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cosmea
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Witten
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Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 273 Bewertungen
Bewertung vom 03.12.2023
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


gut

Die Wahrheit muss ans Licht kommen
Im Mittelpunkt von Shehan Karunatilakas 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichnetem Roman “Die sieben Monde des Maali Almeida“ steht der gleichnamige Kriegsfotograf und leidenschaftliche Glückspieler, der eines Tages im Jahr 1990 als Toter in einer chaotischen Zwischenwelt aufwacht, wo die Toten Schlange stehen, um sich registrieren zu lassen. Maali Almeida bleiben sieben Monde, d.h. sieben Tage, um herauszufinden, wer ihn getötet hat und warum. Danach gehen die Seelen ins Licht ein und vergessen die Vergangenheit. Maali hatte Feinde, nicht nur, weil er eine Beziehung mit Dilan Dharmendran, dem Sohn eines tamilischen Ministers hatte, sondern auch weil seine Fotos Zeugnis ablegen von grausamen Verbrechen, teilweise verübt oder geduldet von hochgestellten Persönlichkeiten. Maali Almeida will nicht nur den Mord an ihm selbst aufklären, sondern auch seine versteckten Fotos und Negative retten, damit die Wahrheit über die Bürgerkriege der 80er Jahre in Sri Lanka ans Licht kommen. Die aus Maalis Perspektive, aber in der zweiten Person erzählte Geschichte zeigt, wie Tamilen und Singhalesen und etliche politische Gruppierungen einander erbarmungslos bekämpfen, wie von der Regierung finanzierte Todesschwadronen ganze Dörfer auslöschen und was die in Gefängnissen und anderen Einrichtungen Inhaftierten erleiden. Auch die Einmischungen anderer Staaten, z.B. Indien oder USA kommen wiederholt zur Sprache. Der Autor erspart dem Leser keine grässlichen Details, beschreibt immer wieder das Aussehen der massenhaft herumliegenden Leichen, die spezielle Müllmänner im Krematorium verbrennen. Karunatilaka hat offensichtlich dasselbe Anliegen wie sein Protagonist: die Wahrheit muss ans Licht kommen. Wir dürfen angesichts solcher Verbrechen weder schweigen noch resignieren, müssen kämpfen, sonst ist keine Veränderung möglich.
Ich fand den ungewöhnlichen, sehr umfangreichen Roman schwer zu lesen – nicht nur, weil mir die Vorkenntnisse über die Geschichte Sri Lankas fehlen, sondern auch wegen der ungeheuren Personenvielfalt und der chaotischen Handlungselemente aus Vergangenheit und Gegenwart, in denen Geister, Dämonen und Teufel eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Lebenden. Gestört hat mich auch die Qualität der Übersetzung mit ihren zahlreichen grotesken Wortneuschöpfungen. Insgesamt bin ich etwas enttäuscht.

Bewertung vom 12.11.2023
The Institution
Fields, Helen

The Institution


sehr gut

Locked Room Thriller
In Helen Fields neuem Roman “The Institution“ geht es um einen Mord in einer speziellen Einrichtung für psychisch kranke Straftäter, der Parry Institution. Sie wurde auf den Resten einer alten Festung hoch über einem Stausee fern von jeglicher Zivilisation errichtet. Hier hat Dr. Connie Woolwine einen Einsatz als verdeckte Ermittlerin, zusammen mit ihrem Partner Brodie Baarda, der angeblich in seiner Zeit beim Militär schreckliche Verbrechen begangen hat und auf der Station H. von ihr als Psychologin betreut werden soll. Sie wollen auf diese Weise herausfinden, wer die Krankenschwester Tara Cameron ermordet und ihr ungeborenes Baby entführt hat und sich nun mit Lösegeldforderungen an die Familie wendet.
Im Lauf des Romans führt Dr. Connie, wie sie genannt wird, Gespräche mit den fünf Serientätern und dem Personal. Fast jeder wirkt irgendwie verdächtig, und lange fehlt jede Spur. Die erfahrene Profilerin arbeitet unter Zeitdruck, weil sie überzeugt ist, dass die kleine Aurora lebt, als Frühgeburt jedoch spezielle Betreuung braucht. Connie vermutet, dass der Mörder einer der Serienkiller ist und Hilfe von jemand hatte, der zum Personal gehört.
In der ersten Hälfte des recht umfangreichen Romans passiert nicht allzu viel. Erst in der zweiten Hälfte nimmt die Geschichte Fahrt auf, als ein schwerer Sturm dafür sorgt, dass es laufend Stromausfälle gibt und die Anstalt komplett von der Außenwelt abgeschnitten ist. Insgesamt ist der Roman interessant und spannend, auch wenn ich zum Ende hin nicht alle Wendungen glaubwürdig fand. Wegen der vielen grausamen Details der von den Insassen verübten Verbrechen ist der Roman für empfindliche Leser nicht so gut geeignet.

Bewertung vom 12.11.2023
Unsereins
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins


gut

Porträt einer längst vergangenen Epoche
Inger-Maria Mahlkes neuer Roman “Unsereins“ spielt überwiegend in Lübeck in der wilhelminischen Zeit von 1890-1906. Im Mittelpunkt steht Rechtsanwalt Lindhorst mit seiner Frau Marie und den sechs Söhnen und zwei Töchtern. Anfangs geht es der Mittelschichtfamilie mit jüdischen Wurzeln finanziell gut, später müssen sie immer mehr zurückstecken, zumal sich Lindhorsts Pläne, in der Politik Karriere zu machen, nicht verwirklichen lassen. Es geht aber auch um viele andere Familien und ihr Personal und Figuren wie Ratsdiener Isenhagen, den schwulen Lohndiener Charlie Helms oder Lindhorsts Dienstmädchen Ida, deren Schicksal zeigt, wie rechtlos und schlecht bezahlt die unteren Schichten in einer hierarchisch geordneten Gesellschaft ihr Leben fristen mussten. Um die Chancen von Frauen, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, stand es generell schlecht. Da waren auch die von acht Geburten überforderte manisch-depressive Marie Lindhorst und ihre Töchter Alma und Marthe keine Ausnahme. So muss auch Alma Lindhorst schon mal die Aufgaben eines Dienstmädchens übernehmen. Bei Eheschließungen ging es sowohl bei Söhnen als auch bei Töchtern nicht um Liebe, sondern um finanziell lohnende Verbindungen mit Vorteilen in Bezug auf das gesellschaftliche Ansehen.
Die in epischer Breite ungeheuer detailreich erzählte, dennoch relativ handlungsarme Geschichte enthält zahlreiche Anspielungen auf real existierende und fiktive Personen, z.B. auf Thomas Mann und Figuren aus seinen Romanen. Da brauchte man zum Verständnis eigentlich umfangreiche Vorkenntnisse. Die ungeheure Personenvielfalt macht die Lektüre nicht leichter. Ich musste immer wieder im längst nicht vollständigen Personenverzeichnis zu Beginn des Romans nachschauen und war dennoch oft ratlos, um wen es sich nun eigentlich handelte und wie die erwähnten Figuren zu einander standen. So richtig warm geworden bin ich mit der Geschichte und ihren Figuren nicht. Schade.

Bewertung vom 12.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


sehr gut

Familie ist eine schädliche Einrichtung
In Alex Schulmans Roman “Endstation Malma“ fahren verschiedene Menschen mit dem Zug nach Malma, ein kleiner Ort, der mehrere Stunden von Stockholm entfernt liegt. Sie fahren jedoch keineswegs gleichzeitig im selben Zug, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens. Tatsächlich handelt es sich um drei Generationen einer Familie. Ein Vater fährt mit seiner kleinen Tochter Harriet, Harriet mit ihrem Mann Oskar, als ihre Ehe bereits gescheitert ist und schließlich deren Tochter Yana, nachdem der Vater gestorben und die Mutter schon vor Jahren spurlos verschwunden ist. Was hoffen sie, in Malma zu finden? Die Perspektiven und die Zeitebenen wechseln, so dass die Aufmerksamkeit des Lesers gefragt ist. Yana erhofft sich von der Reise nach Malma Aufklärung über Rätsel der Vergangenheit. Verschiedene Geheimnisse kommen ans Licht und vor allem sehr problematische familiäre Beziehungen. Die Ehen scheitern, und sowohl Harriets Mutter als auch Harriet selbst lässt ihre Tochter im Stich. „Familie ist eine schädliche Einrichtung“ könnte man meinen, wenn man diesen Roman liest, so traurig sind die Schicksale der Kinder, die verlassen oder früh von einer Schwester getrennt werden. Alex Schulman stellt diese Schicksale einfühlsam und empathisch und auch sprachlich außerordentlich gelungen dar.
Ein sehr empfehlenswertes Buch, dessen Figuren im Gedächtnis haften und zum Nachdenken anregen.

Bewertung vom 31.10.2023
Memoria
Beck, Zoë

Memoria


ausgezeichnet

Erinnern und Vergessen
Zoe Becks Roman “Memoria“ spielt in Deutschland in der nahen Zukunft. Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten und verursacht immer wieder gefährliche Brände. Eines Tages befindet sich Protagonistin Harriet, 32 in einem Zug, der auf freier Strecke hält, weil ein Seniorenheim wegen eines Großbrandes evakuiert werden muss. Harriet steigt aus wie viele andere auch. Plötzlich sieht sie am Fenster eines Hauses eine alte Frau, die verzweifelt um Hilfe ruft. Zusammen mit zwei anderen Frauen rettet Harriet sie in letzter Minute und bringt alle mit dem Auto der Frau in Sicherheit. Diese Episode löst bei Harriet Fragen und Erinnerungen aus: Die Frau hat sie mit ihrem Namen angesprochen, und sie hat sich automatisch ans Steuer gesetzt, obwohl sie glaubt, nie einen Führerschein besessen zu haben – ein Irrtum, wie sich zeigen wird. Harriet beginnt, ihre Vergangenheit zu erforschen. 15 Jahre zuvor ist etwas Furchtbares geschehen, aber sie weiß nicht was. Sie erinnert sich an Gewalt, die sie erlitten und selbst ausgeübt hat. Die rätselhafte Verletzung einer Hand beendete die geplante Karriere als Konzertpianistin, und Harriet wurde stattdessen Klavierbauerin. Die Familie zog damals überstürzt von München nach Frankfurt. Dort lebt Harriet nach dem Tod der Mutter in sehr prekären Verhältnissen, obwohl die Familie einst reich war.
Harriet dringt immer tiefer in ihre Vergangenheit ein und kommt lange verborgenen Geheimnissen auf die Spur. Ihre Nachforschungen bringen sie jedoch zunehmend in Gefahr. Immer wieder wird die Zuverlässigkeit von Erinnerungen in Frage gestellt. Harriet kann sich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass das, was sie für wahr hält, tatsächlich geschehen ist. Die Autorin hat diese Thematik, verbunden mit den Ereignissen in Harriets Leben, zu einem spannenden, gut lesbaren Thriller verarbeitet, den ich gern weiterempfehle.

Bewertung vom 31.10.2023
Der Geruch von Ruß und Rosen
Rabinowich, Julya

Der Geruch von Ruß und Rosen


sehr gut

Flucht und Fremdsein
Im Mittelpunkt von “Der Geruch von Ruß und Rosen“ von Julya Rabinowich steht das junge Mädchen Madina. Sie ist mit ihrer Mutter, ihrem kleinen Bruder Rami und ihrer Tante Amina, der Schwester der Mutter, vor dem Krieg in ein anderes, sicheres Land geflohen, wo nicht jeder sie willkommen heißt. Sie finden jedoch auch Unterstützung, z.B. von Susi, in deren Haus sie nach der Unterbringung in einem Flüchtlingsheim wohnen. Madina hat in Laura eine sehr liebe Freundin, auf die sie sich immer verlassen kann. Dann ist der Krieg vorbei, und Madina reist mit ihrer Tante heimlich in die alte Heimat zurück, um ihren Vater zu finden, bzw. sein Schicksal aufzuklären. Auch Amina hat noch eine Rechnung offen, sucht den Kontakt zu ihrer Familie.
Die Autorin zeigt in diesem dritten Band einer Serie, dass es im Krieg nur Verlierer gibt. Niemand kann jemals vergessen, was ihm widerfahren ist: physische und psychische Qualen, materielle Verluste, der Tod geliebter Menschen: „Man kann nicht weglaufen vor dem, was der Krieg gesät hat.“ (S. 193) und “Krieg ist ein Arschloch.“ (S. 194). Die Autorin nennt bewusst weder das Land, in dem der Krieg stattfand noch die Sprache, die die Figuren sprechen, weil die Schicksale, die sie beschreibt, für unzählige andere, gleichartige stehen. Die Protagonistin ist sehr sympathisch, ihre Sprache authentisch. Sie wird im Laufe der Geschichte erwachsen, legt die viel zu früh übernommene Verantwortung ab wie einen viel zu schweren Rucksack (S. 229) und beschließt von nun an, ihr eigenes Leben zu leben, nachdem sie jahrelang eine Art Pufferzone in ihrer Familie war und bei Konflikten immer ausgleichend gewirkt hat.
Der Leser ist aufgefordert, Empathie zu zeigen und Hilfe zu leisten, statt etwa Flüchtlinge pauschal als Sozialschmarotzer zu verunglimpfen. Ein wichtiges, empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 03.10.2023
Die Kinder des Don Arrigo
Sciapeconi, Ivan

Die Kinder des Don Arrigo


sehr gut

Dem Tod und dem Schmerz Zeit abtrotzen
In seinem Roman “Die Kinder des Don Arrigo“ erzählt Ivan Sciapeconi die Geschichte von jüdischen Kindern, die im Zweiten Weltkrieg von der Organisation DELASEM vor den Nazis in Sicherheit gebracht werden. Der fiktive Ich-Erzähler Natan wird 1942 von Recha Freier aus Berlin weggebracht, nachdem die Nazis schon seinen Vater abgeholt haben und genauso wie zahlreiche andere Kinder und Jugendliche nach einer langen Odyssee im Ort Nonantola in der Emilia Romagna versteckt. In der Villa Emma wird die kleine Gemeinschaft vom Pfarrer Don Arrigo mit Unterstützung des Bürgermeisters und eines Arztes geschützt. Auch die Dorfgemeinschaft hält zusammen und hilft, wo es nötig ist. Die Dorfbewohner riskieren dabei ihr Leben, denn die Bedrohung durch die Braunhemden wird immer größer, die deutschen Soldaten rücken näher, sodass sie am Ende kaum noch das Haus verlassen können. Schließlich muss erneut eine abenteuerliche Flucht organisiert werden, die beim ersten Versuch scheitert, denn die Schweizer Grenzposten lassen keine Juden ins Land. Ihr eigentliches Ziel - Palästina - werden sie so bald nicht erreichen.
Der Autor erzählt eine berührende Geschichte, die nicht nur verdeutlicht, dass in dieser furchtbaren Zeit nicht alle Faschisten und Mörder waren, sondern dass gerade dann mitmenschliches Verhalten und christliche Nächstenliebe vonnöten ist. Die Überlebenden haben dem Tod und dem Schmerz Zeit abgetrotzt. Ihr Sieg besteht darin, dass sie überlebt haben und die Chance auf ein neues Leben bekommen (S. 187). Ein wichtiges, lohnendes Buch.

Bewertung vom 03.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


sehr gut

Georg Wilhelm Papst - ein Genie des deutschen Films
In seinem Roman “Lichtspiel“ erzählt Daniel Kehlmann das Leben des deutschen Regisseurs Georg Wilhelm Papst. Er wurde durch seine genialen Stummfilme bekannt, drehte in Frankreich, bevor er sich mit seiner Frau Trude und seinem Sohn Jakob in Hollywood niederließ – in der Hoffnung, an seine bisherigen Erfolge anknüpfen zu können. Sein erster Film war jedoch ein Misserfolg, und keiner konnte oder wollte ihm helfen. Deshalb kehrte er nach Europa zurück. Als er seiner alten Mutter in einem Seniorenheim in seiner Heimat Österreich einen kurzen Besuch abstatten will, kann er wegen des Kriegsausbruchs nicht wieder ausreisen und muss sich irgendwie mit dem Naziregime arrangieren. Kehlmann beschreibt sehr anschaulich, welche Schwierigkeiten und Schikanen die Familie bewältigen muss. Der Vaterlandsflüchtling Papst wird noch immer als Kommunist und Jude beschimpft, obwohl es keine Juden in seiner Familie gibt. Er muss sich jede Äußerung genau überlegen, denn auch unter seinen Mitarbeitern könnten Spitzel des Regimes sein. Das Leben in Nazi-Deutschland ist auch deshalb eine große Belastung für das Ehepaar, weil Sohn Jakob Mitglied der Hitlerjugend ist und später als Soldat an die Front geht.
Der gut recherchierte, kenntnisreiche Roman stellt dem Leser nicht nur G.W. Papst vor, sondern eine Vielzahl bekannter Persönlichkeiten der Zeit. Der Autor vermischt Fakten und Fiktion, vor allem im Zusammenhang mit dem in den letzten Kriegsmonaten in Prag gedrehtem Film “Der Fall Molander“, der nie in die Kinos gelangte. In einer Rahmenhandlung tritt der im Sanatorium Abendruh lebende demente Franz Wilzek, ehemals Papsts Regieassistent, später eigenständiger Regisseur in der Fernsehsendung „Was gibt es Neues am Sonntag“ auf und lässt das Rätsel um den verschwundenen Film in einem neuen Licht erscheinen.
Ich habe den neuen Roman wie schon seine Vorgänger gern gelesen, obwohl er durch den enormen Detailreichtum zur damaligen Herstellung von Filmen und die schier unüberschaubare Personenvielfalt streckenweise erhebliche Längen hat. Dennoch ist Kehlmann ein sehr interessantes Buch gelungen.

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Bewertung vom 23.09.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


sehr gut

Es werde Schmerz, und es ward Schmerz
Lauren Groffs neues Buch “Die weite Wildnis“ ist ein historischer Roman. Die Protagonistin ist ein Waisenkind, das von ihrer Dienstherrin im Alter von 4 oder 5 Jahren aus dem Waisenhaus geholt wird, damit sie sich um die neugeborene kleine Bess kümmert. Der zweite Mann der Frau, ein Pastor, verlässt England mit der Familie, um an der amerikanischen Ostküste als einer der neuen Siedler zu leben. Viele Engländer sterben schon in den Stürmen während der Überfahrt, sehr viele mehr während des harten Winters an Hunger oder Krankheiten im belagerten Fort. Das Mädchen, von den grausamen Frauen im Heim Lamentatio Venal genannt, damit die Schande ihrer Herkunft nie in Vergessenheit gerät, erlebt im Fort schlimme Dinge. Eines Tages flieht sie, weil die Gefahren ihr dort viel größer erscheinen als alles in der unbekannten Wildnis dort draußen. Als Leser verfolgen wir, wie klug sie sich Nahrung verschafft und Schutz unter Felsen, in Höhlen oder zwischen Baumstämmen sucht. Sie bekommt einen neuen Blick auf die Welt, lernt die Schönheit der Natur mit ihren Pflanzen und Tieren zu lieben und lässt den Leser an ihren Erinnerungen an die Vergangenheit teilhaben. Nach allem, was ihr widerfahren ist, verliert sie ihren Glauben und stellt die Existenz Gottes in Frage. Schließlich war auch der Pastor nur ein gefährlicher Heuchler, dem es immer nur um den eigenen Vorteil ging. Das Mädchen schafft es durch ihre überragende Intelligenz allen Gefahren zu trotzen, leidet aber unter ihrer Einsamkeit. Mit dem holländischen Glasbläser auf dem Schiff hat sie die Liebe ihres Lebens verloren. Zurück bleiben Trauer und Schmerz (S. 254).
Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Protagonistin in packender Sprache, überzeugt durch wunderbare Passagen über Landschaft und Klima und lässt auch Kritik an den skrupellosen Europäern einfließen, die sich anmaßen, die neue Welt in Besitz zu nehmen und alles zu zerstören, die Natur genauso wie fremde Zivilisationen, in diesem Fall die First Americans, die Ureinwohner. Ich habe den Roman gern gelesen, hätte mir aber schon etwas mehr Handlung gewünscht. Auch hat mich die Qualität der Übersetzung mit ihrer gewollt altertümelnden Sprache gestört, die leider auch unzählige Fehler enthält („vom Hunger gehagert“, S. 7 – soll das Deutsch sein?). Eine dennoch überwiegend positive Leseerfahrung.

Bewertung vom 10.09.2023
Vom Himmel die Sterne
Walls, Jeannette

Vom Himmel die Sterne


sehr gut

Tod und Schmerz und Lug und Trug und Dreck
Der neue Roman von Jeannette Walls ist zugleich eine Familiengeschichte und das Porträt der Familie Kincaid in Claiborne County im ländlichen Virginia in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. An der Spitze steht der mächtige Duke Kincaid, von allen nur der Duke genannt. Es ist die Zeit der Prohibition, als durch den 18. Zusatzartikel zur Verfassung die Herstellung, der Verkauf und der Transport von Alkohol verboten ist. Die Regierung hat jedoch keine Möglichkeit, die Befolgung dieses Gesetzes auch durchzusetzen. So gibt es vor allem in den auf dem Land überall illegale Schnapsbrennereien, und die verarmte Mittel- und Unterschicht hält sich mit dem verbotenen Handel über Wasser. Auch der Duke hat seinen Reichtum u.a. auf diese Weise erworben.
Die Familiengeschichte der Kincaids ist in dieser Generation besonders kompliziert, denn der Duke ist viermal verheiratet und hat mehrere Kinder aus diesen Beziehungen. Sallie, die Tochter aus seiner zweiten Ehe, wird von ihrer Stiefmutter zu ihrer Tante Faye, einer Schwester ihrer früh unter zunächst ungeklärten Umständen verstorbenen Mutter geschickt, nachdem sie den kleinen Bruder in Gefahr gebracht hat. Sie lebt neun Jahre in äußerster Armut bei der Tante, bis sie zur Betreuung des Bruders zurückkommen darf. Sie kämpft von da an mit Mut und Stärke um ihre Position in der Familie.
Die gesellschaftliche Stellung von Frauen und ihre fehlende Wertschätzung sind eines der zentralen Themen des Romans. Daneben geht es um die wirtschaftlichen Spätfolgen des Krieges, Korruption und Bandenkriege. Sallie macht schlechte Erfahrungen mit den Männern, nicht nur mit ihrem Vater. Sie kann niemandem vertrauen und ist in ihrem Kampf weitgehend allein. “Der Tod scheint überall zu sein. Tod und Schmerz und Lug und Trug und Dreck.“ (S. 425) Im Lauf der Zeit kommen immer mehr Familiengeheimnisse ans Licht – vor allem über Mutter und Vater und die Tante.
Ich habe den Roman gern gelesen, obwohl es nicht ganz einfach ist, den Überblick über die weitverzweigte Familie zu behalten. Dennoch bleibt für mich “Schloss aus Glas“ das beste Buch der Autorin.