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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 100 Bewertungen
Bewertung vom 13.08.2023
Die Unbändigen
Hart, Emilia

Die Unbändigen


sehr gut

Kate, Violet und Altha gehören der Linie der Weyward-Frauen an, allerdings spielen ihre Geschichten zu unterschiedlichen Zeiten. Kates 2019, Violets 1942 und Althas 1619. Allen ist gemein, dass sie eine besondere Verbindung zur Natur haben und mit ihr auf besondere Weise interagieren können, sowie dass sie unter Männern und deren Machtausübungen leiden. Kate ist gefangen in einer Beziehung mit einem gewalttätigen Mann. Sie flüchtet in das Cottage ihrer vor kurzem verstorbenen Großtante Violet, die als junges Mädchen von ihrem grausamen Vater dorthin verbannt wurde. Und ganz am Anfang steht Altha, die der Hexerei angeklagt wurde.
„Die Unbändigen“ von Emilia Hart ist nur im Hinblick auf die Gabe der Weyward-Frauen ein Fantasy-Roman, ansonsten ist er in der Realität verhaftet, was mir sehr gefallen hat. Zumal die Gabe aus dieser besonderen Verbindung zur Natur besteht und damit nicht allzu fantastisch ist. Auf vielfältige Weise wird die Gewalt und Macht, die von Männern ausgeübt wird, geschildert, nicht nur in körperlicher und sexueller Hinsicht, sondern auch die strukturelle, gesellschaftliche und konstitutionelle. Der Mann kann machen, was er will, denn die Schuldige und vermeintliche Verursacherin ist ganz klar die Frau.
Kate, Violet und Altha waren mir sympathisch und ihre Schicksale taten weh. Emilia Hart schlüpft gekonnt in die verschiedenen Geschichten und verdeutlicht das auch sprachlich, wobei sie ihr schriftstellerisches Können unter Beweis stellt. Sie entwirft Bilder, die unter die Haut gehen. Zum Ende hatte es einige Längen und vieles war voraussehbar, trotzdem habe ich weitergelesen. Die fast ausschließlich negative Darstellung der Männer fand ich anfangs gut, später etwas zu konstruiert, aber zum Schluss schafft Emilia Hart dann doch noch den Bogen.
Ich werde nicht müde zu sagen, dass solche Bücher wichtig sind, weil sie eine Lebensrealität aufzeigen vor der wir nicht länger die Augen verschließen dürfen!

Bewertung vom 06.08.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


gut

Alex schmarotzt sich durchs Leben. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Schon in der Stadt hat sie sich von Männern aushalten lassen und sie zum Dank noch bestohlen. Sie hat in einer WG gewohnt ohne Miete zu zahlen und sich einfach an allem bedient. Inzwischen meint es das Leben nicht mehr so gut mit ihr. Ein Lichtblick ist Simon, der sie mit in die Hamptons nimmt. Alex glaubt, der Stadt und den dortigen Problemen entfliehen zu können. Doch dann schmeißt Simon sie raus und sie nimmt ihren Pfad der Verwüstung wieder auf.
„Die Einladung“ von Emma Cline konnte mich nicht richtig überzeugen. Alex war mir durchweg unsympathisch. Die Haltung, die sie an den Tag legte, dieses keinerlei-Verantwortung-übernehmen und nur auf den eigene Vorteil aus sein, kann ich in der Realität schon kaum aushalten, in der Fiktion ist das aber ok. Warum es mir hier nicht gelang, kann ich nicht sagen, ich musste jedenfalls immer wieder mit den Augen rollen. Ihr Maß an Manipulationsgeschickt war für mich nicht nachvollziehbar. Aber die Macht, die bestimmte Kreise und vor allem die Männer, die darin wandeln, besitzen, fand ich gut geschildert.
Passend zu Alex sind viele lose Enden geblieben. Sie selbst interessiert sich nicht dafür, was nach ihrem Abgang passiert und so erfahren wir auch nicht wie die Menschen, die einen kurzen Augenblick von Bedeutung für sie waren, mit dem Chaos umgehen und wie sie das Aufräumen bewältigen. So wie Alex sich selbst nicht richtig wahrnimmt, flimmert auch nur ein vages Bild von ihr vor meinen Augen. Ich kann sie nicht greifen, sie flutscht mir mit ihrer Anpassung, die keine eigene Persönlichkeit enthält, immer wieder durch die Finger.
Sprachlich war es ok, nicht überragend, einige gute Bilder und ein gelungener Sprachfluss haben mich weiterlesen lassen, aber es hat sich dennoch kurzweilig angefühlt. Ich kann nicht behaupten, dass es einen wirklich bleibenden Eindruck hinterlassen hat.

Bewertung vom 31.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

Léa flieht in das Ferienhaus ihrer Familie nach Südfrankreich. Sie war schon lange nicht mehr an diesem mit Erinnerungen beladenen Ort und trifft gleich am ersten Abend Alice. Zu einem weiteren Treffen kommt es nicht, da Alice in der Nacht verstirbt. Dafür tritt ihr Bruder Émile in Léas Leben und verwandelt diesen Sommer in einen ganz besonderen.
„Nachts erzählen wir uns alles“ von Anika Landsteiner auf ein paar Worte zu reduzieren, schaffe ich nicht. Dieses Buch hat alles, was ich von einem guten Roman erwarte und noch viel. Es wurde schon mit den ersten Seiten zu meinem absoluten Jahreshighlight. Ich hatte schon „So wie du mich kennst“ gelesen und meine Erwartungen waren dementsprechend hoch, aber Anika Landsteiner hat diese bei weitem noch übertroffen. Mit Léa hat sie eine authentische Protagonist kreiert, die ich direkt vor mir sehen und mit der ich mich identifizieren konnte. Sie hat ihr ganzes Herzblut und Können in diesen Roman gesteckt, was man an jedem gut gewählten Wort merkt und trifft Aussagen, die einfach auf den Punkt sind.
Sie hat sich in mein Herz geschrieben. Das hat sie nicht mit leichter Lektüre geschafft, denn sie bringt Themen auf Tableau wie Trennung, Tod, Abtreibung, Liebe, abwesende Väter und Familienkonflikte. Sie rückt Frauen und Feminismus in den Fokus, ohne die Männer auszuklammern und beschreibt ein Mutter-Tochter-Beziehung, die geradezu perfekt ist, aber niemals kitschig oder abgedroschen wirkt. Sie vereint gleichgeschlechtliche Liebe, Freundschaft, Sehnsucht, Leidenschaft und bündelt es in dem Haus in Frankreich, in das ich immer wieder zurückkehren möchte.
Ich habe mich in den Seiten verloren und wollte nicht wieder auftauchen. Will es immer noch nicht und vermisse Léa, Émile und Claire jetzt schon. Ich konnte es nicht aus der Hand legen und wollte noch weniger, dass es endet.
Ich hoffe sehr, dass diese Autorin noch viel schreibt. Ich werde alles von ihr lesen!

Bewertung vom 30.07.2023
Frag nach Jane
Marshall, Heather

Frag nach Jane


ausgezeichnet

Angela möchte nichts sehnlicher als Mutter werden, aber die künstliche Befruchtung hat mal wieder nicht geklappt. Als sie einen Brief findet, worin eine Mutter beichtet, dass die Tochter adoptiert wurde, muss sie Nancy finden, denn sie weiß, wie es sich anfühlt. Doch Nancy scheint unauffindbar. Diese weiß außerdem bereits von dieser Lebenslüge und hadert schwer damit. Als junge Frau entscheidet sie sich zudem eine damals noch illegale Abtreibung vorzunehmen und lernt dadurch Evelyn kennen, die nicht nur für das Netzwerk Jane arbeitet, sondern ebenfalls eine sehr bewegende Vergangenheit hat.
„Frag nach Jane“ von Heather Marshall ist wohl der aufwühlendste Roman, den ich dieses Jahr gelesen habe. Nicht nur das Thema Abtreibung spielt eine große Rolle, sondern auch das Mutter sein und werden, aber vor allem die Entscheidungsgewalt darüber, die viel zu lange beschnitten wurde und immer noch wird.
Unter dem Deckmantel eines Romans werden Begebenheiten geschildert, die so passiert sind. Frauen, die als „gefallen“ bezeichnet werden, weil sie, egal wie, schwanger geworden sind und denen dann das Baby weggenommen wurde, um es zu verkaufen; Frauen, die bei oder nach stümperhaft ausgeführten, illegalen Abtreibungen gestorben sind; Frauen, die als sie helfen wollten und für ihr Recht kämpften, verhaftet wurden. Das alles ist emotional anstrengend, aber diese Geschichten sind wichtig und gerade im Hinblick auf die USA wieder brandaktuell.
Nicht nur das Thema macht diesen Roman zu einer sehr empfehlenswerten Lektüre. Die drei Protagonistinnen sind starke Frauen, die für das Kämpfen, wofür sie brennen und Heather Marshall beschreibt gekonnt und einfühlsam, aber mit einer Klarheit, die mich oft schlucken ließ.
Am liebsten würde ich allen Menschen, die nicht verstehen, dass jede Frau selbst über ihren Körper entscheiden können sollte und vor allem den Männern, die denken, dass sie sich über Frauen erheben können, diesen Roman unter die Nase halten.

Bewertung vom 27.07.2023
Porträt auf grüner Wandfarbe
Sandmann, Elisabeth

Porträt auf grüner Wandfarbe


sehr gut

Angestoßen durch einen Anruf ihrer Großtante Lily begibt Gwen sich in die Vergangenheit. Sie möchte sich endlich mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen, die durchsetzt ist von Schweigen und Geheimnissen. Alle Fäden laufen bei Ilsabé, Gwens Großmutter zusammen, die von allen nur die Gräfin genannt wird, inzwischen in Chile lebt und damals Tochter Marga, Gwens Mutter, bei ihrer Freundin Ella abgeschoben hat. Ella wurde zu Margas Ziehmutter und hat detaillierte Aufzeichnungen hinterlassen, welche Gwen immer weiter in die Untiefen der Familie führen und die eine zentrale Frage aufwerfen: Welche Schuld hat Marga bei einem Unwetter in die Berge getrieben, wo sie tödlich verunglückte?
„Porträt auf grüner Wandfarbe“ von Elisabeth Sandmann ist ein Reise durch ein ganzes Jahrhundert, welches einerseits geprägt ist von Krieg und Armut, anderseits von Dekadenz. Ella und Ilsabé bilden die beiden Pole und könnten nicht unterschiedlicher sein. Der Roman ist ein anschauliches Beispiel wie Schuld, auch wenn sie vertuscht und verschwiegen wird, eine ganze Familie zersetzen und auffressen kann.
Die schiere Anzahl der Charaktere kann verwirrend sein, aber sie sind gut gezeichnet und alle tragen einen weiteren kleinen Teil zum Lösen des großen Familienrätsels bei. Manchmal gab es einige Längen und die wiederholten Zusammenfassungen hätte ich nicht gebraucht, aber durch die Briefe und den Bericht von Ella (ich möchte es nicht Tagebuch nennen, denn es ist in der dritten Person von Ella geschrieben) ist es abwechslungsreich und die gekonnt eingesetzten Cliffhänger, die sich nur wenig konstruiert anfühlten, ließen mich immer weiterlesen. Auch ich wollte die vielen kleinen Geheimnisse ergründen. Sprachlich ist es etwas in der Zeit hängengeblieben, aber auch das passt irgendwie.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass der Roman als mehrteilige Fernsehserie verfilmt wird und auch, dass meine Mutter direkt einschalten würde.

Bewertung vom 27.07.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


schlecht

Ruth ist die Matriarchin der Familie Schönwald über die sie vor allem mit Schweigen und Abwiegeln herrscht, gespickt mit Spitzen gegenüber der Schwiegertochter. Ihr Mann Harry kuscht und ihre drei Kinder wollen es ihr ebenso recht machen und merken gar nicht wie sie sich dem Schweigen anschließen. Doch dann will Tochter Karolin einen queeren Buchladen eröffnen, was sie mit dem Geld aus ihrem Erbe mütterlicherseits finanziert. Prompt ruft sie damit „Insta-Kids“ auf den Plan, die das Geld als „Nazigold“ bezeichnen. Und die Schönwalds müssen zugeben, dass sie sich tatsächlich nie mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben.
„Schönwald“ von Philipp Oehmke musste ich abbrechen. 260 Seiten habe ich durchgehalten, weil ich dachte, da kommt noch was. Wer holt denn so weit aus, schildert jede Banalität von jeder Figur, ohne dass es von Bedeutung ist? Vielleicht ist es das auch, vielleicht hätte ich mich weiter durchkämpfen müssen, aber es hat mich einfach nicht gepackt.
Ich hatte das Gefühl, Philipp Oehmke hat bestimmte Themen nur angeschnitten, um zu provoziere und damit mehr zu verkaufen, aber so was will ich nicht mehr lesen. Ich will gute Geschichten, die auf den Punkt sind, nicht Geschwafel, hinter dem ich den Sinn suchen muss.
Beworben wird dieses Romandebüt auch noch mit einem Spiegel-Bestseller-Autor-Aufkleber. Ja klar, wenn man eine Biographie über eine Band wie Die Toten Hosen schreibt, hat man automatisch eine riesige Fanbase hinter sich. Das heißt aber nicht, dass man über 500 Seiten ausholen muss, um jeden Gedanken, den man in den letzten Jahren hatte, zu äußern und dabei auf jeden Zug aufzuspringen, der in der Ferne zu sehen ist, ob es nun Identität, Nazivergangenheit oder Trump ist. Manche kontroverse Passage hat sich auch noch angefühlt als würde er (als Autor) das so meinen, als wär das tatsächlich sein Gedankengut. Hinzu kam der sprunghafte Wechsel der Perspektive, welcher mich immer wieder nach Halt suchen ließ. Sprachlich hat es mich auch nicht umgehauen.
Wieso also weiterlesen?

Bewertung vom 19.07.2023
Nincshof
Sebauer, Johanna

Nincshof


sehr gut

Nincshof ist wie jedes andere Dorf, aber dann doch ganz besonders, was natürlich an den Nincshofern und Nincshoferinnen liegt. Da ist Erna, die ihr ganzes Leben hier verbracht hat und die mit fast 80 noch was erleben will. Also schließt sie sich den Oblivisten, bestehend aus dem Bürgermeister, dem immer schon alten Sipp Sepp und dem Jungspund Valentin, an, die ein ganz besonderes Vorhaben verfolgen. Sie wollen, dass Nincshof vergessen wird, so wie damals war. Denn nur so können sie in Frieden leben ohne von der Außenwelt behelligt zu werden. Das wird allerdings torpediert, als Filmemacherin Isa mit Ehemann Silvano herziehen. Sie weiß nicht wohin und beginnt mit Recherchen über ihren neue Heimat und er erfüllt sich seinen langersehnte Traum von einer Irrziegenherde - beides kontraproduktiv zum Tun der Oblivisten. Zu allem Überfluss freunden sich Erna und Isa auch noch an.
So absurd, wie es sich anhört, ist „Nincshof“ von Johanna Sebauer auch, aber auf gute Art. Mit viel Witz berichtet sie von diesem eigentümlichen Ort, dessen Geschichte und den Einwohner*innen mit ihren Bräuchen, wie zum Bespiel, dass die Männer schon immer die Nachnamen der Frauen angenommen haben. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, was einen Rundumblick ermöglicht. Manchmal habe ich mich mit der Sprache etwas schwergetan, etwas umständliche, langwierige Formulierungen, die zwar witzig und originell sind, aber meinen Lesefluss etwas gestört haben. Dies führte auch zu gewissen Längen, die ich für die Geschichte nicht gebraucht hätte. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau, denn „Nincshof“ ist ein gelungenes Debüt, das zurecht bereits ausgezeichnet und gefördert wurde. Der Kern der Geschichte ist interessant und eigene Überlegungen wert. Denn ist es nicht wirklich einfacher, friedvoller, besser vergessen zu werden von einem Außen, das immer nur weitere Forderungen stellt und die eigene Freiheit einschränkt?
Ich hoffe, dass auf diesen Roman noch einige folgen werden.

Bewertung vom 10.07.2023
Die Frau, die es nicht mehr gibt
Nielsen, Maiken

Die Frau, die es nicht mehr gibt


ausgezeichnet

Es ist 1984, Alex ist mit der Schule fertig und reist durch die Welt. Sie macht Fotos und lässt sich treiben bis sie in die Provence gespült wird. Dort trifft sie auf Mado, Loic und Fantomas und beschließt zu bleiben. In diesem Sommer lernt sie nicht nur was Freundschaft ist, sie findet auch ihre große Liebe und die Leidenschaft ihres Lebens. Doch nach dem Sommer ist alles anders und Jahrzehnte später muss sie erkennen, dass viele Menschen, die sie damals in Luberon kennengelernt hat, nicht die waren, für die sie sich ausgegeben haben, allen voran Mado.
„Die Frau, die es nicht mehr gibt“ von Maiken Nielsen gehört zu meinen Jahreshighlights. Diese Geschichte hat alles, was ein guter Roman braucht. Die Charaktere sind schillernd, berührend und mir direkt ans Herz gewachsen. Maiken Nielsens Beschreibungen lassen die Leser*innen durch die Gassen der Provence schlendern, so haptisch und eindringlich sind sie. Die vielen Figuren, die eigentlich nur Nebendarsteller*innen sind, tragen die Geschichte ebenso wie die Protagonistinnen. Die RAF, Ausländerfeindlichkeit und Terrorismus spielen eine entscheidende Rolle, trotzdem kommt das Persönliche von Alex und Mado nicht zu kurz. Das szenische Erzählen erzeugt ein schnelles Lesetempo und die Geschichte ist zusätzlich so spannend, dass ich den Roman nur ungern aus der Hand gelegt habe. Als Leser*in kann man wunderbar selbst Vermutungen anstellen und bekommt Puzzleteile, die man selbst zusammensetzen kann und wird trotzdem immer wieder überrascht, aber niemals enttäuscht, denn am Schluss laufen alle Fäden zusammen.
Dieser Roman ist eine ganz besondere Reise durch die Zeit und in die Provence.

Bewertung vom 03.07.2023
Flüchtige Freunde
Caritj, Anna

Flüchtige Freunde


sehr gut

Leda geht auf College und gehört einer Sorority an. Nach dem Tod ihre Mutter vor drei Jahren, sehnt sie sich nach einer Familie und ist froh über die Gemeinschaft, auch wenn diese oberflächlich ist und veralteten, zum Teil absurden Regeln folgt. Dann ist da noch Ian, der mit ihr flirtet und mit dem es auf einer Halloweenparty ernster wird. Am nächsten Tag hat sie einen Filmriss, dreckige Füße und einen Verletzung an der Lippe. Ihre letzte Erinnerung betrifft ein Mädchen, das seitdem verschwunden ist. Leda fragt sich nicht nur, was mit Charlotte passiert ist, sondern auch mit ihr selbst und ob sie mit dem Verschwinden etwas zu tun hat.
„Flüchtige Freunde“ von Anna Caritj sieht auf den ersten Blick aus wie ein Thriller und hat auch viele Merkmale des Genres: die Spannung, das Mysteriöse und einen Showdown mit Waffe, doch es ist ein Roman mit Augenmerk auf Ledas Entwicklung. Sie taumelt schon vor Halloween durchs Leben, hat unbedeutenden und oft nicht wirklich einvernehmlichen Sex, weil es nun mal dazugehören soll. Sie ist auf der Suche nach einer Familie und glaubt sie bei Delta Psi gefunden zu haben. Doch nach Halloween ist nichts mehr wie es war. Jetzt sucht sie auch noch nach Charlotte und ihrer Erinnerung, wodurch sie sich immer mehr selbst findet und erkennt, in was für einer Gemeinschaft sie sich vermeintlich sicher fühlt.
Charlottes Verschwinden wird Ledas Wendepunkt und es ist spannend ihre Entwicklung zu beobachten. Alles wird mehr oder wenig schlüssig aufgelöst, obwohl ich Ledas Verhalten manchmal nicht nachvollziehen konnte. Das Ende wirkt leider nicht so gut durchdacht, wie der Rest des Romans.
Besonders interessant fand ich, das Setting an einem College und vor allem das Leben in einer Sorority. Anna Caritj Stil ist sehr fesselnd, beobachtend und mit gut gewählten Metaphern gespickt.
Wer einen klassischen Thriller sucht, ist hier vielleicht falsch; wer einen guten Roman lesen möchte, kann gerne zugreifen.

Bewertung vom 26.06.2023
Im Tal
Goerz, Tommie

Im Tal


ausgezeichnet

Anton Rosser verbringt fast sein ganzes trostloses Leben auf einem abgelegenen Hof im Tal. Er wird dort geboren, seine Mutter stirbt früh, sein Vater schenkt ihm keine Aufmerksamkeit, dafür aber Gewalt. In der Schule findet er keine Anschluss, weil er stottert und sein Vater schon ein Sonderling ist. Er kann es niemandem recht machen, wie sehr er sich auch bemüht, also geht er in den Krieg, was er bereut und kehrt wieder zurück ins Tal, auch wenn er Angst vorm Vater hat. Doch der ist inzwischen gestorben und er kann den Hof nun selbst bewirtschaften, auch wenn der Geist des Vaters ihn immer wieder heimsucht, in seinen Träumen und in seinem eigenen Gesicht. Das Einzige, was ihm Hoffnung schenkt ist seine Nachbarin Maria. Für sie strengt er sich an. Als er erfährt, dass seine Liebe aussichtslos ist, stürzt ihn das in ein Loch, aus dem er nicht mehr herauskommt.
Das ist nur ein kleiner Teil von „Im Tal“ von Tommie Goerz, denn in Tonis Leben geschieht noch um einiges mehr, aber nichts gutes. Er hat ein schweres Erbe zu tragen, die Traumatisierung sitzt tief und die Schicksalsschläge sind zahlreich. Er hat gar nicht die Möglichkeit sich aufzurappeln. Und obwohl ich das wusste als Leserin, denn Tonis Tod als Eigenbrötler in seiner verwahrlosten Hütte wird vorweggenommen, hatte ich immer noch ein wenig Hoffnung. Ich mochte Toni, er tat mir unendlich Leid und er hat nichts von dem, was ihm passiert und angetan wird, verdient. Sein Leben scheint vorgezeichnet, jede seiner Bemühungen umsonst, das ging mir nah.
Tommie Goerz ist ein guter Erzähler, versteht es mit wenigen Worten Emotionen zu transportieren. Seine Schilderungen schneiden ins Fleisch und Tonis Werdegang und Reaktionen sind absolut schlüssig. Ich hab „Im Tal“ gern gelesen, auch wenn es schmerzhaft war, denn es zeigt an einem Einzelschicksal, was Isolation anrichten kann.