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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 961 Bewertungen
Bewertung vom 02.09.2025
Köhlmeier, Michael

Die Verdorbenen


weniger gut

Das Böse ohne Sinn

Der neueste Roman im umfangreichen Œuvre von Michael Köhlmeier mit dem Titel «Die Verdorbenen» widmet sich auf sehr spezielle Weise dem Bösen, eine Thematik, mit der sich der Autor immer wieder mal befasst hat. Auch benutzt er, wie derzeit oft praktiziert, Recherchezeit sparend ein biografisch geprägtes Milieu für seine Geschichte. Sein Protagonist ist Student an der Uni Marburg, er will Dichter werden und hat sich für Politik und Germanistik eingeschrieben. Dieses Lokalkolorit kennt der Autor aus seinen eigenen Studienzeiten, und auch die Handlungszeit des Romans in den 1970ern ist deckungsgleich mit seinen Jahren in Marburg.

Johann, der Ich-Erzähler des schmalen Bändchens, trifft als Tutor in Marburg auf Christiane und Tommi, die sich seit Kindheitstagen kennen und als Paar zusammen wohnen. Schon bei der nächsten Begegnung dieser Drei erklärt Christiane kategorisch, sie wolle künftig mit Johann zusammen sein, was Tommi anstandslos akzeptiert. Es gibt keinerlei Vorgeschichte zwischen Johann und Christiane, keine Annäherung, sie empfinden nichts für einander. Deshalb kommt ihr Wunsch wie ein Blitz aus heiterem Himmel über Johann, der als 24jähriger Spätzünder noch nie etwas mit einer Frau hatte. Es entwickelt sich eine skurrile Menage a trois. Johann zieht bei ihnen ein, sie schlafen sogar völlig ungeniert alle drei im selben Bett, Eifersucht hat keinen Platz in ihrer erstaunlichen Liaison so ganz ohne Liebe. Um diesen an sich schon seltsamen Handlungskern herum entwickelt der Autor einen drohenden Schatten, indem er von einem Gespräch Johanns mit seinem Vater erzählt. Der hatte den Sechsjährigen mal gefragt: «Was ist ein Wunsch für dein ganzen Leben? Überleg es dir gut, morgen frage ich dich noch einmal». Der Vater hatte vergessen zu fragen, aber Johann hätte es ihm auch nicht gesagt, denn so was kann man nur denken! Seine Antwort hätte nämlich gelautet: «Einmal in meinem Leben möchte ich einen Mann töten».

Weil der Ich-Erzähler dieses philosophischen Romans als alter Mann auf seine offenbar ziemlich schuldbeladene Jugendzeit zurückblickt, ahnt der Leser natürlich, dass diese Episode aus der Kindheit sich wie ein Orakel wohl noch erfüllen wird im Verlauf der Erzählung. Köhlmeier schildert minutiös den studentischen Geist jener Jahre, in dem revolutionäres Gedankengut immer mehr zur reinen Pose verkommt. Bis Johann in einer ungewöhnlichen Selbstbefreiungsaktion schließlich seine Eltern besucht, deren Notgroschen für schlechte Zeiten an sich nimmt und ohne bestimmtes Ziel auf eine Reise geht. die ihn bis in die belgische Hafenstadt Ostende führt. Dort wird das einstmals bös Gedachte wahr, als er in einem Strandkorb nächtigend überfallen wird und beim Kampf den Mann erschlägt, der ihn ausrauben will. Er kehrt unbehelligt nach Marburg in seine Wohnung zurück und trifft in seinem Zimmer auf die blutüberströmte Leiche von Tommi. Christiane sitzt unbeteiligt und nicht ansprechbar in der Küche, hat aber keinerlei Blutspuren an sich. Johann ruft die Polizei, nimmt die Schuld auf sich, aber man glaubt ihm nicht. Vierzig Jahre später trifft er sie beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt wieder. «Sie hatte sich nicht verändert», bemerkt er.

Dieser Roman verortet die Natur des Bösen in den vielen merkwürdigen Verhaltensformen der Moderne, die rational kaum mehr nachvollziehbar sind. Dabei geht die seelische Deformation so weit, dass getötet wird um des Tötens willen, ohne moralische Hemmnisse, möglich gemacht durch eine weit verbreitete innere Leere. Was Johann und Christiane schicksalhaft miteinander verbindet ist ihre erschreckende Empfindungslosigkeit. Ihr Leben ist in Wahrheit nur vorgetäuscht, es wird nicht wirklich «erlebt» im wahren Sinne des Wortes. Dieser Roman mit seinen geradezu erschreckend leidenschaftslosen Figuren ist in einem angenehm lesbaren Stil geschrieben. Was den Lesefluss allerdings ziemlich stört, das sind die philosophischen Implikationen, über die man, oft zu heftigem Widerspruch animiert, stolpert als Leser!

Bewertung vom 01.09.2025
Kingsolver, Barbara

Die Unbehausten


sehr gut

Great American Novel

Der kürzlich erstmals auf Deutsch erschienene Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Barbara Kingsolver mit dem deskriptiven Titel «Die Unbehausten» berichtet davon, was es heißt, keine Zuflucht zu haben in einer feindlich erscheinenden Welt. In achtzehn zeitlich jeweils zwischen der ersten Trump-Kandidatur 2016 und dem Jahre 1874 wechselnden Erzählebenen, aber am selben Orte angesiedelt, wird von den existentiellen Problemen einer heutigen Mittelstands-Familie und denjenigen berichtet, die hundertfünfzig Jahre zuvor ein Schullehrer beim Vermitteln der Erkenntnisse von Charles Darwin hatte. Als stilistisches Aperçu bilden dabei die Schlussworte jedes Kapitels die Überschrift des jeweils folgenden, beginnend mit »Ruine» und endend mit «Überleben».

Protagonistin der Jetztzeit ist im ersten Kapitel Willa, eine toughe Frau Mitte fünfzig, die als freie Journalistin plötzlich ohne Aufträge dasteht. Zusätzlich droht deren Mann Iano auch noch der Verlust seines Arbeitsplatzes, er hangelt sich immer wieder mit Einjahresverträgen mühsam von Job zu Job. Zeke, Sohn der Beiden, Harvard-Absolvent und voller Zuversicht in Boston ins Investment-Geschäft eingestiegen, ist gerade Vater geworden, da nimmt sich seine an Depressionen leidende Frau das Leben. Er hat enorme Schulden, weil er ab sofort die hohen Gebühren für sein Studium zurückzahlen muss. Die aufmüpfige, jüngere Tochter Tig zieht nach zerbrochener Beziehung wieder ins Haus ein und jobbt fortan als Kellnerin. Der pflegebedürftige Großvater Nick ist ein glühender Anhänger von Donald Trump, der im Roman nur «Das Megafon» genannt wird. Nick lehnt es strikt ab, «ObanaCare» zu beantragen, womit er die enormen Krankheitskosten für die Familie abmildern könnte. Und zu all diesen Problemen droht das ererbte Haus, in dem sie alle wohnen und das ein Gutachter als Ruine bezeichnet hat, vollends über ihnen zusammen zu brechen. Die Kosten einer Sanierung oder der Wiederaufbau sind für sie finanziell geradezu utopisch hoch, der Familie droht die «Unbehaustheit».

Thatcher, der mutmaßlich 150 Jahre vorher in diesem Haus gelebt hat, war Lehrer an der örtlichen Reformschule. Er steht in einer heftigen Fehde mit seinem Schulleiter, der, religiös verblendet, Darwins Erkenntnisse über die Entstehung der Arten brandmarkt und sie als reine Blasphemie bezeichnet. Damit steht Thatcher auch im Widerspruch zu Captain Charles Landis, dem historisch verbürgten, allmächtigen Gründer der christlichen Freidenker-Kolonie Vineland, der dort so selbstherrlich wie heute Donald Trump regiert hat. Nachbarin von Thatcher ist die ebenfalls historisch verbürgte Naturforscherin Mary Treat, die wichtige wissenschaftliche Beiträge leistete und in lebhafter Korrespondenz mit Charles Darwin stand. Sie bestätigt Thatcher in seinen Überzeugungen, und auch der örtliche Zeitungsverleger stärkt ihm als guter Freund den Rücken im Streit mit dem allmächtig scheinenden, bigotten Captain Landis.

Das baufällige Haus stellt in dieser unterhaltsamen «Great American Novel» eine gelungene Metapher dar für das grandiose Scheitern des «American Dream». jener damals wie heute unrealistischer Idee, mit eisernem Willen sei für ‹jeden› praktisch ‹alles› erreichbar. Willas Kampf gegen Behörden-Willkür und soziale Ungerechtigkeiten ist ebenso vergebens wie Thatchers Versuche, das naive Bibel-Märchen von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu widerlegen. Man begreift als Leser sehr schnell, welch toxische Wirkung dem Populismus US-amerikanischer Prägung auch heute noch anhaftet und damit den Nährboden für wohlfeile Mythen bildet. Stilistisch glänzt der Roman durch seine gelungenen Dialoge, die in ihrer amüsanten Schlagfertigkeit, aber auch in den damit transportierten Erkenntnissen und Botschaften von einer erfrischenden Lebensklugheit der Autorin zeugen. Die Figuren ihres Romans sind wahrscheinlich gerade deshalb so sympathisch, weil sie eben nicht bis in die letzten Tiefen ihrer Psyche ausgeleuchtet werden.

Bewertung vom 25.08.2025
Lüscher, Jonas

Verzauberte Vorbestimmung


sehr gut

Geduld und Lust

Nach einer durch seine schwere Corona-Erkrankung bedingten Schreibpause hat der schweizerische Schriftsteller Jonas Lüscher jetzt unter dem rätselhaften Titel «Verzauberte Vorbestimmung» einen neuen Roman vorgelegt, der in die diesjährige Longlist für den Deutschen Buchpreis aufgenommen wurde. Ein extrem komplexes Werk, das sich facettenreich in diversen eigenständigen Geschichten auf stilistisch hohem Niveau mit dem Generalthema ‹Mensch und Maschine› beschäftigt. Im Feuilleton, das ausnahmslos positiv kommentiert, wird ebenso einträchtig darauf hingewiesen, dass dieser Roman viel Geduld und Durchhaltevermögen vom Leser fordert. Der Autor selbst hat erklärt, «… das ist vielleicht auch die Herausforderung für die Leser des Buches - dass diese Geschichten eben auch nicht immer zusammenpassen und keine klaren Antworten liefern, sondern dass man das Unklare, Zwiespältige aushalten und damit umgehen muss.»

In wechselnden Erzählperspektiven und Zeitebenen wird in dem fünfteiligen Roman gleich zu Beginn von einem algerischen Soldaten berichtet, der im Ersten Weltkrieg in einen Giftgasangriff der Deutschen gerät und angesichts des Sterbens um ihn herum das Kampffeld demonstrativ verlässt, davon überzeugt, dass auch der Feind, seinem Vorbild folgend, angesichts dieses Desasters den Kampf sofort einstellen würde. Ferner wird vom Kampf der Weber in dem seinerzeit als Klein-Manchester bezeichneten, böhmischen Varnsdorf berichtet, die durch die automatischen Webstühle ihre Existenzgrundlage verlieren. Nach vergeblichen Streiks dringen sie mit Gewalt in die neuen Fabrikhallen ein und zerstören die Maschinen mit Hammerschlägen. Die Kritik des Autors richtet sich einerseits gegen derartige, Existenzen zerstörende Technologien, andererseits aber berichtet er auch davon, wie modernste Apparate auf der Intensivstation sein eigenes Leben über wochenlanges Koma hinweg erhalten haben. Eine ihn nachhaltig prägende, konträre Technik-Erfahrung, die ihn bewogen habe, wie er erklärte, sie ebenfalls in diesen Roman «hineinzuschreiben».

Berichtet wird auch von dem französischen Briefträger Ferdinand Cheval aus Hauterives bei Lyon, der in 35jähriger Arbeit aus während seiner Touren aufgesammelten Steinen ein surreales «Palais Idéal» als Grabmal und Vermächtnis geschaffen hat. Das steht seit 1969 sogar unter Denkmalschutz und zieht heute als Besucher-Magnet hunderttausende von Touristen an. Der von Lüschers Ich-Erzähler als Bruder im Geiste bezeichnete und im Roman häufig zitierte Peter Weiss reiste 1960 dorthin und schrieb ein Essay darüber. Zum Ende hin trifft sein Alter Ego in einer Bar in Kairo eine Komödiantin, die während ihres Auftritts immer wieder zu einer Frau an der Bar hinblickt, sie später anspricht und Hand in Hand mit ihr davongeht. Das alles geschieht in einer dystopischen Zukunft in der neuen Hauptstadt Ägyptens, die in jeder Hinsicht von Größenwahn und völligem Unvermögen zeugt. Dazu passend ist die rätselhafte Frau von der Bar denn auch ein Cyborg! Am Ende sitzt Peter Weiss als mystischer Ba-Vogel, dem altägyptischen Text «Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele« entsprechend, dem fieberkranken Ich-Erzähler auf der Schulter, während er aus den Nachbarzimmer die beiden Frauen lachen hört, -«und ich weiß, sie lieben sich».

Man braucht viel Geduld und vor allem auch Lust dazu, Jonas Lüscher bei seinem bravourösen Ritt durch Zeit und Raum und Bewusstseins-Ebenen zu folgen, den er bildungsbeflissen durch viele Zitate und Verweise angereichert hat. Darin liegt, der Titel des Buches zeugt davon, nicht nur bei den dystopischen Szenen ein gewisser Zauber, dem allerdings die Vorbestimmung als brutale Gewissheit diametral gegenüber gestellt ist. Der virtuose Stil, in dem dieser Roman geschrieben ist, entschädigt den Leser für die Mühe mit den unsortierten, kontemplativen Gedankenflügen darin. Man darf gespannt sein, wie das die diesjährige Jury in Frankfurt sieht!

Bewertung vom 22.08.2025
Lynch, Paul

Jenseits der See


gut

Abenteuer und Kontemplatives

In seinem Roman «Jenseits der See» beschreibt der irische Schriftsteller Paul Lynch in einem kammerspiel-artigen Plot eine seelische Ausnahme-Situation menschlichen Daseins in der Ausweglosigkeit eines Schiffbruchs auf hoher See. Der vor seinem preisgekrönten Roman «Das Lied des Propheten» erschienene Band basiert auf einer wahren Begebenheit, bei der 2012 ein salvadorianischer Fischer mit seinem jüngeren Kollegen in einem Sturm in Seenot geriet. Er trieb hilflos auf dem Meer, ehe er nach 14 Monaten etwa zehntausend Kilometer entfernt allein auf der kleinen, zu den Marshall-Inseln gehörenden Insel Tile Islet an Land geschwommen war, sein Begleiter hatte nicht überlebt. Paul Lynch folgt dieser Vorlage ziemlich genau, wobei er sich thematisch auf die psychischen Aspekte dieser unglaublichen Geschichte konzentriert.

Obwohl ein Sturm droht, will der Fischer Bolivar unbedingt, trotz aller Warnungen, zum Fang aufbrechen. Er bringt einen zögernden und ängstlichen jungen Fischer, mit dem er noch nie zusammen gearbeitet hat, tatsächlich dazu, ebenfalls das Wagnis einzugehen. «Sag mir, Hector, was ist ein Sturm? Ein bisschen Wind, mehr nicht. Das Meer wird ein bisschen kabbelig. Echte Fischer sind so was gewöhnt. Mir ist noch kein Sturm begegnet, der mich unterkriegt». Außerdem bietet er ihm einen extrem hohen Lohn an, den Hector gerade gut brauchen kann, um seiner Freundin etwas bieten zu können. Sie fahren sehr weit hinaus und geraten dann auch in das angekündigte Unwetter, das den Motor und das Funkgerät zerstört und sie damit völlig von der Außenwelt abschneidet. Es beginnt ein Psychodrama, bei dem die Beiden, die sich vorher nicht kannten, heftig aneinander geraten, um sich dann aber notgedrungen gemeinsam dem Überlebenskampf zu stellen, denn Wasser und Proviant sind schnell verbraucht. Beim hilflosen Treiben auf dem Meer stoßen sie häufig auf große Müllinseln, die allerlei für sie nützliche Dinge enthalten. Sie finden Kanister, in denen sie Regenwasser sammeln, das sie mit den gefundenen Plastikbahnen auffangen. Immer wieder gelingt es ihnen auch, von Bord aus Fische zu fangen, die sie mangels Feuer roh verzehren, sogar eine Seeschildkröte ist dabei und allerlei anderes Meeresgetier. Und sie fangen auch Vögel, die auf dem Boot landen, sperren sie in einen improvisierten Käfig und verzehren sie nach und nach.

Weniger hoffnungsvoll gestaltet sich die seelische Situation der beiden Schiffbrüchigen, deren aussichtslos scheinender Lebenskampf sie psychisch immer stärker belastet. Wie schafft man es, in solch einer extremen Lage den Lebensmut nicht zu verlieren? Die Beiden sind konfrontiert mit der Sinnlosigkeit des Seins, die sich schon in der als Motiv vorangestellten Frage des Euripides findet: «Wer weiß schon, ob das Leben Tod sei oder der Tod das Leben»? In einem ständigen Wechselbad der seelischen Befindlichkeit lernen die Beiden sich durch ihre Gespräche immer besser zu verstehen, wobei Bolivar deutlich weniger verzagt ist als Hector, was ihre Situation anbelangt. Es erweist sich dabei, wie wichtig stabile Bindungen sind im Leben. Schiffbruch, das zeigt dieser an Joseph Conrads «Herz der Finsternis» erinnernde Roman jedenfalls sehr deutlich auf, ist eine geradezu ideale Leit-Metapher der Philosophie mit ihren schwierigen Sinnfragen.

Mit seinen beiden Figuren stoßen hier weltanschauliche Gegensätze aufeinander. Da ist einerseits die sinnenfrohe, an Lebensgier grenzende Diesseitigkeit Bolivars, der die schwermütige, religiös geprägte Ergebenheit in die unausweichliche Vorbestimmung entgegensteht, der sich Hector beugt und die ihn schließlich verzagen lässt. Dem abenteuerlichen Geschehen des Romans stehen bei der Lektüre narrativ die vielen, sich häufig wiederholenden psychologischen Exkurse in die menschliche Seele ambivalent gegenüber, eine Mixtur aus Abenteuer und Kontemplativem, die leider keine erzählerisch stimmige Einheit bilden!

Bewertung vom 20.08.2025
Arnautovic, Ljuba

Erste Töchter


schlecht

Lakonisch knapp erzähltes Seelenchaos

In ihrem dritten Roman mit dem Titel «Erste Töchter» setzt die in Russland geborene und in Wien lebende Schriftstellerin Ljuba Arnautović die autobiografisch geprägten Erzählungen aus ihrer Familiengeschichte fort. Der schmale Band handelt von zwei Töchtern, deren Leben ganz entscheidend durch die wechselvolle Nachkriegszeit geprägt ist. Deren Vater Karl kehrt nach zwölf Jahren im Gulag nach Wien zurück, er hat in Russland geheiratet und in zähen Kämpfen die Ausreise-Erlaubnis für sich, seine russische Frau Nina und die zwei kleinen Töchter Lara und Luna erhalten. Aus der Danksagung im Roman ergibt sich, dass die zwei Jahre jüngere Luna in Manchem der Schwester der Autorin gleicht, während die Figur der Lara wohl der Autorin selbst nachempfunden ist.

Es beginnt im ersten Kapitel mit einer konventionell erzählten Szene in einem Café in München, in dem die 23jährige Medizinstudentin Dörte nach einem ihrer Museumsbesuche auf einen attraktiven Mann aufmerksam wird, ein «Frank-Sinatra-Typ», wie es heißt, der sie wegen der ausliegenden Zeitungen anspricht. Nicht lange danach werden Karl und Dörte heiraten. In den 38 folgenden Kapiteln berichtet die Autorin in wechselnden Rückblenden, nun sehr distanziert und betont sachlich, von den Schwierigkeiten, die sich dem traumatisierten Karl bei seiner beherzt angegangenen, beruflichen Kariere in den Weg stellen, sowie von deren Auswirkungen auf seine beiden erstgeborenen Töchter. Der als Neunjähriger von seinen kommunistisch gesinnten Eltern während der politischen Kämpfe in faschistischen Österreich vorsichtshalber ins Exil nach Russland geschickte Karl bringt als 21jähriger Heimkehrer nur sein exzellentes Russisch ins Berufsleben mit, er hat keinerlei Ausbildung. Mit eisernem Willen, es zu etwas zu bringen in seinem verpfuschten Leben, macht er Karriere als Dolmetscher, begleitet Geschäftsleute bei Besuchen in Russland. Er gründet schließlich sogar eine eigene Firma, die in einer monatlichen Zeitschrift über wissenschaftliche Veröffentlichungen in Russland berichtet und gut bezahlte Aufträge für Übersetzungen dieser Artikel ins Deutsche übernimmt.

Nach der Scheidung von Nina, bei der er durch einen fiesen Trick das alleinige Sorgerecht für die beiden Töchter bekommt, heiratet er Dörte und zieht mit ihr nach München. Schon bald aber trennt er die Töchter und schickt Luna zurück zur Mutter nach Wien. Fortan verkehren die Beiden in Briefen miteinander und sehen sich persönlich nur sehr selten. Geschickt baut die Autorin sämtliche relevanten gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen im post-faschistischen Österreich und Deutschland mit ein in ihre Familiengeschichte, eine politische Tour d’Horizon durch die 1970er und 1980er Jahre. Sie tut das zielgerichtet in einer protokollartig knappen, einfachen Sprache, wobei deren Nüchternheit geradezu verstörend wirkt in Anbetracht der seelischen Verheerungen, die der egoistische und autoritäre Vater rücksichtslos bei seinen «Ersten Töchtern» anrichtet. Am Ende des Romans ist er zum vierten Mal verheiratet und hat seinen Frauen allesamt übel mitgespielt, den Müttern wie den Töchtern.

Es fällt auf, dass die Autorin scheinbar gezielt vermeidet, näher auf die seelischen Schäden einzugehen, die Karl da anrichtet. Der Roman wird lakonisch knapp aus der Distanz heraus in einer an amtliche Protokolle erinnernden, zielgerichteten Sprache erzählt. Für Emotionen oder poetische Ausschmückungen ist darin keinerlei Platz, alles bleibt geradezu stocknüchtern sachlich. Ljuba Arnautović beleuchtet das Seelenchaos ihrer weiblichen Figuren und auch den Charakter von Karl in keiner Weise, klammert also psychische Wirkungen und Schäden weitgehend aus. Genau solche vom Leser erwarteten emotionalen Einblicke wären aber bei dem gewählten Thema unbedingt erforderlich für eine unterhaltsame oder gar bereichernde Lektüre, ein unverzeihliches Manko also dieses von so tief berührenden Schicksalen geprägten Romans!

Bewertung vom 18.08.2025
Harding, Paul

Tinkers


gut

Ein Roman vom Sterben

Für seinen Debütroman «Tinkers» erhielt der US-amerikanische Schriftsteller Paul Harding den Pulitzer Prize for Fiction des Jahres 2010. Der Autor hat sich damals in einem Radio-Interview als «modernen neu-englischen autodidaktischen Transzendentalisten» bezeichnet. Ähnlich kompliziert wie diese Selbsteinschätzung ist sein Roman selbst! Konkret geht es darin um die Reflexionen eines sterbenden Uhrmachers in den letzten Tagen und Stunden vor seinem Ableben. In denen erinnert er sich an sein eigenes Leben im Staate Maine und an das des Vaters und Großvaters zurück, wobei er sinnierend auch die Natur als prägendes Element in seine Rückschau mit einbezieht.

Auf dem Sterbebett, umgeben von Frau, Kindern und Enkeln, schwelgt George Washington Crosby als alter Mann in Erinnerungen, spult quasi den Faden seines Lebens noch mal rückwärts ab. Er denkt an frühere Geschehnisse, Erfahrungen, Glück und Unglück, reflektiert über seine Identität, über Sterblichkeit und das Dasein als solches. Dabei wechselt sein Bewusstsein immer wieder zu idealisierenden Traumphasen hinüber, in denen die Natur als übergeordnete Instanz einen breiten Raum einnimmt. Der Roman überspannt zeitlich drei Generationen. Sein an Epilepsie leidender Vater, den er wegen seiner Gefühle eigener Unzulänglichkeit als gequälte Seele erlebt hat, gehörte zu den titelgebenden «Tinkers», den früher bei den armen Leuten auf dem Lande regelmäßig tätigen Kesselflickern. Howard zog mit seinem Wägelchen herum, bot neben der Reparatur von undichten Metalltöpfen auch andere Dienste an und verkaufte zudem als fahrender Händler diverse Kurzwaren, die er immer mit sich führte. George war traumatisiert durch die epileptischen Anfälle seines Vaters, die seine Mutter aber vor den kleinen Kindern immer zu verbergen suchte. Er jedoch musste mithelfen, ihn in seinen Krämpfen zu bändigen, wurde einmal sogar schwer verletzt dabei, seine Gefühle für den Vater changieren zwischen inniger Liebe und finsterem Groll.

Der Großvater war ein psychisch kranker Prediger, in seinem Hause herrschten strenge Sitten, es wurde viel gebetet. Im Alter ist er dann zusehends dem Wahnsinn verfallen und wurde schließlich auf Betreiben seiner Frau, die mit der Pflege total überfordert war, in die Irrenanstalt eingewiesen. Für George sind seine geliebten Uhren Symbole der Vergänglichkeit, sie bestätigten als bedrückendes Trauma seine Ängste vor der eigenen Vergänglichkeit. Auch fragt er sich, ob es eine über Generationen andauernde, familiäre Beständigkeit denn überhaupt gebe. George reflektiert auf dem Sterbebett zudem über das Erbe, das er ja nun bald hinterlassen wird und das als Einziges von ihm noch für eine gewisse Zeit zurückbleiben wird.

Mit seiner lyrisch anmutenden Prosa schreibt Paul Harding eine an endlose Gedankenströme erinnernde Erzählung, die sich mit nichts weniger als den großen Fragen der Menschheit auseinander setzt, - eine Art letzte Meditation vor dem Exitus. Deren kontemplative Tiefe wird scheinbar konterkariert durch diverse banale Einschübe über das Reparieren und die Technik von Uhren, in denen sogar auf fachliche Texte verwiesen wird. Aber auch Auszüge von Predigten werden eingeschoben, und es wird auf die Schwierigkeiten beim Verfassen derselben angespielt. In diesem Gegenüber von profaner Materie und hochfliegendem Geist werden stilistisch viele narrative Konventionen missachtet, die Zeitlinien und Perspektiven werden unerwartet und oft auch schwer verständlich gegeneinander verschoben. Das fördert nicht gerade den Lesefluss, und auch wenn der Autor eine sehr poetische Form gefunden hat für seinen Roman, passt dessen Stil nicht wirklich überzeugend zur schwierigen Thematik vom Sterben. Ohne Zweifel aber regt «Tinkers» zu eigenem Nachdenken an, wenn man nicht gerade zu der Sorte Leser gehört, die ohne eigenes Zutun leicht und angenehm Lesbares suchen zur Unterhaltung und Entspannung.

Bewertung vom 16.08.2025
Sterne, Laurence

Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman


ausgezeichnet

Satire als grandioses Vexierbild

Der siebenbändige Roman «Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentlemen» von Laurence Sterne, in der Literaturszene üblicherweise verkürzt als «Tristram Shandy» bezeichnet, löste 1759 beim Erscheinen der ersten beiden Bände einen Skandal aus. Der anglikanische Pfarrer hatte damit allerdings auch einen Jahrhundert-Roman geschrieben, dessen letzter Band 1767 erschienen war. Er wird als zeitloser Klassiker seither auch in jedem literarischen Kanon an prominentester Stelle genannt. Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1774, zu den Subskribenten gehörte unter vielen maßgeblichen Autoren dieser Zeit auch Goethe, der ein großer Bewunderer des Autors war und ihn als «freiesten Geist» seines Jahrhunderts geehrt hat. Ein Jahrhundert später hat niemand geringerer als Friedrich Nietzsche Sternes Aufsehen erregende, narrative Methoden in einem Artikel ausführlich gewürdigt.

Aus wechselnden Perspektiven in einer Abfolge von einzelnen Skizzen realisiert, ist «Tristram Shandy» erzählerisch ganz unorthodox ein wildes Durcheinander ohne erkennbaren Plan. Der Roman ist ein mit gelehrsamen Gedanken üppig durchsetztes Konstrukt von Betrachtungen, Anmerkungen und Kommentaren, in dem Postulate nichts gelten. Der Autor selbst bezeichnet es an einer Stelle, den Leser direkt ansprechend, als «ein sorglos gemachtes, artiges, unsinnvolles, gutgelauntes Shandysches Buch, das allen Ihren Herzen gut tun wird. - Und auch allen Ihren Köpfen, - vorausgesetzt, Sie verstehen es!» Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive eines ungemein humorvollen Geistlichen namens Yorik und aus der des titelgebenden Protagonisten und Ich-Erzählers. Der will die Geschichte seines Lebens erzählen, beginnend bei seiner Zeugung, die er mit zwingender Logik sogar auf den Tag genau zu terminieren weiß. Und er erzählt auch, wie eine harmlose Bemerkung seiner Mutter den Vater dabei so irritiert habe, dass er als Krüppel geboren wurde, - als schlagenden Beweis zieht er dafür die Theorie John Lockes von der «Assoziation der Gedanken» heran.

Weiter berichtet er vom Ehekontrakt seiner Eltern, von seinem Onkel Toby und dessen Steckenpferd und Liebesabenteuern, von der Hebamme und der Art und Weise, wie diese als weise alte Frau durch Protektion des Pfarrers nachträglich auch eine offizielle Zulassung für diesen Beruf erhalten hat. Sich in Details verlierend erzählt er dann auch noch, warum der Pfarrer auf so einem armseligen Klepper herumreitet. Um schnell die weitab wohnende Hebamme herbei rufen zu können, habe man ihn immer wieder um sein rassiges, schnelles Pferd gebeten, das dabei aber oft zu Schanden geritten wurde in der Eile, er musste jedes Jahr ein neues kaufen. Weshalb er irgendwann beschlossen habe, den stolzen Gaul durch einen weniger stolzen zu ersetzen und sich an dessen gemächliche Gangart zu gewöhnen, auch wenn er sich damit nun dem Gespött aussetzt.

Der umfangreiche Roman wirkt wie das groß angelegte Vexierbild eines unkonventionellen Autors, in dem so ziemlich alles einen verborgenen Hintersinn hat, dem der Leser auf die Spur kommen muss, will er all die subtilen Botschaften darin gebührend würdigen. Weder von dem im Titel als Inhalt apostrophierten «Leben» noch von den «Ansichten» des Helden ist im Roman wirklich die Rede. Es ist vielmehr eine experimentelle Form des Erzählens, die, als «unendliche Melodie» bezeichnet, gerade davon lebt, ständig gebrochen zu werden und ins Unbestimmte abzugleiten, sich im permanent Mehrdeutigen zu verlieren, immer wieder zwischen untrennbar ineinander verwobener Posse und erstaunlichem Tiefsinn. All das ist durch eine umfassende Menschenkenntnis gekennzeichnet, die in jedem Detail durchschimmert. Gleichwohl wird der «normale» Leser kläglich scheitern, wenn er sich an einer plausiblen Deutung des «Tristram Shandy» versucht, und das besser den Literatur-Wissenschaftlern überlassen, die Veröffentlichungen dazu sind ja Legion. Man sollte diesem «freiesten Schriftsteller», wie er oft bezeichnet wurde, als nicht minder freier Leser folgen, alle narrativen Konventionen hier also einfach mal beiseite lassen und sich an den skurrilen Gedanken dieses satirischen Romans rückhaltlos erfreuen!

Bewertung vom 14.08.2025
Goethe, Johann Wolfgang von

Die Leiden des jungen Werther


gut

Im Werther-Fieber

Von der Lichtgestalt deutscher Literatur, Johann Wolfgang Goethe, wurde 1774 mit «Die Leiden des jungen Werthers» zur Leipziger Buchmesse einen Briefroman veröffentlicht, den er in vier Wochen geschrieben hatte. Er wird als sein bedeutendstes Prosawerk angesehen. Dem grandiosen Erfolg im Inland folgte ein ebenso überragender europäischer Erfolg, das Werk wurde in alle damals literarisch bedeutsamen Sprachen übersetzt. Zeitlich fiel die Veröffentlichung in die literarische Periode des «Sturm und Drang», dem Geniekult jener kurzen Epoche. Die vorliegende Ausgabe des vielfach ergänzten und überarbeiteten Romans folgt der Urfassung, stammt nach 250 Jahren also orthografisch aus einer noch dudenfreien Zeit, was das Lesen heutzutage ziemlich mühsam macht. Mit Hilfe einer Fülle von Randbemerkungen des Verlags jedoch bleibt nichts jemals unverständlich. Erfreulicher Weise sind im Anhang auch umfangreiche Kommentare, Goethes eigene Anmerkungen zum «Werther», die verschiedensten Interpretations-Ansätze sowie ausführliche Wort- und Sach-Erläuterungen beigefügt.

Zwei autobiografisch bedeutsame Ereignisse hat Goethe für seine Handlung herangezogen, seine eigene, hoffnungslose Liebe zur bereits verlobten Charlotte Buff und der Suizid eines Bekannten aus der Gesandtschaft in Wetzlar. Gleichwohl ist dieses Werk rein fiktional und kein Schlüsselroman. Sein junger Held hat zur Regelung einer Erbschaft in einem idyllischen Dorf Quartier bezogen und lernt bei einem Tanzabend Lotte kennen, Tochter des dortigen Amtmanns, die sich als älteste Tochter nach dem Tod ihrer Mutter rührend um ihre acht Geschwister kümmert. Werther und Lotte kommen sich schnell näher, sie sind verwandte Seelen und verstehen sich bestens. Er bewundert ihren Sanftmut, ihre Liebe zur Natur, ihre Musikalität, und er wird Dauergast im Hause des Amtmanns. Die kleinen Geschwister von Lotte mögen ihn von Anfang an und freuen sich immer sehr, wenn er kommt. Aber Lotte ist nicht frei, sie ist so gut wie verlobt mit Albert, der schließlich von einer Geschäftsreise zurückkommt und sich als ein äußerst sympathischer, besonnener Mann erweist, mit dem Werther schnell Freundschaft schließt. Auch wenn nur platonisch, belastet ihn nun seine schwärmerische Liebe zu Lotte seelisch dermaßen, dass er fluchtartig den Ort verlässt, ohne sich zu verabschieden.

Im zweiten Teil des Romans arbeitet Werther eine Zeitlang für einen Gesandten am Hofe, fühlt sich dort aber als Außenseiter und wird sehr deutlich auf seinen bürgerlichen Stand verwiesen. Er fühlt sich wie zerstört in seiner Existenz und kehrt auf Umwegen wieder in das Dorf zurück, wo Lotte und Albert inzwischen geheiratet haben. Bald schon beginnt er Lotte wieder zu besuchen, die unbewusst mit ihm kokettiert und seine Leidenschaft dadurch erneut entfacht. Bis sie ihn auf Wunsch von Albert kurz vor Weihnachten auffordert, vier Tage zu warten, bis er erneut zu Besuch kommt. Doch Werther besucht sie schon am nächsten Tag wieder, liest ihr aus seiner hoch emotionalen Ossian-Übersetzung vor und beginnt sie zu umarmen und zu küssen. Lotte flüchtet verstört ins Nebenzimmer und schließt sich dort ein. In einem letzten Brief verabschiedet er sich von ihr, leiht sich von Albert für eine bevorstehende Reise dessen Pistolen aus und erschießt sich an gleichen Abend. Er wird in einem abgelegenen Teil des Friedhofs ohne geistlichen Beistand anonym beerdigt.

Eine stilistische Besonderheit dieses Romans ist die Ergänzung und Weiterführung des Stoffes durch einen fiktiven Herausgeber, der den hoch-emotionalen Briefen Werthers in einer sachlichen Diktion folgt. Dieser Wechsel der Erzählperspektive war schon deshalb geboten, weil der traurige Held in seinen Briefen vom eigenen Tod, dem novellenartigen Höhepunkt der Handlung, ja nicht hätte berichten können. Die konträre Rezeption dieses zeitlosen Bestsellers mündete ein in eine regelrechte Lesesucht, die den einen oder anderen suizidalen Nachahmer hervorgebracht hat im damaligen «Werther-Fieber».

Bewertung vom 11.08.2025
Gardam, Jane

Gute Ratschläge


gut

Entlarvend und ungebeten

Dreiunddreißig Jahre nach seinem ersten Erscheinen in Großbritannien ist unter dem Titel «Gute Ratschläge» voriges Jahr ein bemerkenswerter Roman von Jane Gardam auch auf Deutsch erschienen. Die vor drei Monaten im hohen Alter von 97 Jahren verstorbene britische Autorin hat für ihre feministische Geschichte um eine zutiefst frustrierte, 51jährige Diplomatengattin die Form des Briefromans gewählt. Wobei diese Briefe einseitig bleiben bis zum Schluss, die Adressatin schickt nie eine Antwort, was die Schreibwut der Protagonistin allerdings nur noch mehr steigert. Aus den ungebetenen guten Ratschlägen aber, die sie mit wachsendem Eifer an die ehemalige Nachbarin Joan schickt, mit der sie kaum jemals Kontakt hatte - allenfalls mal einen Gruß über die Straße hinweg - werden allmählich immer mehr Selbsterkenntnisse, die zum Ende hin ungewollt in regelrechte Geständnisse münden.

Die Frau aus dem Haus gegenüber hat ihren Mann und die erwachsenen Kinder überraschend verlassen, das Konto leer geräumt und sich mit unbekanntem Ziel Richtung Asien abgesetzt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, niemand wusste von ihren Absichten! In den anfänglich kurzen Briefen von Eliza Peabody mit der Aufforderung an Joan, doch besser zurück zu kehren, mischen sich Geschichten aus ihrem eigenen Leben ein, die allmählich immer mehr zu Klagen und Bekenntnissen werden über ihr eigenes, unerfülltes Leben. Sie schreibt sich zusehends um Kopf und Kragen, offenbart ungewollt ihr unerfülltes Leben. So berichtet sie zum Beispiel von ihrer einstigen Fehlgeburt, nach der sie keine Kinder mehr bekommen konnte, oder von ihrem unerfüllten Sexualleben an der Seite von Henry, ihrem Mann, der ständig in diplomatischen Missionen unterwegs ist und mit dem sie sich völlig auseinander gelebt hat. Sie hat ehrenamtlich eine Arbeit in einem Hospiz angenommen, um die Langeweile zu bekämpfen und etwas Sinnvolles zu tun. Dort aber wird sie als Küchenhilfe eingesetzt und hat nur selten mal selbst Kontakt zu den Sterbenden, was sie in ihren Briefen beklagt. Auch die Mitgliedschaft in einem Lesezirkel und ihre Teilnahme bei verschiedenen anderen Aktivitäten befreundeter Damen aus der gehobenen Mittelschicht, die alle gleichermaßen frustriert seien, empfinde sie als weitgehend sinnlos, bekennt sie.

Charles, Joans verlassener Ehemann, wird von Elisa und Henry aus Mitleid häufig eingeladen und befreundet sich schnell mit ihnen, die Männer führen lange Gespräche miteinander und verstehen sich bestens. Bis Henry eines Tages überraschend verkündet, dass er mit Charles zusammenzieht. Elisa steht vor einem Nerven-Zusammenbruch, ihr soziales Umfeld kollabiert ebenso wie ihre Psyche, sie steht vor den Trümmern ihres unerfüllten Daseins als Frau. Die guten Ratschläge für ein richtiges Leben, mit denen sie Joan in ihren vielen Briefen geradezu bombardiert hat, hätte sie lieber selbst befolgen sollen. Man fragt sich als Leser irgendwann, ob es die Adressatin denn überhaupt gibt. Ganz bewusst setzt Jane Gardam in diesem Roman das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers in Person ihrer als Figur eher unsympathischen Protagonistin voller Hirngespinste ein, was dem teils absurden, auch surreal angereicherten Plot eine psychologisch nachvollziehbare, narrative Struktur verleiht.

Die nervenden Briefe der Besserwisserin Joan werden immer länger und sind beim Lesen schließlich kaum noch als solche zu erkennen angesichts seitenlanger Dialoge. Es stellt sich daher schon bald die Frage, ob die Briefform wirklich optimal ist für die feministische Intention der britischen Erfolgsautorin. Der Roman steckt voller satirischer Seitenhiebe auf die saturierte, dekadente Mittelschicht in der gehobenen Londoner Vorstadt, in der diese Geschichte angesiedelt ist mit ihren ebenso wohlhabenden wie frustrierten Gattinnen aus der englischen Oberschicht zur Zeit des Thatcherismus. Diese satirische Färbung macht den Roman letztendlich zu einer amüsanten Lektüre, die allerdings an den Erfolg der «Old Filth» Trilogie nicht anknüpfen kann.

Bewertung vom 07.08.2025
Rytisalo, Minna

Zwischen zwei Leben


gut

Versöhnlich-feministisches Manifest

Nach ihrem Debütroman von 2016 ist jetzt unter dem Titel «Zwischen zwei Leben» ein zweiter, ins Deutsche übersetzter Roman der finnischen Schriftstellerin Minna Rytisalo erschienen. Thematik ist auch hier wieder das schwierige Verhältnis der Geschlechter zueinander. Erzählt wird auf eine sehr originelle Weise eine feministische Emanzipations-Geschichte, bei der eine 48jährige Frau im Mittelpunkt steht, die sich, wie schon der Titel verrät, zwischen zwei Leben befindet, nicht nur zwischen zwei Lebensphasen. Eine entscheidende Zäsur also, die hier mit gedanklicher Tiefe aus vielerlei Perspektiven erzählt wird, und die damit derzeit auch, als spezielles Genre, literarisch voll im Trend liegt.

In der Mitte ihres Lebens beschließt Jenni Mäki, die lieblose Ehe mit Jussi zu beenden und einen Neustart zu wagen. Ihre Kinder sind aus dem Haus und brauchen sie nicht mehr, finanziell ist alles einvernehmlich geregelt, der untreue Jussi hat schon eine neue Frau, ihrem mutigen Neuanfang nach 24 Ehejahren steht also nichts im Wege. Sie hat sogar einen neuen Namen angenommen und heißt jetzt Jenny Hill, und auch eine neue Wohnung hat sie schon für sich gemietet. In die nimmt sie nur das Allernötigste mit, so wenig wie möglich von dem, was sie an ihr altes Leben erinnern könnte. Die zentrale Frage, die der Roman zu beantworten sucht, indem er seine Heldin durch den schwierigen Prozess einer weiblichen Emanzipation begleitet, stellt sich Jenny immer wieder: «Lebe ich das Leben, das ich wirklich will?» Denn nicht nur ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ist von unliebsamen Konventionen geprägt, deren Ursprünge historisch bedingt sind und sich mental geradezu eingebrannt zu haben scheinen in das Selbstverständnis jedes weiblichen Individuums. Woher das kommt, beantwortet der Roman durch einen genialen stilistischen Trick, indem er als Ergänzung zum auktorialen Erzähler weitere Erzählinstanzen einbindet, einen Chor und sechs Einzelstimmen nämlich von «Ajattaras», den Geistern aus der finnischen Mythologie. Die sind hier aber, weniger martialisch, ersetzt durch «Aschenputtel, Schneewittchen, Dornröschen, Gretel, Rapunzel und Rotkäppchen». Sie verkörpern als Projektionsflächen geradezu exemplarisch die weibliche Unterdrückung und Manipulierbarkeit im harmlosen narrativen Gewand des Märchens, treten hier aber als Kommentatorinnen und Ratgeberinnen von Jennys Entscheidungen auf, einem Chor der Erinnyen vergleichbar.

Eine weitere, häufig eingeblendete Perspektive ist die der Heldin selbst, die auf dringendes Anraten ihrer Psychotherapeutin Briefe schreibt, die sie nicht abschicken soll, die sie aber zwingen, ihre Probleme gründlich zu durchdenken. Nur die Schriftform nämlich bringe Ordnung in das gedankliche Chaos und die unverbindliche Flüchtigkeit der Therapiegespräche. Adressatin der Briefe von Jenny ist Mme Brigitte Macron, die fast 25 Jahre ältere Frau des französischen Präsidenten, deren unkonventionelle Ehe nicht nur durch den Altersunterschied, sondern auch durch das skandalträchtige Lehrerin/Schüler-Verhältnis gesellschaftlich vorgeprägt ist.

Der Leser begleitet die Heldin dieses feministischen Romans in ihrem tapferen Kampf gegen falsche Rollenbilder, und natürlich auch auf ihrer Suche nach Selbstverwirklichung. Dabei nagen ständig Zweifel an ihr, Jenny kämpft, scheitert und steht doch immer wieder auf. Gerade diese Verletzbarkeit und Unvollkommenheit lassen sie sehr authentisch erscheinen. Erzählt werden diese existenziellen Nöte ohne jedes Pathos als ein letztendlich gelingender Aufbruch in ein befreites, zweites Leben. Das Älterwerden verliert hier auf eine sehr subtile Art seinen Schrecken, wobei das unaufgeregte, wohlbedachte Handeln von Jenny typisch ist für sie, was sie als Figur denn auch sehr sympathisch macht. In der Heimat der Autorin wurde dieser Roman, der auch einige Längen aufweist durch mancherlei Wiederholungen und Abschweifungen, als versöhnlich-feministisches Manifest gefeiert, dem die narrativ einbezogenen Märchenfiguren neben ihrem Hintersinn auch einen ganz besonderen, eigenen Zauber verleihen!