Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
cosmea
Wohnort: 
Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 313 Bewertungen
Bewertung vom 28.04.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


ausgezeichnet

Alles kommt ans Licht
Ken und Abby Gardner standen einander als Kinder sehr nahe. Doch ihre Mutter war nach Abbys Geburt gestorben, als Ken drei Jahre alt war, und er hat der Schwester immer die Schuld gegeben. Der Vater Adam, ein bekannter Meeresbiologe, der sich auf Buckelwale spezialisiert hat, zieht seine Kinder allein auf, interessiert sich im Zweifelsfall aber mehr für seine Forschungen als für seine Kinder und hat nicht mitbekommen, dass sich Abby und Ken – inzwischen etwa 38 und 41 Jahre alt – voneinander entfernt haben. Ein Geheimnis aus der Kindheit hat Abby ihr Leben lang gequält. Ken ist ein erfolgreicher Immobilienhändler mit politischen Ambitionen geworden, Abby eine bisher noch nicht besonders erfolgreiche Künstlerin. Sie waren immer schon Rivalen um die Liebe und Aufmerksamkeit des Vaters und später um sichtbaren Erfolg. In Kens Ehe mit Abbys ehemals bester Freundin Jenny kriselt es. Die zwölfjährigen Zwillinge Tessa und Frannie kommen in ein schwieriges Alter und sehen den Vater inzwischen kritisch. Dann hat sich eine bisher unbekannte junge Frau namens Steph mit ihrem kleinen Sohn und ihrer Partnerin Toni in das Leben der Familie gedrängt. Auch hier gibt es etwas Verschwiegenes in der Vergangenheit. Adam Gardner will noch vor seinem bevorstehenden 70. Geburtstag und dem Ausscheiden aus dem Berufsleben zur Krönung seines Lebenswerks das eine große Forschungsergebnis erzielen: die Entschlüsselung der Sprache der Buckelwale. Dabei geht der lebenslang an einer bipolaren Störung leidende Wissenschaftler ein großes Risiko ein. Die Gardners wollen zum 70. Geburtstag des Vaters ein großes Fest geben. Hier kommt es erwartungsgemäß zum großen Showdown, bei dem alle Geheimnisse enthüllt werden.
Adrienne Brodeur erzählt die Geschichte einer nur nach außen mehr oder weniger intakten Familie aus fünf verschiedenen Perspektiven, so dass der Leser schon lange vor den Betroffenen weiß, was an schmerzlichen Erfahrungen und Geheimnissen so lange verschwiegen wurde. Die Autorin entwickelt das inzwischen gängige Thema der dysfunktionalen Familie geschickt und facettenreich. Die Flora und artenreiche Fauna der Küste bei Cape Cod spielen eine besondere Rolle, vor allem Buckelwale, Gardners mit dem Jahr 2016 auch die entscheidende Phase vor der Präsidentschaftswahl, die Amerika grundlegend veränderte. Ein gut lesbarer Roman, der mich dazu veranlasst, jetzt auch “Wild Game“, Brodeurs autofiktionalen Vorgänger aus dem Jahr 2019 zu lesen.

Bewertung vom 28.04.2024
Das Waldhaus
Webb, Liz

Das Waldhaus


sehr gut

Mit Lügen die Wahrheit ans Licht bringen
Die 37jährige Hannah Davidson kehrt in ihr Elternhaus in London zurück, und sich nach seinem Krankenhausaufenthalt um ihren dementen Vater zu kümmern. 23 Jahre zuvor war ihre wunderschöne Mutter Jen, eine Fotografin, im Wald ermordet aufgefunden worden. Der Täter wurde nie gefasst. Die Familie wurde durch dieses Verbrechen zerstört. Hannahs Bruder Reece, ein erfolgreicher Medienstar, hält den Vater für den Täter und hasst ihn. Er hat den Kontakt zum Vater und zu seiner Schwester vor vielen Jahren abgebrochen. Hannah will endlich herausfinden, was damals wirklich geschah. Auch den damaligen Ermittler Chris Manning lässt der ungelöste Fall nicht los. Hannah nimmt Kontakt zu ihm auf. Er warnt sie, vorsichtig zu sein. Da Hannah ihrer Mutter immer ähnlicher geworden ist, spricht der Vater sie mit „Jen“ an und sagt mehrfach, dass es ihm leidtut. Was hat das zu bedeuten? Hannah macht sich diese Ähnlichkeit zunutze, u.a., indem sie die Kleidung ihrer Mutter trägt und sich schminkt wie sie und bringt sich dadurch in Lebensgefahr. Sie stößt auf immer mehr Ungereimtheiten und Informationen, die wichtig sein könnten. Zu den Verdächtigen gehören schließlich neben ihrem Vater und Bruder auch der Nachbar Mr. Roberts und sein Sohn Marcus, ehemals ein Freund ihres Bruders, zu dem sie sich damals und auch jetzt wieder hingezogen fühlt.
Der spannende Roman mit zahlreichen überraschenden Wendungen liest sich gut. Die Charakterisierung der Figuren ist sehr gelungen, vor allem die Protagonistin Hannah, deren verpfuschtes Leben – sie wurde drogenabhängig, Alkoholikerin und kriminell – zeigt, wie sich eine solche familiäre Katastrophe auf die Betroffenen auswirkt. “Das Waldhaus“ ist eine weitere Geschichte einer dysfunktionalen Familie, aber eine wirklich lohnende.

Bewertung vom 28.04.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


sehr gut

Staub des Lebens
In Ngueyn Phan Que Mais Roman “Wo die Asche blüht“ geht es um den Vietnamkrieg und seine Folgen für die Überlebenden in Vietnam und die amerikanischen Veteranen. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen: 1969 und 2016 mit einem Epilog im Jahr 2019. Zwei Schwestern, - 18 und 16 Jahre alt - leben in äußerster Armut in einem Dorf. Betrüger haben die Familie um ihre gesamten Ersparnisse gebracht. Sie haben außerdem fast alles verloren, weil sie ihre Schulden an Geldverleiher nicht zurückzahlen können. Die Schwestern lassen sich von einer Freundin überreden, mit ihr nach Saigon zu gehen und dort als Barmädchen zu arbeiten. Sie begreifen erst später, dass von ihnen erwartet wird, dass sie sich für ein paar Dollar prostituieren, wovon vor allem ihre Chefin profitiert. Die ältere Schwester lässt sich auf eine Beziehung mit dem Soldaten Dan ein, der sie schwängert und im Stich lässt. Dan leidet auch Jahrzehnte später noch unter PTBS und lässt ich von seiner Frau Linda überreden, nach Vietnam zurückzukehren und seine Probleme endlich aufzuarbeiten. Er hat ihr allerdings nie von seiner Beziehung zu Kim alias Trang und dem Kind erzählt. In einem zweiten Handlungsstrang sucht der Amerasier Phong nach seinem unbekannten Vater, einem farbigen GI. Er wurde vor einem Waisenhaus ausgesetzt und hat nur wenige glückliche Jahre mit einer katholischen Nonne erlebt. Dann kamen die Vietcong und damit Umerziehungslager, Gewalt und Hass. Aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe wurden diese Menschen als Staub des Lebens bezeichnet.
Die Autorin verdeutlicht in ihrem exzellent recherchierten Roman, dass aus den Beziehungen zwischen amerikanischen Soldaten und Vietnamesinnen Zehntausende von Kindern hervorgingen, die später Ausgrenzung und Hass ausgesetzt waren, vor allem, wenn sie eine andere Hautfarbe hatten, und nie eine Chance auf ein normales Leben bekamen. Dieser grausame Krieg hat niemand genützt, sondern viele Opfer gefordert und Traumatisierte auf beiden Seiten hinterlassen. Der Roman informiert nicht nur über weniger bekannte Seiten dieses Krieges, er überzeugt vor allem durch seine geschickt fiktionalisierte Form der Informationen und persönlichen Erfahrungen der Autorin. Allerdings wirkt die Zusammenführung der verschiedenen Handlungsstränge mit ihrem jeweiligen Personal zum Schluss hin etwas unwahrscheinlich. Dennoch ist dies ein sehr lesenswertes Buch, das ich gern empfehle.

Bewertung vom 24.04.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


sehr gut

Bretonische Schicksale
In einem kleinen Dorf im Landesinneren lebt Hélène, 16 mit ihrer Familie. Sie ist in Yannick verliebt, der schon die gemeinsame Zukunft plant und sich aktiv für den Erhalt der bretonischen Sprache und Kultur einsetzt. Dann zieht Marguerite mit ihrem Mann, einem erfolgreichen Schriftsteller, der aktuell an einer Schreibblockade leidet, von Paris in das Dorf. Sie übernimmt eine Vertretungsstelle als Lehrerin, und nichts ist mehr, wie es war. Die Dorfgemeinschaft will keine Veränderungen und lehnt die Neuankömmlinge schroff ab. Marguerite fördert die begabte Hélène und ermutigt sie, ein anderes Leben ins Auge zu fassen und nicht einfach dem vorgegebenen Weg zu folgen. Im Dorf machen bald schon Klatsch und Tratsch den beiden Familien das Leben schwer, und alles steuert auf einen tragischen Ausgang hin.
Die Geschichte erstreckt sich von 1944 bis zur Gegenwart und verbindet drei Generationen von Frauen, die von Hélènes Großmutter Alexine und der bösen alten Krämerwitwe Tanguy über Hélènes Mutter mit dem schwerkranken Ehemann bis zu Hélène und ihren Altersgenossen. Es wird gezeigt, dass die Zeit der deutschen Besetzung noch immer nachwirkt und es Geheimnisse gibt, an die nicht gerührt werden soll. Die Witwe Tanguy ging einst als Waisenmädchen nach Paris, wurde von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt und bekam ihr neugeborenes Kind, das angeblich nach wenigen Stunden gestorben war, nie mehr zu sehen. Marguerite dagegen ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie in der Bretagne vermutet.
Der Roman beginnt mit zwei Beerdigungen - von Hélènes Vater und von Marguerite. Wie es dazu kam und wie alles zusammenhängt, erfährt der Leser im Verlauf dieses interessanten, auch sprachlich sehr gelungenen Bildungsromans. Eine lohnende Entdeckung für mich.

Bewertung vom 24.04.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Eine Familie in der Krise
Lisa und Richard Starling machen mit ihren Söhnen und deren Lebenspartnern ein letztes Mal Urlaub im Haus der Familie am Lake Christopher in North Carolina. Ehefrau Lisa will die Immobilie unbedingt verkaufen, um in jeder Hinsicht einen Neuanfang zu machen. Die Ehe befindet sich nach Richards Seitensprung in der Krise, und die Eheleute werden in Kürze in den Ruhestand gehen und sich wahrscheinlich in Florida niederlassen. Dann werden sie Zeugen, als ein kleiner Junge im See ertrinkt. Sohn Michael versucht vergeblich, das Kind zu retten. Nach diesem Ereignis bricht alles auseinander, und Lügen und Geheimnisse, alle Arten von verdrängten Problemen kommen mit einem Mal ans Licht. Der ältere Sohn Michael ist Alkoholiker und hoch verschuldet. Auch seine Ehe gerät in die Krise, weil seine Frau Diane schwanger ist, obwohl sich die Eheleute auf Kinderlosigkeit geeinigt hatten. Der jüngere Sohn Thad ist suizidgefährdet, muss dauerhaft Psychopharmaka einnehmen und ist außerdem drogenabhängig. Er lässt sich von seinem Partner Jake, einem reichen, sehr erfolgreichen Maler aushalten. Auch diese Beziehung erlebt eine Krise, denn Thad kann sich nicht damit abfinden, dass Jake ein monogames Leben verweigert. Im Übrigen steckt auch Jake in einer Schaffenskrise und hat seit sechs Monaten nichts mehr gemalt. Endlich sind die Familienmitglieder bereit, sich den anderen zu öffnen und über alle Probleme zu sprechen. Als schockierendes Fehlverhalten kommt dabei auch ans Licht, dass ein Familienmitglied Donald Trump gewählt hat... Am Ende ist alles gesagt, und sie können einen Neuanfang wagen.
Diese Familiengeschichte ist jetzt nicht umwerfend neu und frei von Klischees, aber sie liest sich gut, und mancher Leser wird eigene Schwierigkeiten mit den Mitmenschen darin wiedererkennen. Mir hat der Roman auch sprachlich gut gefallen. Als Debütroman ist er wirklich erstaunlich gelungen.

Bewertung vom 23.04.2024
Die Gabe der Lüge / Karen Pirie Bd.7
Mcdermid, Val

Die Gabe der Lüge / Karen Pirie Bd.7


sehr gut

Mordermittlung in Zeiten des Lockdown
Im neuesten Roman von Val McDermid ermittelt Karen Pirie aus der Abteilung für Cold Cases in Edinburgh in einem ungeklärten Vermisstenfall, nachdem eine Bibliothekarin im Nachlass des kürzlich verstorbenen Krimiautors Jake Stein ein unvollständiges Manuskript gefunden hat, das so eng an den Fall der verschwundenen Studentin Lara Hardie angelehnt ist, dass es wie die Vorlage für ein Verbrechen wirkt. Die fiktiven Krimiautoren Jamie Cobain und Rob Thomas entsprechen Jake Stein und seinem Rivalen und Schachpartner Ross McEwan, der ebenfalls eine Affaire mit der Frau des Kollegen hat. Während die Karriere des einst überaus erfolgreichen Autors Jake Stein nach einem öffentlichen Skandal bei einer Lesung beendet ist, geht es mit Rob Thomas steil aufwärts. Karen Pirie und ihr Team kommen erst nicht weiter mit den Ermittlungen, die durch den Lockdown 2020 entscheidend behindert werden, ist es doch eher unwahrscheinlich, dass Stein sich durch seinen Roman selbst belastet. Erst allmählich kommen weitere Details ans Licht und führen zu neuen Ermittlungsansätzen.
Neben der Mordermittlung spielen auch Karen Piries Beziehung zu dem Unternehmer Hamish Mackenzie nach dem Tod ihres geliebten Partners, das Schicksals des geflohenen Syrers Rafiq und vor allem die tiefgreifende Veränderung der Lebensumstände der Menschen durch die Corona-Pandemie und den Lockdown im April 2020 eine zentrale Rolle. Mir hat der umfangreiche, wenn auch trotz etlicher Handlungsumschwünge nicht durchgängig spannende Roman mit seiner sorgfältigen Charakterzeichnung und guten sprachlichen Qualität gefallen. Raffiniert ist die komplexe Handlungsstruktur mit dem Roman im Roman, in dem fiktive Figuren die in der Welt der „realen“ Geschichte existierenden spiegeln. Val McDermid bleibt für mich eine sehr empfehlenswerte Autorin.

Bewertung vom 24.03.2024
Lichtjahre im Dunkel
Ani, Friedrich

Lichtjahre im Dunkel


gut

Wiedersehen mit Tabor Süden
In München verschwindet eines Tages Leo Ahorn, der Besitzer eines Schreibwarenladens spurlos. Seine Frau erfindet im Bekanntenkreis Lügengeschichten, um die Abwesenheit ihres Mannes zu erklären. Sie will auf keinen Fall die Polizei einschalten und engagiert schließlich Privatdetektiv Tabor Süden, der vor allem die Ehefrau und die Stammgäste von Leos Lieblingskneipe befragt – lange ohne jeden Erfolg. Dann wird im Kofferraum eines teuren Autos eine männliche Leiche gefunden. Die Polizei ermittelt nun ebenfalls, und für den Leser gibt es eine Wiederbegegnung mit Oberkommissarin Fariza Nasri. Die Ehe der Ahorns war praktisch beendet, und der Laden stand kurz vor der Pleite. Leo hatte eine neue Geschäftsidee und suchte vor seinem Verschwinden unter den Kneipenbekanntschaften verzweifelt nach einem Geldgeber, vergeblich. Er wurde dort stark angetrunken bei seiner Bettelei oft so laut und aggressiv, dass die Angestellte Britta ihn vor die Tür setzen musste.
Im Laufe des Romans wird die Verbindung der Schicksale von vier Menschen immer deutlicher. Dazu gehört auch der Berliner Sandro Fels aus dem Rotlichtmilieu, der Leo und den Umzugsunternehmer Georg Kramer tagelang in München beobachtet. Wie die Schicksale dieser Männer und der Ehefrau Viola Ahorn zusammenhängen, wird im letzten Drittel des Romans enthüllt und schafft die einzigen Spannungsmomente in diesem Roman, der zu Recht auf dem Cover nicht als Krimi bezeichnet wird. Das reicht mir nicht. Mir war die Darstellung insgesamt zu breit und handlungsarm. Da kann auch die kurz beschriebene Liebesbeziehung zwischen Tabor Süden und Fariza Nasri nichts mehr retten. Ich kenne viele Romane des Autors, die mir wesentlich besser gefallen haben. Insofern war Anis neues Werk für mich eine Enttäuschung.

Bewertung vom 24.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


sehr gut

Ein Leben zwischen zwei Welten
Issa, eine junge Frau, die die ersten Jahre ihrer Kindheit in Kamerun verbrachte, dann aber mit der Mutter nach Hessen zog, befindet sich im Flugzeug nach Douala. Sie ist schwanger, und sowohl Mutter und Tochter hatten unheilverkündende Träume, die ihren Tod bei der Geburt bedeuten könnten. Deshalb drängt die Mutter Issa, in der alten Heimat die traditionellen Rituale durchführen zu lassen, die ein gesundes Kind und das eigene Überleben sichern. Issa ist damit einverstanden, weil sie Abstand von ihrem bisherigen Leben und eine Auszeit für die kriselnde Beziehung mit ihrem Freund braucht. Am Ort ihrer Kindheit trifft sie unzählige Verwandte, vor allem ihre Großmutter Namondo und ihre Urgroßmutter Marijoh. Sie vollzieht die Rituale und geht als ein anderer Mensch daraus hervor. Sie lernt, dass sie sich nicht für ein Land und eine Familie entscheiden muss, dass sie, ein Recht auf ein gutes Leben in Freiheit hat. Sie sieht sich als Fortsetzung einer langen Reihe von Müttern und ist überzeugt, dass alle in ihr weiterleben und sie ihr Erbe an das eigene Kind weitergibt.
Diese Erkenntnis spiegelt die Struktur des Romans, denn die Geschichte umfasst einen Zeitraum von gut 100 Jahren – 1903-2006 – und schildert das Leben von fünf Generationen von Frauen, die viel Leid und Gewalt erfahren haben. Frauen waren machtlos in patriarchalischen Gesellschaften, wurden geprügelt und vergewaltigt, wie es Urgroßmutter Enanga durch den Deutschen Wilhelm widerfuhr, die fast noch ein Kind war, als sie geschwängert und später vom eigenen Vater vertrieben wurde, weil sie der Familie angeblich Unglück brachte. Das soziale Gefüge mit Polygamie und Patriarchat spielt eine wichtige Rolle genauso wie die politischen Verhältnisse in der Kolonialzeit, während der Weltkriege und danach, gekennzeichnet durch unvorstellbare Gewalt und immer noch andauernde Ausbeutung. Ich habe diesen interessanten Roman mit dem wunderschönen, sehr passenden Cover sehr gern gelesen und empfehle ihn ohne Einschränkung.

Bewertung vom 14.03.2024
Paare
Millner, Maggie

Paare


gut

Eine schwierige Liebesbeziehung
Eine junge Frau in den Zwanzigern hat eine längere Beziehung mit einem Mann, in der beide nicht glücklich sind, so dass es häufig zu Streit kommt. Dann verliebt sich die Protagonistin in eine andere Frau und geht zum ersten Mal in ihrem Leben eine lesbische Beziehung ein. Der Mann trennt sich daraufhin von ihr. Auch mit der Freundin wird sie nicht glücklich, denn diese verlangt irgendwann Exklusivität von ihr, ist aber selbst nicht bereit, auf ihre zahlreichen Kontakte zu anderen Frauen zu verzichten. So ist das Ende auch für den Leser dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte, in der explizit dargestellte sexuelle Kontakte eine große Rolle spielen, schon bald abzusehen. Auch diese Beziehung geht zu Ende. Wenn die Protagonistin am Ende Bilanz zieht, betont sie, dass sie viel gelernt hat, vor allem auf dem Weg der Selbsterkenntnis große Fortschritte gemacht hat.

Der Roman ist formal ein ungewöhnliches Experiment, denn er besteht zur Hälfte aus Paarreimen, zur anderen aus teilweise sehr poetischer Prosa, was sicherlich damit zu tun hat, dass die Autorin eine Dichterin ist. Interessanterweise spielt der deutsche Titel „Paare“ sowohl auf die Liebesbeziehungen zwischen Männern und Frauen an als auch auf Reimpaare/Paarreime, während der Originaltitel „Couplets“ sich nur auf die gewählte sprachliche Form in einem Teil des Romans bezieht.

Für mich war dieses Buch ein interessantes Experiment, das mich aber nicht begeistert hat. Es fehlt an Handlungselementen und jeglicher Verortung in Zeit und Raum. Außerdem bleiben die Nebenfiguren – der Ex-Freund und die Geliebte – zu blass. Der Leser wird nur über die Gier und Besessenheit, den Kummer und die Verlusterfahrungen der Protagonistin informiert. Das ist mir zu wenig.

Bewertung vom 10.03.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Sklavenleben
In seinem Roman “James“ schreibt Percival Everett Mark Twains berühmten Roman “Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ um, indem er zwar die Charaktere Huck und Jim und zahlreiche Episoden übernimmt, jedoch den Sklaven James - genannt Jim - zur zentralen Figur macht. Jim kann lesen und schreiben, verbirgt seine Kenntnisse und Intelligenz aber hinter dem primitiven Südstaatendialekt, den Sklaven sprechen, um nicht die Aufmerksamkeit der Weißen zu erregen, die Farbige für minderwertig, nicht besser als Tiere halten. Eines Tages erfährt er, dass er verkauft werden soll und flieht, weil ein Verkauf bedeuten würden, dass er seine Frau Sadie und seine kleine Tochter Lizzie nie wiedersehen würde. Huck schließt sich ihm an, indem er seinen Tod vortäuscht, weil sein Vater, ein Alkoholiker, zurückgekehrt ist und ihn brutal misshandelt. Sie nehmen ein fremdes Ruderboot, bauen sich später ein Floß und fahren den Mississippi entlang. Zeitweise verstecken sie sich auf einer Insel im Fluss. Während ihrer Flucht erleben sie Abenteuer und gefährliche Begegnungen und werden zeitweise getrennt. Jim wird von seinem Aufseher und anderen Weißen gesucht, und sein Leben ist ständig in Gefahr.
Everetts Roman ist sehr gelungen, beschreibt er doch in teilweise sehr brutalen Szenen, wie es den rechtlosen Schwarzen in der Zeit der Sklaverei erging. Sie wurden ständig ausgepeitscht, für Kleinigkeiten aufgehängt, und wenn ein Mob einen Lynchmord verübte, wurde niemand strafrechtlich verfolgt, weil es nicht möglich war, einen Einzeltäter anzuklagen. Hinzukamen Farmen, wo Farbige für den Weiterverkauf gezüchtet wurden. Wenn ich Donald Trumps lächerliche Parole “Make America great again“ höre, denke ich automatisch an das menschenverachtende System des Sklavenhandels, nicht nur an die Vernichtung und Vertreibung der indigenen Völker.
Ich habe dieses Buch gern gelesen, enthält es doch neben den brutalen auch humorvolle, recht witzige Passagen, nicht zuletzt auch, weil der Übersetzer einen Dialekt erfindet, der geschickt die Sprache der Sklaven des Originals imitiert.
“James“ ist eine gelungene Adaptation von Twains Meisterwerk, zeitlos mit seiner Thematik, weil es Rassismus auch im 21. Jahrhundert noch gibt, nicht nur in den USA. Ich empfehle dieses Buch ohne Einschränkung.