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gst
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pirna

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Insgesamt 207 Bewertungen
Bewertung vom 15.07.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Von Schlangen, Zecken und Kusswanzen

Das ist das ideale Buch für diesen heißen Sommer. Da wird einem die Klimaveränderung vor Augen geführt und wie sie sich auf uns Menschen und die Tierwelt auswirkt.


Der Autor beginnt ganz gemächlich, stellt uns in den ersten Kapiteln die Familie vor, die uns durch den Roman begleitet. Auch wenn Tochter Cat etwas dekadent ist, macht es Spaß über sie zu lesen. Die Worte, die T.C.Boyle einsetzt, rufen so manchen Lacher hervor. Mutter Ottilie bemüht sich redlich, der Umwelt keinen weiteren Schaden anzutun. Statt Fleisch werden nun Grillen zubereitet, was Sohn Cooper zu verdanken ist. Er und seine Freundin sind Entomologen (Insektenforscher); ein Beruf, der nicht so gefahrlos ist, wie Ahnungslose glauben könnten.

Während über Florida wegen des nicht enden wollenden Regens ein Modergeruch hängt, wissen sich die Menschen rund um Santa Barbara vor Hitze nicht zu retten ...


T.C.Boyle versteht es, seine Leser zu unterhalten. Jedes Kapital endet mit einem Cliffhanger und das nächste wirft die Leser unmittelbar in die nächste Katastrophe. Die Menschen trinken sich ihre Welt schön, und „das Einzige, was zählt, ist das Image“ (Seite 288). Auch wenn die hier beschriebene Welt nicht der meinen entspricht, habe ich das Buch sehr gern gelesen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.06.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


weniger gut

Wenn das Erwachsenwerden schwer fällt

Siegfried heißt der Stiefvater der namenlosen Ich-Erzählerin. Von ihm erhofft sie sich Hilfe in ihrer ausweglos erscheinenden Situation: als Schriftstellerin hat sie den Vorschuss auf ihr nächstes Buch bereits verbraucht und immer noch keine Idee, worüber sie schreiben soll. Auch Alex, ihr Partner und Vater ihrer Tochter verdient so gut wie nichts. Nun hatte Siegfried einen Herzinfarkt und meldet sich nicht, was sie vollends durcheinander bringt. Das verursacht in ihrem Kopf ein Sirenengeheul, weshalb sie beschließt, in die Psychiatrie zu gehen.

In Rückblicken erzählt sie von Hilde, Siegfrieds Mutter, wo sie als Kind einen längeren Besuch absolvierte. Auch über ihre Mutter resümiert sie und die inzwischen geschiedene Ehe zwischen ihrer Mutter und dem Stiefvater.

Warum das Buch Siegfried heißt, hat sich mir nicht erschlossen. Vom Stiefvater wird zwar erzählt, doch das Chaos in ihrer Beziehung zu Alex und die Charakterisierung von Hilde nimmt einen weitaus größeren Rahmen ein.


Antonia Baum, 1984 in Borken geboren, ist Journalistin, Schriftstellerin und Mutter. Sie befindet sich also in einer ähnlichen Situation wie ihre Protagonistin. Man glaubt ihr die beschriebene Überforderung, wenn sich das Geschirr in der Küche stapelt, sie die Gedanken an all das, was zu erledigen ist, niederdrücken. Trotzdem hat mir ihr neuester Roman nicht gefallen.


So, wie sie erzählt, hatte ich den Eindruck, dass ihre Protagonistin die Grausamkeiten aus ihrer Kindheit nie als solche wahrgenommen hat. Auch als Erwachsene reflektiert sie nicht, lässt sich ausschließlich von ihren Gefühlen leiten, anstatt Lehren daraus zu ziehen und sich anders zu verhalten, als seinerzeit ihre Mutter, die aussah, „wie die Frauen aus den Zeitschriften, die sie las, und deswegen viel im Badezimmer war.“ Ihre eigene Partnerschaft hat in meinen Augen etwas von Hörigkeit. Alex, dessen Herkunftsfamilie in einem völlig anderen Milieu lebt, ist davon ebenso geprägt, wie sie von Siegfried, der immer etepetete aussah.

Nachdem ich das Buch, dessen Chaos mich nicht erreichte, schließen konnte, war ich regelrecht erleichtert. Zwar ließ es sich teilweise sehr flüssig lesen, doch muss ich feststellen, dass das Thema „überforderte Frau und verkorkste Kindheit“, das zur Zeit sehr häufig in der Literatur zu finden ist, wenig anspricht.

Bewertung vom 18.04.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


sehr gut

Erwachsen werden

„Das sollte nie eine Liebesgeschichte werden. Das sollte wenn, dann Idas und meine, vor allem Idas Heldinnengeschichte werden, in der sich Ida von Mama befreit. Aber andererseits: Was ist ein Heldenepos ohne Liebe? (Seite 188)

Caroline Wahl (*1995) lässt in ihrem Debütroman mit dem auffällig schön gestalteten Cover Thilda Schmitt erzählen. Von ihrer Arbeit an der Kasse eines Supermarktes, von ihrer alkoholkranken Mutter und der kleinen Schwester, der sie neben ihrem Mathematikstudium die Mutter ersetzt. Zum Ausgleich zu ihrem gut gefüllten Alltag geht sie fast täglich zum Schwimmen. 22 Bahnen sind ihr Standard, bis sie Viktor kennenlernt, der die gleiche Anzahl von Bahnen absolviert.

Thilda steht vor großen Herausforderungen: Ihr Professor rät ihr, sich auf eine Promotionsstelle an der Humboldt-Universität in Berlin zu bewerben. Doch das würde bedeuten, ihre wesentlich kleinere Schwester allein bei der Mutter zu lassen. Bisher hat sie es geschafft, anders als ihre Klassenkameraden, zu Hause zu bleiben. Nun versucht sie, die schüchterne Ida für das Leben allein mit der Mutter fit zu machen.

Dieses Buch zeigt, was Kinder von Alkoholkranken alles auf sich nehmen. Wie sie viel früher als andere Verantwortung übernehmen und erwachsen werden müssen. Das hat die noch junge Autorin ganz gut herausgearbeitet und mit Verlustängsten gewürzt. Allerdings hat sie es (noch?) nicht geschafft, den Figuren tiefes inneres Leben einzuhauchen. Da sie relativ weit an der Oberfläche bleibt, wirken die Charaktere noch etwas farblos.

Fazit: Eine Lektüre, die ich dem Genre „coming-of-age“ zuordne und vor allem jungen LeserInnen empfehle, da sie viel über die Schwierigkeiten erfahren, die das Leben manchmal bereit hält.

Bewertung vom 15.04.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


sehr gut

Sittengemälde unserer Zeit

„Die Wahrheit ist ein Chamäleon, sie wechselt ihre Farbe mit dem Blickwinkel des Betrachters“.

In diesem Buch geht es um zwei wohlhabende Familien, die gemeinsam einen Urlaub in der Toskana antreten. Um die pubertierende Tochter zufrieden zu stellen, darf sie eine Freundin mitnehmen. Die ist ein Flüchtlingskind aus Somalia und soll im Urlaub das Schwimmen lernen. Doch es geschieht ein Unfall, der im Netz breitgetreten wird ...

Daniel Glattauer erzählt als neutraler Zuschauer und bezieht Meldungen und Reaktionen aus den Medien ein. Das Buch lässt sich dank der einfachen Sprache und dem versteckten Wortwitz angenehm lesen. Doch man braucht auch gute Nerven, um sich nicht zu sehr aufzuregen.

Insgesamt geht es um Schuld und Unschuld, um Bindungs(un)fähigkeit und (nicht )vorhandene Empathie. Um Geld und Armut, um beachtet und übersehen werden. Dabei beschreibt der Autor nur, was sich vor unser aller Augen abspielt, egal ob in der Realität oder virtuell. Er erzählt, ohne Stellung zu beziehen. Doch als Leser kommt man nicht umhin, die Schwachstellen und Widersprüche unserer Gesellschaft deutlich zu erkennen. Unweigerlich fragt man sich: Sind auch wir so? Oder nur die anderen? Zum Glück gibt es auch in diesem Buch Aufrechte, die wissen, wie man sich zu benehmen hat.

Daniel Glattauer hält uns einen Spiegel vor. Wer hineinsieht, erschrickt, was er da sieht. Zu gerne würde man sich auf eine höhere Stufe stellen und entdeckt doch so viele Eigenschaften, die auch in uns verkörpert sind.

Fazit: Ein Buch zum Augenöffnen und zum Aufregen über das, was um uns herum geschieht. Egal ob im Netz oder in der Realität. Lesenswert!

Bewertung vom 11.04.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


sehr gut

Sozialstudie

„Nicht zu wissen, was passiert ist, ist schlimmer als jede Wahrheit ...“ (Seite 65)

Arielle, in Düsseldorf beheimatete Social-Media-Mangerin, wird zurückgerufen nach Katernberg, den im Norden von Essen gelegenen Stadtteil, in dem sie aufgewachsen ist. Ihre Großmutter war gefallen und sie sollte ein wenig nach ihr schauen.

Wir lernen Arielle kennen, nachdem sie gerade aus der Psychiatrie entlassen wurde. Sie ist voller Sehnsucht nach ihrer Mutter Rita, die mit 24 Jahren spurlos verschwand. Damals war Arielle noch klein und fühlte sich nie von der einzigen Verwandten, ihrer Großmutter, geliebt.


„Es war schnell gegangen, bis meine Welt wieder auf diesen Block und umliegenden Straßen zusammengeschrumpft war. Düsseldorf schien weit weg, ein anderer Planet zu sein ...“ (Seite 196)


Dies ist ein schockierendes Buch in einer schönen Hülle. Das haptische Cover mit dem bunten Titel verkündet schon die Vielfalt der Empfindungen, die beim Lesen entstehen. Wir landen in einer Umgebung, in der man sich nicht unbedingt wohlfühlt. Auch die Ausdrucksweise und das Verhalten der Protagonistin lässt sehr zu wünschen übrig. Doch es lohnt sich durchzuhalten und über die Jugendsprache und die Anglizismen hinweg zu lesen.


Je weiter ich in diesem Buch kam, desto besser konnte ich mich in Arielles Depression hineindenken. Auch wenn ich bei weitem nicht alles nachvollziehen konnte, bekam ich doch einen guten Einblick in den sozialen Brennpunkt, in den uns die Autorin in ihrem Debüt mitnimmt.

Bewertung vom 11.04.2023
Das Bücherschiff des Monsieur Perdu
George, Nina

Das Bücherschiff des Monsieur Perdu


sehr gut

Seelenbuch

Nachdem ich vor Jahren Nina Georges „Lavendelzimmer“ ins Herz geschlossen habe, war klar, dass ich mich unbedingt noch einmal auf Monsieur Perdus Bücherschiff begeben wollte. Zu gern folgte ich seinen Empfehlungen, die er in seiner „Großen Enzyklopädie der kleinen Gefühle: Nachschlagewerk für Buchhändlerinnen und Buchhändler und andere literarische Therapeuten“ zusammengefasst hat.

Das vorliegende, zweite Buch über das Bücherschiff, das nun von seinem Liegeort wieder nach Paris zurückkehrt, kann man gut und gerne auch ohne Kenntnis des ersten lesen. Wichtige Details aus der Vergangenheit werden durchschaubar. Monsieur Perdu, ehemals wegen des Todes seiner geliebten Frau sehr traurig, hat wieder neue Lebensfreude gefunden, was ihn dazu animiert, das Leben anderer auszubessern. Doch nicht das Geschehen an sich steht im Mittelpunkt, sondern die Einstellung zu Büchern – egal in welchem Genre.

Wer Monsieur Perdu auf seiner Reise begleitet, lernt Leser und Nichtleser, sowie glückliche und unglückliche Menschen kennen. Dabei kommt eine Zartheit zum Tragen, die mich sehr angesprochen hat. Die Liebe zum Lesen steht im Mittelpunkt, es wurden Bücher erwähnt, die ich bereits kenne und andere, auf die ich nun neugierig bin.

Allerdings fiel es mir schwer, über zehn Stunden der warmen, getragenen Stimme von Philipp Schepmann zuzuhören. Ohne Pausen ging das nicht, da meine Gedanken nach einer gewissen Zeit abschweiften.

Fazit: Eine Reise voller Gefühle, Lebensfreude, Menschenkenntnis und Zugewandtheit.

Bewertung vom 23.03.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


gut

Hoffnung, die am Leben hält

Dr. Peter Stotz. 84 Jahre alt und schwer krank, sucht jemanden, der sich um das Archivieren seiner Erinnerungen kümmert. In Tom Elmer, einem ewigen Rechtsstudenten, der nach dem Tod seines Vaters vor einem finanziellen Desaster steht, findet er genau den Richtigen.

Unmengen von Papier müssen durchforstet werden und gleichzeitig wird von Tom erwartet, dass er seinem Arbeitgeber jederzeit ein Ohr schenkt. Bei einem respektablen Gehalt sowie Kost und Logis scheint das kein schlechter Job zu sein.

Überall im Haus gibt es Bilder einer schönen jungen Frau: Melody. Die wollte Dr. Stotz einst ehelichen, doch wenige Tage vor der Hochzeit war sie verschwunden. Ob sie geflohen oder entführt worden ist, soll Tom im Laufe seiner Tätigkeit herausfinden.


Die italienischen Köstlichkeiten, die in diesem Buch verspeist werden, können dem Lesenden das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Die zusätzlichen, hochprozentigen Getränke vernebeln einem schon beim daran Denken den klaren Verstand. Vielleicht habe ich mich deshalb schnell gelangweilt in diesem Roman? Zumindest die Arbeitsstelle und der Auftrag, die sich zu Beginn recht interessant ausnahmen, bedeuteten neben den Köstlichkeiten vor allem Papier von einer Stelle zur anderen zu schaufeln und dadurch bald Langeweile. Erst als die Geschichte mit Melody deutlicher wurde, fand ich, dass das Buch nicht mehr ganz so vor sich hin plätscherte. Fahrt nahm es jedoch nach dem Tod von Dr. Stotz auf, als Tom zusammen mit der Großnichte seines Arbeitgebers dem Rätsel auf den Grund geht.


Fazit: Wer davon träumen will, wie es sich mit sehr viel Geld leben lässt, ist in diesem Roman gut aufgehoben.

Bewertung vom 12.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Vergleichende Erinnerungen

Sabrina Janesch ist deutsch-polnischer Abstammung, was ihr Schreiben maßgeblich beeinflusst. In ihren Romanen bezieht sie sich mehrmals auf die Familiengeschichte, schaut sich im Osten um, erzählt von ihren Vorfahren.

Auch in diesem Buch greift sie in die Geschichtsschublade und erzählt, was Deutsche in Sibirien erlebt haben. Das ist interessant, weil es für mich manches Unbekannte enthält. Nicht gelungen sind dagegen die Erinnerungen an die Kindheit der Protagonistin. Mit denen versucht sie Vergleiche anzustellen zwischen der Kindheit eines Deutschen, der nach Sibirien verschleppt wurde und seiner Tochter, die in Deutschland unter Aussiedlern aufwuchs. So manches wurde ähnlich empfunden.

Während die Erlebnisse in Russland wegen der Fremdheit und der großen Weite noch das Kopfkino anregten, ließ mich die Kindheit der Erzählerin kalt, löste kaum Gefühle in mir aus. Ganz im Gegenteil, manche Schilderung langweilte mich so, dass mir immer wieder die Augen zufielen.

Ich bin zwiegespalten zurück geblieben: Angetan von der angenehmen Sprache und der gelungenen, auf Recherche beruhenden Geschichte aus Sibirien, doch enttäuscht von dem Kindheitsstrang in Deutschland vergebe ich drei Sterne.

Bewertung vom 02.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Geständnisse eines Schriftstellers

Woher bekommen Schriftsteller ihre Inspirationen? Arno Geiger ist mutig und gesteht: „Ein Vierteljahrhundert war Weggeworfenes Teil meines Lebens“. Zu einer Zeit, als er noch „im Zwischenbereich der Erfolglosigkeit“ lebte, begann er in Altpapiercontainern nach Brauchbarem zu suchen. Er fand Bücher, Tagebücher und Briefe, durch die er unterschiedlichstes menschliches Denken kennenlernte. Mit dem Weiterverkauf auf dem Flohmarkt bestritt er ebenso wie mit seinem Sommerjob auf der Bregenzer Seebühne mehrere Jahre seinen Lebensunterhalt. Nebenbei versuchte er zu schreiben, doch er fühlte sich wie „ein Junge, der ein Wörterbuch verschluckt hat“.

Erst durch die Zufallsfunde wurde er „mit den Vorfahren anderer Menschen besser vertraut“ als mit seinen eigenen. Die Offenheit, die er in fremden Briefen und Tagebucheinträgen fand, beeinflusste schließlich sein Schreiben.

Als dann der Erfolg einsetzte, und die vielen Lesereisen und Anfragen ihn überforderten, suchte er weiterhin Halt in seinen Runden. „Die Straßen Wiens waren für mich Rückzugsraum, Teil meiner Privatsphäre.“

Neben seiner Sammelleidenschaft berichtet der 1968 geborene österreichische Schriftsteller in dieser Autobiografie auch von seinen Beziehungen und seiner Familie.


Besonders angesprochen haben mich seine Gedanken im zweiten Teils des Buches, als ihm bewusst wurde, wie sich die Welt im Laufe der Zeit verändert hat. Die Offenheit, mit der er berichtet, hat mich sehr berührt und das Buch nicht mehr aus der Hand legen lassen.


Fazit: Wer wissen will, wo man die nötige Menschenkenntnis als Schriftsteller herbekommt, wird hier fündig.