-schrulligen Exilant, der für jeden Menschen genau das richtige und lebensverändernde Buch zu haben glaubt. Juliette wird in diesen Bann gezogen und für sie ändert sich alles.

Die Handlung ist mit dieser Grundidee sehr gut angelegt, mit ein paar witzigen und schrägen Details, und sprachlich bewegt sich das Buch auf einem sehr angenehm lesbaren Niveau. Die Geschichte besitzt viele zauberhafte Momente, bei denen man versunken lächeln könnte, wenn zum Beispiel erklärt wird, warum es bei Liebesromanen auf Seite 247 immer zu Tränenausbrüchen der Leser kommt oder wenn bei einer Wohnungsbesichtigung das gezielt neben der Badewanne platzierte Buch eine junge Frau fesselt und ihr zukünftiges Glück in den eigentlich heruntergekommenen Räumen erspähen lässt.
Aber trotz des träumerischen Grundtones und der skurrilen Figuren und Ideen erschien mir das Buch zu blass, zu weit weg von der Traumwelt, so als würde man nur das Abbild eines Traumes zu lesen bekommen. Und ich weiß wirklich nicht, woran es liegt, dass mir nichts nahe kam beim Lesen, denn eigentlich mag ich durchaus solch zauberhafte Bücher, solange sie nicht zuckersüß sind - und das ist dieses Buch wirklich nicht. Vielleicht wollte die Autorin auf wenigen Seiten zu viel erreichen? Vielleicht hätten ein paar mehr Einblicke in das Wesen der wenigen Charaktere den Leser näher an diese herangelassen? Oder vielleicht stört mich auch, dass die Autorin zwar für traumhafte und lebhafte Bücherwelten plädiert, in denen man interessante Menschen und Gegenden kennenlernen kann, dass sie aber auch mit erhobenem Zeigefinger ihre Protagonisten an die Wirklichkeit binden möchte, warnend davor, dass sie sonst den Bezug zum Leben verlieren?

Bewertung vom 11.06.2018
Kleine Feuer überall
Ng, Celeste

Kleine Feuer überall


ausgezeichnet

Brandbeschleuniger

Leerstellen interessieren die Autorin Celeste Ng in ihrem neuem Werk „Kleine Feuer überall“. Zurückgelassen von Personen, die verschwinden und Lücken hinterlassen, wie in diesem Fall die Außenseiterin Izzy, die jüngste Tochter und Teil der Vorzeigefamilie Richardson im sauber gefegten Cleveland-Vorort Shaker Heights. Oder auch die Paradiesvögel und Lebenskünstler Pearl und ihre Mutter Mia, die von Mrs Richardson aus Nächstenliebe in deren kleinem Reihenhaus eingemietet wohnen.
Der Entwurf eines Familienpsychogrammes mit tiefem Blick hinter die Kulissen der blankgeputzten und auf den ersten Blick beneidenswerten und perfekten Vorort-Familie Richardson mit auf den zweiten Blick gar nicht so glatten und glücklichen Figuren besticht durch großes Einfühlungsvermögen und zeigt zerrissene Seelen, die nach Heilung suchen.
Es ist ein ausgesprochenes Vergnügen, sich von Celeste Ng vom Weg abbringen zu lassen und ihr ins Dickicht zu folgen, wobei man das Gefühl hat, als Leser selbst nur ganz knapp dem Abgrund entkommen zu sein.

Äußerst geschickt gelingt es der Autorin, die Gefühle ihrer Figuren zu transportieren, die zunächst unter einer Milchglasschicht schlummernd mit großer Kraft zutage treten. Die perfekte Familie Richardson zerbröselt unter ihren fähigen Blicken und verliert ihren arrangierten Zauberglanz, wird menschlich und wenig später abgründig. Und Mia zieht nach der Aufdeckung ihres Geheimnisses wieder als Vagabund mit ihrer Tochter weiter, wie schon so oft, mit nichts als einen mit ihren Habseligkeiten vollgestopftem Golf. Flucht wo Bleiben versprochen war.
Als Leser geht man fassungslos den Weg der Demontage beider Familien mit, hilflos und ohne Häme zeigt Celeste Ng den Abgrund schon mehrfach aus der Ferne, bevor sie ihre Charaktere allesamt hineinstürzen lässt. Bravo dafür!

In meinen Augen völlig zu recht wurde auch dieser zweite Roman der Autorin nach ihrem glanzvollen und preisgekrönten Debüt beim Erscheinen in den USA gefeiert, denn ihre Art, den Leser höchst gekonnt und wie eine Zauberin nahe an ihre Figuren heranzuführen ist außergewöhnlich fesselnd, spannend und zugleich von großer Sorgfalt und Vorsicht und Empathie für alle ihre Charaktere geprägt.

Bewertung vom 11.06.2018
Das Eis
Paull, Laline

Das Eis


sehr gut

Geschichtsdrama mit Ökothrill

Abschmelzende Polkappen, Geld-und Machtgier, Waffenhandel, Forschergeist, höchst exklusiver Lebensstil ohne Rücksicht auf Verluste, Manipulation und eine Leiche sind die Zutaten der Geschichte.
Beim Kalben eines Gletschers wird der tote Körper des drei Jahre zuvor im arktischen Eis verschollenen Umweltaktivisten Thomas Harding freigegeben, entdeckt von einem Kreuzfahrtschiff auf der Suche nach Eisbären. Hardings Freund und Geschäftspartner Sean Cawson war mit ihm auf der Expedition unterwegs und gerät unter Verdacht. In einer gerichtlichen Anhörung, die die Rahmenhandlung des Buches in der Erzählgegenwart bildet, sollen die damaligen Ereignisse rekonstruiert werden und Klärung darüber erfolgen, ob Sean am Tod seines Partners Tom, mit dem er eine exklusive arktische Lounge eröffnet hatte und damit gleichzeitig die Arktis schützen wollte, Schuld trägt oder nicht.
Die Geschichte kreist um die Ereignisse in der Vergangenheit, die zur gemeinsamen Partnerschaft und zum Tod Toms geführt haben und entblößt die volle Bandbreite unternehmerischer Raffgier und Manipulation, die skrupellos profitgierig um die letzten unberührten Orte im arktischen Eis wetteifern, verfilzte und erst nach mehreren Blicken ersichtliche Strukturen zur Finanzierung durch Waffenhandel haben und dabei keinen Gedanken an die Zukunft aller verschwenden. Es ist aber auch eine Geschichte über hohe menschliche Ziele, Abenteuerlust und Freundschaft, die an der Wirklichkeit zerschellt sind. Wie verschieden waren die Vorstellungen der beiden Freunde und Partner bezüglich Umweltschutz und Unternehmertum tatsächlich? Zogen die beiden an einem Strang oder waren sie schon zu Gegenspielern geworden?

Prinzipiell ist die Geschichte thematisch höchst interessant, mit der faszinierenden Arktis als zu schützender Naturraum in einer durchaus vorstellbaren nahen Zukunft, in der preiswerte transkontinentale Handelsrouten über den geschmolzenen Nordpol wichtiger sind als ökologische Aspekte. Laline Paull weiß auch durch ihren schön dreidimensionalen Schreibstil den Leser bei der Stange zu halten. Aber vieles bleibt für mich nicht gut greifbar und ähnelt eher einem platten Bericht als einem guten Roman. Die Charaktere sind mir zu einfach gestrickt, und auch wenn man erst gegen Ende des Buches mit der „Wahrheit“ versorgt wird, folgen die Figuren vorhersehbar und stereotyp, fast klischeehaft ihrem Weg.
Das stört mich übrigens am meisten an dem Buch, dass es einfach zu viele Schubladen gibt, die aufgezogen, eine Person entnommen und ein bisschen laufen gelassen wird, um sie anschließend wieder zuzuschieben, schön getrennt und beschriftet, ohne erkennbare Grauzonen. Ich vermisse die Nähe zu den Figuren, es kommt keinerlei Empathie auf. So bleibt es einfach nur ein Ökothriller mit ungewöhnlichem Setting, zwar spannend aber mehr leider nicht.
Noch dazu erinnert die Thematik zusammen mit dem hochgelobten ersten Buch der Autorin doch sehr an Maja Lunde und ihre Führung durch bedrohte Gebiete. Musste wegen der Veröffentlichung des zweiten Bandes von Lundes Öko-Quadologie „Die Geschichte des Wassers“ dieses Buch auch schnell erscheinen und wirkt deshalb streckenweise seltsam unausgegoren, so als hätte Laline Paull den Rahmen gebaut und dann einfach aufgehört?

Bewertung vom 05.04.2018
All die Jahre
Sullivan, J. Courtney

All die Jahre


ausgezeichnet

Familienbande

„All die Jahre“ von Courtney J. Sullivan ist eine berührende irische Familiengeschichte mit zwei Schwestern, Nora und Theresa, im Mittelpunkt, die in den 1950er Jahren gemeinsam aus Irland nach Amerika auswandern.
Das Buch beginnt mit dem Tod von Noras ältestem Sohn Patrick und endet mit seinem Begräbnis. Mit vielen Rückblicken und aus den unterschiedlichen Blickpunkten der beiden Schwestern sowie von Noras drei übrigen Kindern erfährt man deren Geschichte.
Nora Flynn ist 21 Jahre alt, als sie mit ihrer jüngeren Schwester das rückständige Irland in Richtung Amerika verlässt, um dort ihren Verlobten zu heiraten. Sie sorgt für Theresa seit die Mutter vor Jahren starb, und versucht ihr auch in der Neuen Welt einen bestmöglichen Start zu ermöglichen. Aber Theresa wird schwanger, Nora trifft folgenschwere Entscheidungen für sie, was die beiden Schwestern entzweit und Theresa ins Kloster treibt. Erst durch Patricks Tod kommen die beiden wieder zusammen und setzen sich mit ihrem Leben auseinander.

Mit unglaublicher Lust am Fabulieren, mäandernd und voller Sinn für gute Familiengeschichten erzählt Sullivan vom für mich unvorstellbar kargen Leben in Irland, von den irisch dominierten Straßenzügen in Großstädten der USA, vom Familienzusammenhalt und Ausbruchsversuchen und von damals herrschenden Konventionen. Für mich erstaunlich authentisch und glaubhaft nachvollziehbar begleite ich die Figuren durch das rückständige Irland mit arrangierten Ehen wegen Landzugewinn, mit aus heutiger deutscher Sicht unglaublicher Normalität und Akzeptanz von Alkoholismus und Bevormundung der Mädchen und Frauen durch die Familienbande.
Ebenso spannend und gespickt mit sehr vielen interessanten Details bewegt man sich durch die Enklaven der irischen Einwanderer in Amerika, die ganze Straßenzüge beherrschen, neu ankommende Familienmitglieder aufnehmen und versorgen und trotz des Willens nach Anpassung in der moderneren großstädtischen Welt an alten irischen Traditionen verbiestert und irischer als die Iren zu Hause festzuhalten.

Es ist einfach eine wunderbare Art des Erzählens, die mich nicht zuletzt wegen der vielen interessanten Charaktere sehr schnell in ihren Bann gezogen hat und völlig gefangen hielt. Vorsichtig und allmählich öffnen sich Nora und Theresa des Leser, halten Überraschungen bereit, die für Spannung sorgen. Nebencharaktere sind nicht nur schmückendes Beiwerk und die verschiedenen Sichtweisen des Buches vermitteln einen nachhaltigen und glaubhaften Eindruck des Lebens der Familie.
Andeutungen und Schweigen, Geheimnisse und Rückzug, kurze Blicke hinter den Vorhang dienen bis zum Schluss der Spannung einer Geschichte, die viele Überraschungen parat hält.
Unlösbare Familienbande und der Versuch des Ausbechens, Bevormundung, Verzeihen und Verlust, Trauer, Glück und fast nicht tragbare Bürde stehen in diesem Buch so eng beieinander, sind so glaubhaft dreidimensional beschrieben, dass es manchmal beim Lesen schmerzt.

Es ist einfach ein wunderbares, für mich rundum gelungenes Buch mit einer interessanten, bedrückenden und zugleich hoffnungsvollen Familiengeschichte, das ich ganz ausdrücklich zum Lesen empfehle.

Bewertung vom 04.04.2018
Die Geschichte des Wassers / Klima Quartett Bd.2
Lunde, Maja

Die Geschichte des Wassers / Klima Quartett Bd.2


sehr gut

Anrührende Umweltgeschichte

Es ist ein äußerst wichtiges Thema, das Maja Lunde im zweiten Band ihres Klimaquartetts „Die Geschichte des Wassers“ abarbeitet. Nach ihrem großartigen Buch „Die Geschichte der Bienen“ versucht sie, an bewährtes anzuknüpfen und verbindet die Thematik Wasser mit sehr persönlichen Geschichten in verschiedenen Zeitebenen.

Aus Norwegen im Jahr 2017 bricht die 70jährige Signe mit ihrem Segelboot „Blau“ auf in Richtung Frankreich, um dort ihrer Jugendliebe Magnus das in seiner Verantwortung abgebaute norwegische Gletschereis vor die Füße zu werfen. Sie ist von Kindheit an geprägt von der Wasserwelt Norwegens, den Fjorden und Gletschern, die sie jahrzehntelang als Umweltaktivistin und Journalistin zu schützen und zu verteidigen versuchte.
In Frankreich 2041 ist der junge Vater David mit seiner kleinen Tochter Lou auf der Flucht vor der Dürre und dem Feuer. Getrennt von seiner Frau Anna und seinem kleinen Sohn August gelangt er in ein Flüchtlingslager, das zunächst gut organisiert wie ein schützender Unterschlupf erscheint, trotz Rationierung von Wasser und Nahrung. Doch schnell ändern sich die Verhältnisse, die Dürre und die Feuer kommen näher und die Lagergemeinschaft zerbricht. David und Lou finden nahe dem Lager ein altes Segelboot, das sie zu ihrer geheimen und hoffnungsvollen Zuflucht machen.
Neben den Zeitwechseln zwischen Gegenwart und Zukunft bestimmt außerdem die Vergangenheit von Signe die Geschichte, sie erinnert sich auf dem Segelboot an ihre Kindheit und an die Zeit, als sie als junge Frau stark, stur und geradlinig ihren Weg zum Schutz des Wassers ging, beeinflusst und getrieben von ihrem Vater und von ihrer ursprünglichen norwegischen Umwelt.
Ich muss zugeben, dass ich diesmal mit einer Erwartungshaltung gelesen habe, die ich mir sonst zu verkneifen versuche, denn mich hat das erste Buch der Autorin im vergangenen Jahr sehr beeindruckt und begeistert. Maja Lunde konnte das hohe Niveau leider nicht halten, zu kurz geraten sind für mich die faktischen Anteile zum Wasser und zu breit getreten die persönlich geprägten Geschehnisse, zu hoffnungsvoll ist mir die Geschichte, auch wenn es kein positives Ende gibt, und zu freundlich erzählt. Ich hatte fast das Gefühl, dass die Autorin vermitteln wolle, alles klärt sich irgendwie, und sei es auch nur vom kleinen privaten Glück bis zum nächsten, solange man die Hoffnung, die Menschlichkeit und das positive Denken nicht verliert, wird man zumindest vorübergehend gerettet. Mir fehlt hier der düster-melancholische Grundton, der mich beim ersten Roman durch die Geschehnisse trug.

Trotz meiner Kritik ist es ein sehr gut geschriebenes Buch, das Signes Geschichte stellenweise atemlos erzählt und einen guten Eindruck der Machtlosigkeit persönlichen Handelns vermittelt, wenn die Mehrheit mit verbundenen oder fest zugedrückten Augen entscheidet.
Signe, die Kämpferin und Umweltaktivistin, ist allerdings ein Charakter, der letztlich aufgibt, und das nicht nur im Alter. Das ist enttäuschend zu lesen, aber eben auch realistisch und menschlich.
David, zunächst von tiefer Niedergeschlagenheit und Dulden geprägt, stolpert anfangs fast durch die Geschehnisse. Er versucht, den Rest seiner kleinen Familie zu beschützen und setzt dabei Hoffnungen in augenscheinlich hoffnungslose Wege, die ihn gegen Ende des Romanes versöhnter mit seinem Schicksal erscheinen lassen. Auch das ist menschlich