Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 100 Bewertungen
Bewertung vom 22.11.2023
Lieder aller Lebenslagen
Pilgaard, Stine

Lieder aller Lebenslagen


ausgezeichnet

Die Ich-Erzählerin, eine Horoskop- und Gelegenheitsliederschreiberin zieht mit Partner*in in ein Genossenschaftshaus, wo sie sofort in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Sie soll für sie Lieder schreiben und hört ihre Geschichten, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Von Oma, die mit Ruth zusammenlebt, und die ihre Liebe in der Jugend verstecken mussten; von Sagaexpertin Lisa, die mehr in den Sagas lebt als in der Realität; von Aktivistin Lotte, die sich in Grieche Agis verliebt und viele mehr.
„Lieder aller Lebenslagen“ von Stine Pilgaard ist kein klassischer Roman. Es gibt keinen festen Erzählstrang, sondern nur den Kern, nämlich die Bewohner*innen des Hauses. Darauf muss man sich einlassen. Tut man es, wird man mit einer Bilderflut und Sprachintensität belohnt, die ich selten gelesen habe.
Die Geschichten sind ok, aber auch austauschbar und die schiere Masse an Figuren macht es manchmal schwer zu folgen, doch darauf lag nicht mein Hauptaugenmerk und hat mich deswegen nicht gestört. Stine Pilgaards Umgang mit Worten lässt mich neidisch werden und schon allein die Quantität der Metaphern ist beeindruckend. Für manche mag das Überladen wirken, aber zur Ich-Erzählerin, die ja Dichterin ist, passt das und wirkt nicht kitschig oder abgedroschen.
Und dann ist noch die böse Zunge der Erzählerin. Denn manchmal haut sie Sachen raus, die so wahr und treffend, wie bitterböse sind, ob es ihre heiratende Schwester, ihre langjährigen Beziehung oder Menschen betrifft, die sie aufs Kinderkriegen ansprechen. Damit brachte sie mich oft zum Schmunzeln.
Mit „Meine Mutter sagt“ hatte mich Stine Pilgaard bereits als Leserin gewonnen, mit „Lieder aller Lebenslagen“ hat sie meine Begeisterung noch verstärkt.

Bewertung vom 17.11.2023
Das Gemälde
Brooks, Geraldine

Das Gemälde


sehr gut

Lexington ist das bedeutendste Rennpferd der USA. Als Zuchthengst hat er viele erfolgreiche Nachkommen gezeugt und ist 150 Jahre nach seinem Tod nicht vergessen, auch wenn sein Skelett im Smithsonian verstaubt und ein Gemälde von ihm auf dem Sperrmüll landet. Wissenschaftlerin Jess und Kunsthistoriker Theo fasziniert Lexingtons Geschichte und führt sie zusammen. Außerdem ist da noch Jarret, der Lexington sein ganzes Leben lang begleitet und eine ganz besondere Verbindung zu ihm hat, doch als Schwarzer Sklave weniger Wert zu sein scheint als das Pferd. Sie erleben viel, nicht nur im Rennsport, sondern auch die Unruhen und Kämpfe zwischen Norden und Süden und geben sich gegenseitig Halt.
Das sind nicht alle Erzählstränge von „Das Gemälde“ von Geraldine Brooks, aber für mich die Zentralsten. Es gibt noch Maler Scott und Kunsthändlerin Martha, die das Bild komplettieren. Es ist ein sehr komplexer Roman, der sich nicht nur mit dem Rennsport befasst, sondern vor allem mit der Sklaverei in den USA, die zu Lexingtons Lebzeiten Normalität war und mit dem allgegenwärtigen Rassismus in der Gegenwart. Jarret und Theo sind PoC und geben jeweils Einblicke in ihre Lebensrealität, was ich sehr gelungen finde, aber mit einem gewissen Beigeschmack, denn muss eine Weiße Frau darüber schreiben, auch wenn das im Kontext des Buches sehr stimmig ist?
Sehr verständlich fand ich Jess’ Unbedarftheit in Bezug auf Mikroaggressionen und verstecktem Rassismus. Und ich mochte die Liebe zum Pferd, die Verbindung zwischen Mensch und Tier und die Leidenschaften der Figuren, die einen Gegenpol zu der Grausamkeit des Rassismus schaffen, diese aber gleichzeitig unterstreichen.
Geraldine Brooks Arbeit, die sie in den Roman und in die Recherche gesteckt hat, ist bei jeder Seite spürbar und Pferdemenschen und kunsthistorisch Interessierte werden ihre Freude haben. Vor allem stellt es aber die Lebensrealität von PoC in den Vordergrund, zwar von einer Weißen, aber trotzdem unglaublich wichtig.

Bewertung vom 05.11.2023
Im Prinzip ist alles okay
Polat, Yasmin

Im Prinzip ist alles okay


sehr gut

Miryam hatte es nie leicht. In ihrem Elternhaus herrschte Gewalt, der Vater schlug und die Mutter steckte ein, alles angeblich zum Wohl der Kinder. Auch später wurde es nicht besser, Gewalt, ob psychisch oder physisch bestimmte ihr Leben. Nun ist sie selbst Mutter und will alles besser machen, muss aber erkennen, dass die Vergangenheit tiefe Narben aus Traumata, Depression, Zweifel und Angst, hinterlassen hat.
„Im Prinzip ist alles okay“ von Yasmin Polat ist kräftezehrend. Die Gewalt, die Miryam erlebt ist so sehr mit ihrem Leben verankert, dass sie nicht davon loskommt und immer wieder in alte Muster rutscht, zum Schluss sogar selbst so handelt, wie sie nie handeln wollte. Der Roman zeigt wie weit generationsübergreifende Traumata gehen können und wie sehr sie das Leben prägen, auch wenn man alles dafür tut, um auszusteigen. Denn das versucht Miryam, doch trotz Therapie, Kontaktabbrüchen und besseren Beziehungen kommt sie von der Vergangenheit nicht los und das beeinflusst die für sie wichtigste Beziehung, die zu ihrem Kind.
Ich fand Miryam wirklich anstrengend. Anfangs tat sie mir Leid, sie ist ein Opfer, kann absolut nichts für ihre Traumata und nach einer absolvierten Therapie sollte sie besser mit der Depression, die sehr gut geschildert ist, klar kommen. Leider funktionieren psychische Erkrankungen so nicht, schon klar. Aber ich will auch nicht lesen, wie sie sich über Seiten und Seiten in Selbsthass, Zweifeln und Paranoia suhlt. Und auch das Ende gefällt mir nicht. Für so viel Gejammer und Einführung kommt das Ende, das zwar stimmig ist, zu hopplahopp und auch das es offen ist, wirkt irgendwie gewollt, so als hätte man einfach den letzten Absatz weggelassen, um es zu erschaffen.
Sprachlich ist es ok, haut mich aber nicht vom Hocker. Manche Charaktere hätte ich nicht gebraucht, ebenso wie die gewollt achronologische Erzählung zum Schluss. Trotzdem sehe ich Potenzial, nicht zuletzt wegen der wichtigen Themen, die Yasmin Polat anspricht.

Bewertung vom 28.10.2023
Nightbitch
Yoder, Rachel

Nightbitch


sehr gut

Eine Galeristin und Künstlerin wird Mutter und dann auch ziemlich schnell Hausfrau. Ihr Mann ist keine Hilfe, denn er ist eigentlich immer auf Geschäftsreise und sie hat noch nicht in die Mutterrolle finden können. Sie wird immer unglücklicher, bis sie sich radikal verändert und das Muttersein in einem ganz anderen Licht sieht.
„Nightbitch“ von Rachel Yoder wollte ich unbedingt lesen, versprach es doch ein außergewöhnlicher und laut Klappentext brillanter Roman zu sein und anfangs nahm ich es auch so war. Rachel Yoder beschreibt die Mutterrolle, in welche die Gesellschaft und die Arbeitswelt Frauen pressen möchten, radikal und ungeschönt. Die Protagonistin liebt ihren Sohn, ist aber heillos überfordert und bekommt weder Hilfe, noch Verständnis - im Gegenteil, sie sieht nur die perfekten Mütter um sich herum und der Vater glänzt durch altkluge Ratschläge und Abwesenheit.
Ziemlich schnell kam es dann zur Verwandlung in Nightbitch, einem mystischen Hundewesen, mit dem sie ihrer absolut nachvollziehbaren Wut Luft macht. Trotzdem hadert sie immer wieder mit ihrem Leben, ihren eigenen Erwartungen und den neu entdeckten Instinkten. Ab da fing es an sehr absurd und blutig zu werden, was ich sehr schade finde, denn die Rolle der Mutter ist wohl die Unterschätzteste überhaupt und rückt dadurch etwas in den Hintergrund. Nightbitch verkommt zum Kunstprojekt, was zum Schluss natürlich noch dramatisch, aber mit gewissen Längen inszeniert wird.
Trotzdem ist der Roman wichtig, weil er sich mit dem Thema Mutterschaft auf besondere Weise befasst. Mit der Überforderung, der Einsamkeit, der Monotonie und Selbstverständlichkeit, dass eine Frau auch gleichzeitig die geborene Mutter sein muss. Vielleicht spricht gerade diese etwas konfuse, ins absurde abdriftende Geschichte eine spezielle Leserschaft an, die sich dann damit auseinandersetzt, mich konnte der Roman und vor allem dessen Ende in Gänze nicht überzeugen.

Bewertung vom 22.10.2023
Ich träumte von einer Bestie
Blazon, Nina

Ich träumte von einer Bestie


ausgezeichnet

Fleur versteckt sich und ihre wilde Seite. Sie hat schlimmes in der Vergangenheit erlebt und das tief in sich begraben. Das kann sie gut, denn sie weiß, wie man Dinge wieder ausgräbt, vor allem im Internet. Als ihr leiblicher Vater stirbt, wird sie mit ihrem Erbe konfrontiert, wohinter viel mehr steckt, als schreckliche Erinnerungen und verdrängte Traumata. Auf der Suche nach Antworten reist sie nach Frankreich und findet nicht nur die Geschichte ihrer Familie, sondern auch zu sich selbst.
„Ich träumte von einer Bestie“ von Nina Blazon war ein aufregender Ritt von der ersten bis zur letzten Seite. Nina Blazon weiß, wie man Geschichten erzählt. Kein Wunder, sie hat viel Erfahrung und nutzte sie, um diesen wahnsinnig komplexen Roman zu schreiben. Ich bin immer noch beeindruckt, weil ich mich trotz momentaner Leseflaute, Fleur und ihrer Suche nicht entziehen konnte. Sie ist für mich ebenso lebendig geworden ist, wie all die anderen Charaktere. Nina Blazon beherzigt ‚show, don´t tell‘ exzellent, so erweckt sie Fleur auf eine Weise zum Leben, wie ich es selten gelesen haben. Zwar konnte ich ihre Angst vor dem Wald und vor Wölfen nicht wirklich nachvollziehen, da es für mich keinen schöneren Ort und keine schöneren Tiere gibt, trotzdem ist diese im Gesamtbild schlüssig und ich konnte mich in Fleur als Person sehr gut hineinversetzen.
Nina Blazon verbindet Moderne mit Vergangenheit, und Märchen, oder besser gesagt die Wirklichkeit hinter den Märchen, spielen eine zentrale Rolle. Sie führt ihre Leser*innen auf eine Reise in ein anderes Land, in eine andere Zeit und behält doch immer einen Fuss im Hier und Jetzt, was mir sehr gut gefallen hat. Auch stilistische muss sich Nina Blazon nicht verstecken. Sie baut gezielte Metaphern ein und wählt gekonnt die richtigen Szenen aus.
Ich freue mich sehr, eine so tolle Autorin gefunden zu haben und ich habe zwar noch keines ihrer anderen Bücher gelesen, aber ich glaube, da ist für Jede*n etwas dabei.

Bewertung vom 14.10.2023
The Marmalade Diaries
Aitken, Ben

The Marmalade Diaries


sehr gut

Der 30jährige Ben zieht zur 85jährigen Winnie, dessen Mann vor kurzem gestorben ist und die allein in einem riesigen Haus in London lebt. Es ist eine Art Zweckgemeinschaft. Ben benötigt ein Heim und Winnie Gesellschaft. Sie bilden eine besondere WG, die noch besonderer wird durch die Zeit, die sie durchstehen müssen, denn Corona hat die Welt fest im Griff.
In „The Marmalade Diaries“ beschreibt Ben Aitken in Tagebuchform, was er alles mit Winnie erlebt. Es ist chronologisch aufgebaut und jedem Kapitel, das einen Monat beinhaltet, folgt ein Schwank aus Winnies Leben. Sie ist auch die Hauptperson dieses Buches und ich mochte sie sehr. Sie ist exzentrisch wie es nur ältere, erfahrene Menschen sein können. Sie hat ihre Eigenarten, Vorlieben und Routinen, die oft Kleinigkeiten betreffen, wie welcher Topf für die Eier verwendet wird. Sie hat sich arrangiert in ihrem Leben als Witwe mit einem pflegebedürftigen Sohn, wobei sie nie zur Ruhe kommt, nicht mal um zu Essen.
Am besten gefallen mir die Dialoge zwischen Ben und Winnie. Ihre Ansichten sind manchmal so verdreht, dass sie schon wieder gerade wirken. Es handelt sich allerdings nicht um einen Roman, es ist ein Tagebuch. Es gibt keine richtige Geschichte, wenn man mal von Winnies Leben, das wie nebenbei erzählt wird, absieht. Es sind schöne Anekdoten, die für sich stehen können und geben einen Einblick in die Zeit, als Corona noch unseren Alltag bestimmt hat. Aitken hat dabei einen soliden Schreibstil, der durch den schwarzen Humor bestimmt wird.
Es ist schönes Buch, zu dem man immer wieder greifen kann, um ein paar Abschnitte zu lesen und die einen über Winnie Schmunzeln lassen, die mal wieder nicht richtig zuhört und wie eine Füchsin auf ihre Orangenmarmelade aufpasst.

Bewertung vom 08.10.2023
Monstrosa
Krcmárová, Rhea

Monstrosa


sehr gut

Triggerwarnung: Essstörung, selbstverletzendes Verhalten

Isabella ist mehrgewichtig und hat bereits 20 Jahre Diäterfahrung hinter sich. Sie war schon als Kind in Diätcamps und als es zu Binge-Eating-Anfällen kommt, nutzt sie anderen Maßnahmen - trotzdem steigt die Zahl auf der Waage immer weiter. Ihr Leidensdruck wird so groß, dass sie zur Klinge greift, was natürlich auch keine Erleichterung bringt. Das Einzige, was sie glücklich macht, ist das Singen. Darin ist so gut, dass sie Operngesang studierte, aber auch hier steht ihr Gewicht ihr im Weg. Sie muss abnehmen und vor allem ihre Essstörung in den Griff bekommen. Sie geht in eine Klinik, wo sie auf Anas und Mias trifft, Mädchen, Frauen und zwei Männer, die unter Magersucht und Ess-Brech-Sucht leiden. Sie sind eine eingeschworene Gruppe und Isabella wird zu ihrem Feindbild.
„Monstosa“ von Rhea Krčmářová ist kein normaler Roman, er ist eine besondere Art des Horrorromans, der mich an die Klassiker erinnert, allerdings verortet in der Moderne mit seinen überzogenen Schönheitsidealen. Isabella verkörpert absolut, was eine mehrgewichtige Frau durchmachen, womit sie kämpfen muss, wie wenig sie akzeptiert wird. Auch die Anas und Mias verkörpern sehr gut die Krankheit, die dahintersteckt. Manchmal vielleicht auch zu sehr. Der Wahnsinn wird mehr als deutlich und dafür ist dieses spezielle Genre auf das man sich einlassen muss, ideal gewählt.
Man merkt, dass Rhea Krčmářová Erfahrung mit Dramaturgie und Storytelling hat, sie bedient sich an klassischen Motiven, die sie für sich interpretiert und das fand ich sehr gelungen. Aber für eine Person, die Erfahrung mit diesen Themen hat, ist das Buch auch sehr herausfordernd und ich hätte mir tatsächlich eine deutliche Triggerwarnung gewünscht, auch wenn der Klappentext darauf hindeutet.

Bewertung vom 03.10.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


ausgezeichnet

Anfang 17. Jahrhundert in Nordamerika, ein Mädchen flieht aus einer Siedlung in die Wildnis. Wäre sie geblieben, wäre sie verhungert oder schlimmeres, denn sie ist nur eine Dienerin und eine Frau noch dazu. Da schein die Wildnis, auch wenn es Winter ist, die bessere Wahl. Die Schrecken, die dort auf sie lauern, nimmt sie lieber in Kauf als die Grausamkeit ihres eigenen Volkes. Sie rastet nur, wenn es sein muss; isst, was sie findet; hastet immer weiter in eine ungewisse Zukunft.
"Die weite Wildnis" von Lauren Groff hat mich tief beeindruckt. Es mein erstes Buch der Autorin und ich freue mich schon auf die Vorgänger und Nachfolger. Eigentlich lese ich nicht so gern historische Romane, aber dieser hat mich schon auf den ersten Seiten überzeugt. Das Mädchen, das zwar einen Namen hat, sich selbst aber so nennt, ist außergewöhnlich und hatte es nie leicht in ihrem kurzen Leben, nicht im Waisenhaus, nicht bei ihrer Dienstherrin und schon gar nicht in der neuen Welt. Vielleicht hat sie deshalb so ein enormes Durchhaltevermögen und eine beispiellose Stärke entwickelt. Sie musste all das Durchmachen, was Frauen widerfährt und noch viel mehr. Sie resümiert ihr Leben auf der Flucht. Durchbrochen werden ihre Gedanken durch ihre Eindrücke der Natur, die so nah geschildert werden, dass ich die Kälte spüren konnte.
Anfangs musste ich in die passend gewählte, altertümlich Sprache finden, aber danach flog ich durch die Seiten wie das Mädchen über die Weite - ebenso gehetzt wie sie, denn ich wollte wissen, was mit ihr passiert und hatte immer die Hoffnung, dass es gut ausgeht. Sprachlich ist es, wie ich erwartet hatte, on Point.
Es ist ein bemerkenswerter Roman, der absolut rund ist und auch wenn er ein trauriges Ende hat, hätte es kein anderes geben können.
Ich frage mich nur, warum das Mädchen diesen blöden Nagel nicht aus dem Stiefel gezogen hat…

Bewertung vom 01.10.2023
Dich zu verlieren oder mich
Qaderi, Homeira

Dich zu verlieren oder mich


ausgezeichnet

Homeira Qaderi schreibt von ihrer Kindheit und Jugend in Afghanistan. Wie sie erst die Besetzung der Russen überstanden hat und später die Gewaltherrschaft der Taliban, die den Frauen, die wenigen Rechte, die sie hatten, auch noch weggenommen haben. Sie wurde verheiratet, damit ein Talib sie nicht entführen konnte und sie zog mit ihrem Mann nach Teheran, wo sie so etwas wie Freiheit erfuhr. Sie studierte, schrieb und konnte endlich leben. Bis ihr Mann zurück wollte, in das Land, das er als Heimat bezeichnete, für Homeira aber nur Einschränkungen bedeutete bis dahin, dass sie eine zweite Ehefrau akzeptieren sollte.
"Dich zu verlieren oder mich" ist das schmerzhafteste Buch, das ich seit langem gelesen habe, denn Homeira Qaderi hat es so erlebt. Sie hat Krieg und Belagerung erlebt, wie Schulen für Mädchen geschlossen wurden und sie das Haus nicht mehr verlassen durften, wie ihnen jede Freiheit genommen wurde, weil Männer das so beschlossen haben. Sie erlebt sexuelle Übergriffe, natürlich, den auch eine Burka schützt Frauen davor nicht. Und sie musste hinnehmen, dass ihr der Sohn genommen wurde, weil die Mutter nichts wert ist und er zu seinem Vater gehört. Diese Schilderungen sind schlimm und mein Herz hat sich oft verkrampft, nur die Briefe an ihren Sohn, die jedes Kapitel beenden und Homeiras Stärke haben mich nicht komplett verzweifeln lassen.
Jedes einzelne Kapitel hat mir nochmal verdeutlich wie privilegiert wir in der westlichen Welt sind, trotz der Ungleichheit, die immer noch herrscht und es zeigt, dass das Patriarchat immer wieder Wege suchen wird, die Freiheit von Frauen einzuschränken. Wir sollten den Blick öfter in solche Regionen richten, um uns zu vergegenwärtigen, dass es natürlich auch schlimmer sein könnte, aber das es endlich Zeit für Veränderung ist und zwar global, nicht nur in unserem kleinen Kosmos.
Ich bin sehr froh, dass ich dieses Buch lesen durfte, denn ich habe eine außergewöhnliche Schriftstellerin kennengelernt.

Bewertung vom 29.09.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


schlecht

Johanna hat ihre Familie verlassen. Sie ist vor über 30 Jahren in ein neues Leben aufgebrochen, was sie zum schwarzen Schaf der Familie macht. Sie hat den Kontakt verloren, aber er wird ihr auch verwehrt und sie kann sich nicht von dem Gedanken lösen, was für eine schlechte Tochter sie ist und wie ihre Mutter und ihre Schwester sie sehen könnten.
„Die Wahrheiten meiner Mutter“ von Vigdis Hjorth hatte sich vielversprechend angehört. Mutter-Tochter-Beziehung sind immer interessant, weil sie nie einfach sind, doch der Roman hat mich nicht abgeholt. So wenig, dass ich ihn nach 100 Seiten abgebrochen habe. Erst dachte ich, es muss doch was passieren, jetzt passiert endlich was, aber dann fantasiert Johanna doch nur Tagesabläufe der Mutter, ergeht sich ihn Mutmaßungen, denkt daran zur Mutter zu gehen, ruft sie sogar an, aber ohne tatsächlich in Kontakt zu treten. Alles nur aus Johannas Sicht, keine Resonanz von Seiten der Mutter oder Schwester und beim Vorblättern hab ich auch keine gefunden. Natürlich könnte da noch etwas kommen, aber ich werde nicht noch weitere 300 Seiten lesen, nur um darauf zu warten.
Hinzukommt, dass fast alles erzählend geschildert wird, nur wenige Szenen, die kaum Spannung aufbauen. Ich weiß nach diesen 100 Seiten bereits, was passiert ist, warum es zum Zerwürfnis kam und wundere mich, warum Johanna diese Verbindung plötzlich so wichtig ist, immerhin hat sie die letzten 30 Jahre auch nicht nach einer Lösung gesucht. Sie verbeißt sich lieber in der Verbitterung, die sie Mutter und Schwester unterstellt.
Ich verstehe durchaus, warum Vigdis Hjorth es so erzählt, dermaßen auf diesem Zerwürfnis herumreitet, denn so ist es mit der Familie. Man kann sie nur schwer abstreifen, sich schwer von ihr lösen. Sie bleibt ein Teil von einem. Die Frage ist nur, warum sich darin über 400 Seiten suhlen?