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anushka

Bewertungen

Insgesamt 156 Bewertungen
Bewertung vom 24.09.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

Freundschaftsroman mit Sprachgenuss

Hanna, Cem und Zeyna wachsen Ende der 1980er in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet auf. Zeyna ist gerade aus dem Iran angekommen, Cem hat türkische Wurzeln und Hanna wächst bei ihren Großeltern auf. Die drei werden unzertrennlich und sind es auch bis ins Erwachsenenalter, bis plötzlich etwas passiert, das Zeyna davon treibt.
Jetzt ist Hanna um die 40 und aus der Großstadt zurückgekehrt in das Haus ihrer Großeltern nach deren Tod. Hanna ist einsam: Es ist die Hochphase der Pandemie, es herrscht Kontaktverbot und die Menschen halten Abstand zueinander. Immer wieder sieht Hanna Frauen, die aussehen wie Zeyna und sie erinnert sich zurück. An die Kindheit mit ihren beiden engsten Freund:innen, aber auch an Eifersucht, Verlust, Identitätssuche und Wahlfamilie. Sie erinnert sich auch an die ersten Risse nach dem Brandanschlag von Mölln. Zeyna entwickelte Wut, und Zeynas und Cems Familien bekamen Angst, beide erzählen von der Erkenntnis "Dass keiner uns hier haben will.". Hanna kann nur von der Seite zuschauen, denn "Aber es hat dich nie betroffen, Nicht so wie uns.".

Dieser Roman ist sprachlich als auch handlungstechnisch sehr eingängig. Gerade die einschneidenden Geschehnisse wie der Brandanschlag von Mölln und der Einsturz des World Trade Centers werden eindrücklich in ihrer Wirkung auf Hanna, Cem und Zeyna dargestellt. Da ist die blitzlichthafte Schilderung des Einsturzes, Aber auch zahlreiche Formulierungen haben mich das Buch trotz seiner bedrückenden Thematik sehr genießen lassen. Hier wird eine Kinderfreundschaft und deren Transformation ins Erwachsenenalter mit gesellschaftlichen Veränderungen verknüpft und das Bewusstsein für unterschiedliche Lebensrealitäten geschärft. So sehr Hanna sich an diese Freundschaft klammert, wird sie doch immer wieder damit konfrontiert, dass das Leben von Cem und Zeyna nicht annähernd so sorglos ist und sie deren Erfahrungen niemals wirklich nachempfinden können wird, denn "dich hat es nie betroffen, Nicht so wie uns.". Dieses recht dünne Buch vermag emotional so einiges zu transportieren. Und dennoch hatte ich auch den Eindruck, dass die Geschichte selbst manchmal etwas dünn ist. Die schlussendliche Auflösung dessen, was Zeyna weggetrieben hat, ist ein eher altes Schema und wollte für mich nicht so richtig zum Rest passen. Emotional war es nicht immer einfach, sich mit Hanna zu identifizieren, die mit wenig Antrieb vor allem der Vergangenheit anhängt und ihr Umfeld oft kritisch und mitunter abwertend betrachtet. Insgesamt konnte mich diese poetische Freundschaftsgeschichte jedoch weitestgehend überzeugen und emotional berühren und gleichzeitig einige Punkte aufzeigen, die das Leben und die Identität von Kindern, deren Familien eine Migrationsgeschichte haben, berühren.

Bewertung vom 24.09.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


gut

Interessanter Roman über die malayische Geschichte, der mich emotional nicht erreicht hat

1935, Kuala Lumpur, britisch besetzes Malaya: Cecily ist mit Gordon, einem Verwaltungsbeamten in der britischen Besatzungsverwaltung, verheiratet und hat zwei Kinder. Durch ihre gemischte portugiesisch-malaysische Abstammung haben sie eine helleres Erscheinungsbild als ihre Mitmenschen und werden so von der britischen Gesellschaft auf ihren Anlässen eher geduldet und haben leichteren Zugang zu verschiedenen Privilegien als ihre Landsmenschen. Als Cecily auf einem dieser Anlässe Bingley Chan kennenlernt, verändert sich ihr langweiliges Hausfrauendasein schlagartig. Gemeinsam arbeiten sie daran, die lästige britische Herrschaft loszuwerden und endlich zu einem selbstbestimmten Asien zurückzufinden. Zehn Jahre später ist von Cecilys Tatendrang wenig übrig. Malaya leidet nun massiv unter der japanischen Kolonialisierung. Der 15-jährige Sohn ist verschwunden, die älteste Tochter wird zunehmend wütender und die jüngste Tochter wird im Keller versteckt, um nicht als Trostfrau in einem der japanischen Bordelle zu landen. Cecily fühlt sich schuldig und ihre Familie darf nie erfahren, warum.

Der vorliegende Roman greift wie viele andere die Epoche des Zweiten Weltkriegs auf, widmet sich aber einmal einer völlig anderen geographischen Region und beleuchtet das Schicksal damaliger europäischer Kolonien und deren Einwohner. Die politischen Entwicklungen und Auswirkungen werden gut verständlich dargestellt. Interessant sind auch die kulturellen Regeln und Verhaltensweisen. Mit der Geschichte um Cecilys Familie werden viele Themen berührt und verschiedene Schicksale beispielhaft nachgezeichnet. Emotional konnte mich die Geschichte trotz der vielen Schicksalsschläge und Tragödien nicht wirklich erreichen. Keine einzelne der Figuren bot Identifikationspotential oder wirkte durchweg sympathisch. Am bemitleidenswertesten wirkte noch der Sohn, doch etliche Gewaltszenen machten auch hier ein dauerhaftes Mitfühlen unmöglich. Die Hoffungs- und Trostlosigkeit mag realistisch sein, gerade unter dem Aspekt, dass der Wechsel der Kolonialmacht die Situation für die Einwohner noch deutlich schlimmer machte, Dennoch hat mich die düstere Stimmung, die sich durch die Geschichte zog, ziemlich heruntergezogen. Zwischenzeitlich war mir die Leselust völlig abhandengekommen und ich habe das Buch tagelang beiseite gelegt. Auch wenn der Roman einen sehr interessanten Aspekt der Weltgeschichte behandelt, die Zerstörung einer ganzen Familie intensiv behandelt und die Folgen von Imperialismus aufzeigt, könnte mich die Geschichte dennoch emotional nicht wirklich erreichen. Auch wenn die Perspektiven gut konstruiert waren, und zwischen den Zeiten und Familienmitgliedern wechselten, waren mir die Figuren zu holzschnittartig, um intensiv mit ihnen mitzufühlen.

Bewertung vom 28.08.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


sehr gut

Als "Kleines Monster" geboren oder zum "Kleinen Monster" gemacht?

Pia und Jakob werden zum Elterngespräch zitiert. Es habe einen Vorfall mit einem Mädchen gegeben und ihr Sohn Luca soll der Schuldige sein. Pia kann es nicht glauben, während Jakob keinen Zweifel hegt, die Sache aber scheinbar auch recht schnell abhaken kann. Pia hingegen ist verzweifelt, weil das Kind nicht reden will, dabei braucht sie doch so dringend eine andere Perspektive auf das Geschehene. Dann merkt Pia, dass sie direkt aus der WhatsApp Gruppe ausgeschlossen worden sind, damit die anderen Eltern hinter ihrem Rücken über sie reden können. Sie fühlt sich wie eine Ausgestoßene und gleichzeitig misstrauisch beäugt ... so wie damals.

Das ominöse Vergehen Lucas, das bis zum Ende des Buches für die Lesenden nie ausgesprochen wird, triggert in Pia die Erinnerungen an die eigene Kindheit. Ein Trauma, das durch den Tod der kleinen Schwester zurückgeblieben ist und durch das Schweigen der Eltern nie aufgearbeitet wurde. Und auch hier kämpft Pia vor allem mit der Ungewissheit. Diejenige, die nicht bei dem Vorfall dabei war, und so niemals Gewissheit darüber haben wird, was eigentlich genau passiert ist. Sie rollt das Misstrauen gegenüber der mittleren Schwester Romi auf, die eigentlich ja gar nicht so richtig zur Familie gehört, so als Adoptivkind. Sie beleuchtet Szenen von davor und danach, die ihr Bild zu bestätigen scheinen, dass Kinder grausam sein können. Stück für Stück rollt sie dabei aber auch eine dysfunktionale Familiendynamik auf, die jetzt auf ihr eigenes Erzeihungsverhalten überzuschwappen und die Beziehung zu ihrem eigenen Kind zu zerstören droht. Die Beklemmung greift beim Lesen regelrecht über und man möchte geradezu eingreifen, wenn Pia wieder in ihr Misstrauen gegenüber ihrem eigenen 7-jährigen Kind abgleitet und mit Argusaugen nach verräterischen Anzeichen Ausschau hält. Können Kinder von Natur aus böse sein? Sie vermeint, Ähnlichkeiten zwischen Luca und Romi zu erkennen und hat nicht ihre eigene Mutter immer wieder Romi für den Tod der kleinen Schwester bestraft? Das muss doch gerechtfertigt gewesen sein? Wie Pia dieses Verhalten ihrer Mutter zunehmend an ihrem eigenen Kind nachahmt, ist beim Lesen schwer erträglich. Die Geschichte beginnt als alltägliche Familiengeschichte und wird zunehmend düsterer und beklemmender. Die Wirkung transgenerationaler Traumata ist sehr eingängig nachgezeichnet. Ich schwanke allerdings, ob mich Lucas Vergehen als Auslöser komplett überzeugt. Zumindest die Eskalation der Handlung erschien mir am Ende etwas übertrieben und nicht ganz realistisch. Insgesamt ist die Geschichte aber atmosphärisch, sprachlich überzeugend und anschaulich und die Problematik mit psychologischem Tiefgang und Feingefühl erzählt.

Bewertung vom 28.08.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Ein exquisit gewobenes Märchen von Flüssen und Menschen

Was verbindet einen brutalen Herrscher des blühenden Mesopotamiens des 7. Jahrhunderts vor Christus mit einem armen britischen Jungen an der Themse im Jahr 1840, einem neunjährigen ezidischen Mädchen am Tigris im Jahr 2014 und einer Hydrologin in London im Jahr 2018? Sie alle verbindet ein einzelner Wassertropfen, immer derselbe, der vom Himmel fällt, irgendwann, manchmal Jahrzehnte später, verdunstet und wieder zur Erde fällt. Kann er sich erinnern an die Schicksale, die er bezeugt hat? Hat Wasser ein Gedächtnis?

Zumindest hat Wasser eine Bedeutung und noch dazu eine große und vielfältige. In diesem mitreißenden Roman, der die Lebensgeschichten des Jungen Arthur, des Mädchens Narin, der jungen Frau Zaleekha und des alten Mesopotamiens miteinander verwebt, spielen vor allem Flüsse eine zentrale Bedeutung. Aus James' Perspektive erleben wir eine Themse, die durch menschliche Abfälle regelrecht lebensfeindlich geworden ist. Aus Narins Sicht verfolgen wir mit, wie durch die Stauung des Tigris die historische Stadt Hasankeyf und mit ihr die Geschichte eines Volkes untergeht. Und von Zaleekha erfahren wir, dass in den Städten Europas vergessene Flüsse existieren, über die einfach darübergebaut oder die eingemauert wurden. Und doch ist dieses Buch mehr als die Geschichte von Flüssen, auch wenn diese eine zentrale Rolle einnehmen. Denn ein weiteres zentrales Thema kristallisiert sich beim Lesen bald heraus: die Geschichte der Eziden und ihrer Verfolgung. Schon Arthur wird in den 1870ern auf seinen Reisen zum antiken Castrum Kefa, wo er auf der Suche nach verschollenen Stücken des Gilgamesch-Epos' ist, vor den "Teufelsanbetenden" gewarnt, die in dieser Region leben sollen. Mehr als zwei Jahrhunderte später vernimmt Narin diese Schmähung am Ufer des Tigris. Wenige Wochen später findet sie sich im Sindschar-Gebirge wieder, umzingelt von IS-Anhängern. Wenige Jahre später hadert Zaleekha mit ihrer eigenen Herkunft aus dieser Gegend und hat ein zwiegespaltenes Verhältnis zu Wasser.

Es fällt nicht leicht, dieses Buch zu beschreiben. Es ist ein exquisit gewobenes und verwobenes Märchen aus unterschiedlichen Handlungssträngen, die zunächst wenig miteinander verbunden scheinen. Und doch ist jede Geschichte für sich selbst fesselnd und emotional anrührend. Auf den ersten Seiten habe ich zwar mit dem Buch noch gefremdelt, da die Abschnitte jeweils recht kurz sind und ich zunächst nicht in die einzelnen Geschichte gefunden habe. Danach konnte aber auch mich der Strom mitreißen, das erzählerische Geschick ergreifen und die Handlung absolut überzeugen. Shafak hat eine Erzählung geschaffen, die einem beim Lesen so vieles gibt und gleichzeitig ohne erhobenen Zeigefinger auf die verzweifelte Lage einer Minderheit aufmerksam macht, die auf eine unglaublich lange Geschichte zurückblicken kann. Dieses Buch ist meiner Meinung nach ein Meisterwerk, sowohl inhaltlich als auch stilistisch, das die Vergänglichkeit der Menschheit und der Erinnerung grandios herausstellt.

Bewertung vom 25.07.2024
Unter dem Moor
Weber, Tanja

Unter dem Moor


sehr gut

Frauenschicksale über die Zeit hinweg, atmosphärisch, aber nicht immer spannend

Nina braucht eine Auszeit. Die Stelle als Assistenzärztin hat sie völlig ausgebrannt. Aus einem Impuls heraus schafft sie sich einen Hund an und mietet für 4 Wochen eine Ferienhütte im Stettiner Haff. Bei einem Waldspaziergang gräbt der Hund menschliche Knochen aus und Nina beginnt, ihre Umgebung mit anderen Augen zu sehen.
1979 lebt Siggi mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Säuglingsalter im Stettiner Haff. Es ist die Zeit der DDR. Hat sich Siggi bislang nicht viel dabei gedacht und sich immer wieder angepasst, beginnt sie nun mit einer Freundin gemeinsam kleine Freiheiten zu genießen, die sie das politische System in Frage stellen lassen.
1936 wird die 14jährige Gine zum Landjahr ins Stettiner Haff geschickt. Das ist nicht etwa eine Belohnung, denn Gine wird wegen ihrer künstlerischen Eltern zur Umerziehung geschickt. Trotz seiner schönen Natur hält das Haff viel Dunkles für Gine bereit.

"Unter dem Moor" verbindet die Geschichten dreier Frauen über verschiedene Zeiten und Gesellschaftssysteme hinweg. Dabei begehren alle in der ein oder anderen Form gegen ihre Lebensumstände auf. Relativ schnell baut der Erzählstil eine eher düstere Atmosphäre auf und die Autorin weiß durch Details wie ein Tellereisen und das Zucken eines Hundeohrs eine bedrohliche Stimmung aufzubauen. Die Naturbeschreibungen entschleunigen, aber tragen auch gut zur Atmosphäre von Ninas Handlungsstrang bei. Erst nach und nach zeigen sich die Zusammenhänge, die man zwischenzeitlich vielleicht anders angenommen hat. Hier zeigt sich, wie Menschen und Schicksale über die Zeit hinweg verbunden sein können. Auch wenn der Stil atmosphärisch und bildhaft ist, die Geschichten auf den einzelnen Zeitebenen interessant und die Verknüpfungen gut gelungen sind, hat mich das Tempo nicht immer bei der Stange halten können. Die Figuren sind gut ausgearbeitet und vielschichtig, mir hat es aber wiederholt an Spannung gefehlt. Bei "Unter dem Moor" handelt es sich entgegen meiner Erwartung weniger um einen Kriminalroman als vielmehr um einen belletristischen Roman.

Bewertung vom 25.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


gut

Roman mit mehreren Bedeutungsebenen und viel Interpretationsspielraum

Sam und Elena leben auf San Juan Island im Bundesstaat Washington, an der Grenze zu Kanada. Wo vor allem Besserverdienende ihren Urlaub machen, bieten sich für die Schwestern abseits des Tourismus wenig Verdienstmöglichkeiten oder Zukunftsperspektiven. So arbeitet Sam auf einer Fähre und Elena im örtlichen Golfclub. Beide hängen auf der Insel fest, da sie seit über 10 Jahren die schwer kranke Mutter pflegen. Als Sam eines Abends beobachtet, wie ein Bär zu ihrer Insel schwimmt, ändert sich für die beiden Schwestern alles. Die eine Schwester entwickelt Furcht, die andere eine Obsession.

Ich bin mit großen Erwartungen an diesen Roman herangegangen. Ich mag natur- und tierbezogene Romane und war gespannt auf die Geschichte um diesen Bären. Das Buch ist jedoch so ganz anders. Es geht nicht wirklich um den Bären und seine Lebensweise, obwohl er in der Geschichte eine zentrale Rolle übernimmt. Der Bär ist aber vor allem Projektionsfläche für die innerfamiliären Konflikte. Für Elena stellt er einen Glücksbringer in ihren tristen Leben dar und verkörpert alles Gute, was den Schwestern von jetzt an passieren wird. Im Umgang mit dem Bären zeigt sich symbolisch der Umgang der Menschen mit der Wildness: entweder ein Versuch, aus einem wilden Tier ein Haustier zu machen oder eine übertriebene Angst und Verteufelung als Bestie und damit ein Zerstörungswunsch. Zwischen den Szenen der Familiengeschichte schimmert zudem einiges an Gesellschaftskritik durch an einer Gesellschaft, in der die Krankheit eines Familienmitglieds den finanziellen Ruin der gesamten Familie bedeutet. Sam und Elena müssen schon früh die finanzielle Versorgung übernehmen, sodass ihnen wenig Möglichkeiten bleiben, eine Ausbildung oder sogar ein Studium aufzunehmen. Stattdessen türmt sich der Schuldenberg immer höher, nicht zuletzt, weil durch die Coronapandemie der Tourismus zum erliegen kam. Nachdem die Geschichte lange Zeit vor sich hin dümpelt und die Natur- und Tierbeschreibungen eher oberfächlich bleiben (und mich dadurch auch nicht fesseln konnten), überschlagen sich am Ende die Ereignisse und man hat das Gefühl, an der ein oder anderen Stelle wesentliche Hinweise verpasst zu haben. Mein zwiegespaltenes Verhältnis zu diesem Buch stammt aber auch von den Figurbeschreibungen und -entwicklungen. Sam wird immer egoistischer und kindischer, dabei soll sie Ende zwanzig sein. Gleichzeitig ist sie sehr bedürftig und abhängig von ihrer Schwester. Elena hingegen hütet ihre eigenen Geheimnisse, die die Beziehung der Schwestern belasten. Letztlich war mir keine der Figuren wirklich sympathisch oder boten Identifikationsmöglichkeiten. "Cascadia" ist deutlich angelehnt an das Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot", ist aber keine direkte Neuerzählung. Ich denke, dieses Buch ist sehr gut geeignet für Lesekreise, es bietet viele Szenen zum diskutieren und interpretieren, was hier nicht möglich ist, ohne zu spoilern.

Bewertung vom 11.07.2024
Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1
Nore, Aslak

Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1


sehr gut

Weniger Thriller, mehr Familienroman

Die Falcks sind keine harmonische Familie. Da gibt es den Zweig um Olav Falck, der sich in Norwegen ein Imperium aufgebaut hat. Und dann gibt es da den verarmten Familienzweig in Bergen um den humanistischen Arzt Hans Falck, der fast schon ein Engel der Verfolgten in Krisengebieten, vor allem im Nahen Osten, ist. Als Vera Falck, die Großmutter, stirbt, ist das Testament nicht auffindbar. Es gibt Gerüchte, dass sie es kurz vor ihrem Tod geändert habe. Könnte sie den Bergenser Familienzweig bedacht haben? Sasha wird von ihrem Vater Olav beauftragt, das Testament zu finden. Dabei kommt ans Licht, dass Vera, eine bekannte Schriftstellerin und Überlebende eines Schiffuntergangs, Jahrzehnte zuvor ihre Memoiren geschrieben hat, die jedoch vor der Veröffentlichung vom Staatsschutz beschlagnahmt wurden. Sasha ist entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, selbst wenn sie sich dafür gegen ihren Vater auflehnen muss ...

Dieses Buch wird als literarischer Thriller ausgewiesen. Ich bin mir nicht sicher, was das sein soll. Für mich hat das Buch etwas zu wenig Spannung, um als Thriller durchzugehen. Es ist eher ein Familienroman, der weitere Elemente enthält. Neben der Lebensgeschichte von Vera, die im Zentrum steht, spielen auch der norwegische Geheimdienst und der ein oder andere Söldner eine Rolle. Außerdem ist die Familiengeschichte eng verbunden mit dem norwegischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg. Auch wenn es nicht die Spannung eines Thrillers hatte, war das Buch dennoch fesselnd, mit der ein oder anderen Überraschung. Es wird eine Vielzahl an Themen aufgemacht, die dennoch recht gut zusammenpassen. Neben dem historisch belegten Untergang der Prinsesse Ragnhild geht es um Kollaboration mit und Widerstand gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg, Fremdkämpfer in Syrien und Kurdistan, aber auch die unbändige Macht und den uneingeschränkten Einfluss von Reichtum. All das verwebt sich zu einem Gesamtbild, wobei die Rolle einzelner Personen noch nicht ganz durchschaubar ist und dadurch offensichtlich noch Raum bleibt für die geplanten Fortsetzungen. Mich hat das Buch gut unterhalten und mit den Figuren ließ sich mitleiden und mitfiebern. Garniert wurde das Ganze mit Naturbeschreibungen der norwegischen Küste und der Lofoten. Das Buch ist auf jeden Fall eine Empfehlung für Norwegen-Fans, aber auch für Fans von Familiengeschichten mit historischen Bezügen. Ich bin ausreichend gespannt zu erfahren, wie es mit den Falcks weitergeht, um auch den nächsten Band lesen zu wollen.

Bewertung vom 13.06.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Kleines Buch mit großer Wucht

Jimmy verbringt die dröge Zeit der Sommerferien mit Sammeln und Suchen. Er versteht sich als ehrlicher Finder und sucht die Automaten des Ortes nach vergessenem Wechselgeld ab, damit er sich damit diverse Chipssorten kaufen kann, in denen seine heißgeliebten Flippos drin sind. Er hat eine wichtige Mission, denn er sammelt nicht nur für sich selbst, sondern auch für seinen Freund, dessen Eltern sich nur die No-Name-Chips leisten können. Denn Jimmys Freund Tristan ist eines von acht Kindern der albanischen geflüchteten Familie Ibrahimi. Als der Asylantrag der Ibrahimis abgelehnt und sie zur Ausreise aufgefordert werden, fassen die Kinder einen Plan ...

Diese Geschichte mit ihren nicht einmal 130 Seiten zieht einen mitten hinein in die tragische Geschichte einer ungleichen Freundschaft. Jimmy war Außenseiter bis Tristan in die Klasse kam. Tristan konnte kein Wort der neuen Sprache und kannte sich in Belgien nicht aus. So gibt diese Freundschaft den beiden Kindern unterschiedliche Dinge und mit unterschiedlichen Motiven sind sie nun Teil dieses Plans, der die Abschiebung der Ibrahimis verhindern soll. Eindringlich zeigt die Autorin in kleinen, wenig voyeuristischen oder sensationsgierigen Szenen, wie Krieg und Flucht alle Mitglieder der Familie geprägt haben. Aber auch die unbändige Hilfsbereitschaft des Ortes wird spürbar, von einer Bevölkerung, die die Abschiebung nicht hinnehmen will. Vor allem Jimmys Innenleben wird hier beleuchtet und die Hoffnungen, die er in die Freundschaft steckt, denn viel anderes hat er nicht. Durch ihn erlebt man die Familie und mit welchen Traumata sie zu kämpfen haben. Eine Geschichte, die ganz nah dran ist an der Lebensrealität zahlreicher Familien in Europa. Für mich ist es aber auch eine Geschichte, die durchaus hätte länger sein können. Sie verfehlt ihre emotionale Wirkung nicht, hätte aber noch stärker wirken und einen noch tiefer hineinziehen können. Gerade das sehr abgekürzte Ende lässt die Geschichte noch etwas skizzenhaft wirken. Insgesamt zeigt die Autorin aber ein weiteres Mal, dass sie sehr gut schreiben und ein Thema tiefgründig und menschlich vermitteln kann.

Bewertung vom 11.06.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Die Geschichte der Mütter

Issa ist auf dem Weg nach Kamerun. Eigentlich will sie da nicht hin, aber ihre Mutter hat ihr stark zugesetzt, dass sie, jetzt wo sie schwanger ist, noch die traditionellen Rituale vollziehen muss. Also reist Issa zu ihrer Verwandschaft, für die sie immer zu weiß ist, während sie in Deutschland immer zu schwarz bleibt. Und so wird dieser Familienbesuch unerwartet zu einer Suche nach Identität, Zugehörigkeit und den eigenen Platz im Leben.

"Issa" ist ein eindrucksvoller Debütroman, der von mehreren Frauengenerationen aus Issas Familie handelt, die jedoch beispielhaft für viele Familien stehen können. Während Issa die Merkwürdigkeiten über sich ergehen lässt, denen ihre Familie noch anhängt und denen sie mit ihrem westlichen Blick wenig abgewinnen kann, springt die Geschichte regelmäßig in der Zeit zurück zu den vorangegangenen Muttergenerationen, beginnend bei Issas Ururgroßmutter im Jahr 1906, als Kamerun unter der Kolonialherrschaft Deutschlands stand. Wie sich dieser Kolonialismus bis heute auswirkt, erfährt man Stück für Stück durch die Geschichte der Mütter und Großmütter.
Mit Humor und Ironie kommentiert Issa zunächst die verschiedenen Rituale und Weltanschauungen, doch zunehmend lässt sie sich darauf ein und beginnt zu verstehen. Parallel lernen auch die Lesenden sehr viel über Kamerun, seine vielen Völker und Clans, und die Kultur. Im Vordergrund steht dabei das Schicksal der Frauen, die wiederholt als Eigentum betrachtet und behandelt werden, sich oft den Mann mit anderen Ehefrauen teilen müssen, viel Leid erfahren und über ihr Leben hinweg unglaubliche Stärke zeigen. Nicht immer gelang es mir dabei, den einzelnen Frauen genau zu folgen, da einige Schicksale deutlicher im Fokus stehen und andere schneller und kürzer abgehandelt werden. Das machte es mir nicht immer einfach, die Schicksale auseinander zu halten. Dennoch sind mir während des Lesens die Figuren ans Herz gewachsen, ich habe mitgelitten und mitgefiebert und bin ich eine für mich völlig fremde Welt eingetaucht. Mit "Issa" ist der Autorin ein grandioses Buch über Identitätssuche, Rassismus und Kolonialismus gelungen, das einem eine fremde Kultur und völlig andere Lebenslinien erfahrbar macht.

Bewertung vom 11.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


ausgezeichnet

Eindrucksvolle Schnitzeljagd durch ein von Bürgerkrieg gebeuteltes Land

Saba ist noch ein Kind als er mit seinem Vater und seinem zwei Jahre älteren Bruder vor dem Bürgerkrieg in Georgien nach England flieht. Doch das Geld reicht nicht für die Mutter. Jahrelang müht sich der Vater ab, doch es kommt nie genug Geld zusammen, um die Mutter nachzuholen. Weitere Jahre später macht sich der Vater auf die Suche nach der Mutter und reist nach Georgien. Als seine Kommunikation abbricht, reist der ältere Bruder Sandro ebenfalls nach Georgien, doch auch seine Lebenszeichen bleiben aus. Sowohl Vater als auch Bruder haben eine Brotkrumenspur hinterlassen und so entschließt sich Saba, trotz Warnungen dieser Spur in Georgien folgen.

Nicht nur die Brotkrumenspur verbindet diese Geschichte mit der Märchenwelt. Saba und Sandro lieben Literatur und ihre Kindheitserinnerungen bestehen unter anderem aus einer Mutter, die ihnen Märchen erzählt. So sind auch die Hinweise, die Sandro hinterlässt, immer wieder Märchen entlehnt und führen Saba auf eine Schnitzeljagd durch das unbekannte Heimatland. Auch die Stimmung der Geschichte ähnelt oft einem düsteren Märchenwald, wenn Saba beispielsweise durch den dunkelnden Stadtpark läuft, während die Sicherheitsbehörden die nach einer Flut entlaufenen Zootiere suchen, unter denen sich auch Wölfe und Tiger befinden. Und dennoch bleibt die Stimmung nicht durchweg düster, sondern vermittelt oft auch Leichtigkeit und Lesespaß. Saba trifft bereits bei seiner Ankunft am Flughafen in Tbilissi auf den Taxifahrer Nodar, zu dem sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Die beiden frotzeln miteinander herum und vermitteln dadurch eine eigene Art von Humor. Dabei verkörpert Nodar die gute georgische Seele und das Sprichwort "Ein Gast ist ein Geschenk". Über Nodar erfährt man beim Lesen viel über die Gepflogenheiten in Georgien und dadurch, dass Saba das Land so jung verlassen hat, muten Nodars Erklärungen auch nicht konstruiert an.
Das Buch hat jedoch auch eine sehr ernste Seite, denn Georgien ist geprägt von einem Bürgerkrieg und die überwunden geglaubten sowjetischen Machtstrukturen bestehen fort, der Machtapparat ist durchzogen von Korruption, Einschüchterung und Gewalt. Auch der anhaltende Konflikt mit Russland, welcher dem Buch eine aktuellpolitische Dimension gibt, klingt immer wieder an, besonders im Alltag der Figuren. Fast alle haben im Bürgerkrieg Verluste erlitten, so bekommt auch Nodar abseits der Clownereien eine tiefere, traurige Dimension. Auch Saba wird durch die Geister seiner Verlorenen, die regelmäßig und teilweise zu den ungünstigsten Zeitpunkten mit ihm sprechen, immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Einige davon sind lauter als andere. So hat das Buch passend zum Märchenthema noch Elemente magischen Realismus`.
Das Buch wechselt hin und her zwischen leichten und teils skurrilen Momenten, Spannung und berührenden Emotionen. Saba muss die Leute überlisten, die hinter seinem Vater, seinem Bruder und nun auch ihm her sind. Dadurch bekommt das Buch Züge eines Schelmenromans. Am Ende verfliegt diese Leichtigkeit und die Nachwirkungen des Bürgerkriegs kommen noch einmal eindringlich zur Geltung, wenn Saba in das immer noch umkämpfte Ossetien reist.

Mit diesem Buch bekommt man einen unterhaltsamen, berührenden und nachdenklich machenden Eindruck eines Landes, von dem man abseits der tagesaktuellen Nachrichten wenig weiß und welches noch immer von Konflikten mit Russland geprägt und teilweise traumatisiert ist. Vermittelt wird dies über einen sympathischen Protagonisten, der ähnlich wenig weiß über sein Herkunftsland und mit dem man auf eine eindrucksvolle Reise in einem klapprigen Wolga geht, die ein großes Lesevergnügen und viel Verständnis beschert.