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Bellis-Perennis
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Wien

Bewertungen

Insgesamt 851 Bewertungen
Bewertung vom 04.09.2024
Wiener Herz am Sternenbanner
Kaufmann, Ernst

Wiener Herz am Sternenbanner


ausgezeichnet

Ernst Kaufmann, der als Autor von Kriminalromanen bekannt ist, hat mit dieser Biografie den Komponisten Bruno Granichstaedten (1879-1944) aus der Vergessenheit geholt.

Viele Leser werden denken, Bruno Granichstaedten?, nie gehört.

Bruno Granichstaedten war ein gefeierter Komponist jüdischer Abstammung aus Wien. Schnell wird klar, dass der Knabe musikalisch ist und erhält Klavierunterricht unter anderem von Anton Bruckner (1824-1896), dessen 100. Geburtstag aktuell gefeiert wird.

Ernst Kaufmann erzählt detailliert und pointiert aus Granichstaedtens Kindheit und Jugend sowie über die ersten Erfolge als Komponist, spart aber die eine oder andere Enttäuschung nicht aus. Der junge Granichstaedten hat viel Erfolg bei den Frauen, weshalb Privatleben mitunter ein wenig turbulent ist.

Nach der Machtübernahme der Nazis glaubt er, wie so viele andere jüdische Bewohner Österreichs, seine Teilnahme als Soldat im Ersten Weltkrieg sowie seine Bekanntheit können ihn retten, zu mal er ja katholisch getauft war. Während seine Tochter Johanna geradezu prophetisch die Gräuel des Regimes erkennt und 1938 in die USA emigriert, schafft es Bruno 1940 mit seiner aktuellen Lebenspartnerin und Sängerin Rosalie Kaufmann (1910-1979) gerade noch rechtzeitig nach Amerika. Sein Sohn Felix aus erster Ehe wird von der Gestapo abgeholt und 1943 ermordet.

Obwohl Granichstaedten einige Empfehlungen hat, kann er in Amerika nicht Fuß fassen. Zum einen hat er in den zahlreichen anderen geflüchteten jüdischen Komponisten, die es schon viel früher nach Amerika verschlagen hat, eine große Konkurrenz und zum anderen findet seine Musik nicht den Anklang wie erwartet.

Der herzkranke Bruno Granischstaedten stirbt am 30. Mai 1944 in New York.

Meine Meinung:

Ernst Kaufmann, dessen Vater der Bruder von Rosalie Granichstaedten-Kaufmann ist, hat hier eine lebendige Biografie des Komponisten geschrieben. Der Schatten, der durch die NS-Diktatur über Europa liegt, ist auch im Schreibstil zu finden. Die ersten Kapitel sind leicht und locker zu lesen. Bruno Granichsstaedten komponiert zahlreiche eingängige Melodien und hat mit seinen Operetten großen Erfolg. Nach und nach verdüstert sich Leben und Erzählung. Jüdische Musik ist nicht mehr gefragt und wird verboten, weshalb Granichstaedtens Einkommen stetig schrumpft. Er will Österreich respektive Deutschland, wie so viele seiner jüdischen Zeitgenossen, nicht verlassen. Seine Tochter Johanna (aus der Ehe mit Selma) hat hier den größeren Weitblick.

Die Jahre der Flucht in Luxemburg und die spätere Emigration in die USA haben wenig von der Leichtigkeit der Worte aus dem ersten Teil der Biografie gemein. So wie Granichstaedten als Person in eine Depression rutscht, wirkt auch die Schilderung seiner letzten Lebensjahre. Die Leichtigkeit der Zwischenkriegszeit mit Granichstaedtens Erfolgen ist verklungen.

Ernst Kaufmann, der selbst Musik studiert hat, beschreibt detailgetreu die Arbeit des Komponierens, die bei Grnaichstaedten oft bis zur Erschöpfung ging. Einmal im Flow, kann er nicht aufhören.

Das Buch enthält nicht nur die Beschreibung der wesentlichen Stationen von Bruno Granichstaedtens Leben, sondern auch zahlreiche Fotos aus seinem Nachlass, ein Werkverzeichnis, das die Vielseitigkeit des Künstler darstellt sowie Ausschnitte aus Zeitungskritiken, die in kursiver Schrift gehalten, sich vom übrigen Texte abheben und eine Zeittafel. Gut gefallen mir die Kurzbiografien von Bruno Granichstädtens Weggefährten wie Taufpate und Volksschauspieler Alexander Girardi, Komponist Anton Bruckner, Schriftsteller Frank Wedekind oder die Brüder Hubert und Ernst Marischka, die in der Nachkriegszeit mit den „Sissi-Filmen“ bekannt werden.

Im Vorwort würdigt Prof. Herbert Prikopa (1935-2015), selbst Künstler, Sänger und Kabarettist, Bruno Granischstaedten als großen Künstler.

Fazit:

Gerne gebe ich dieser detaillierten Biografie des vielseitigen Künstlers Bruno Granichstaedten, der auf Grund seiner jüdischen Herkunft, im deutschen Sprachraum verfemt und zur Flucht getrieben worden ist, 5 Sterne.

Bewertung vom 03.09.2024
Benkos Luftschloss
Hucko, Margret;Noé, Martin

Benkos Luftschloss


ausgezeichnet

Chronik eines steilen Höhenfluges und tiefen Falls

Margret Hucko und Martin Noé, beides erfahrene Wirtschaftsjournalisten liefern eine fundierte und detaillierte Analyse jener Ereignisse, die den steilen Aufstieg eines Schulabbrechers, der mit den Schönen und Reichen auf gleicher Höhe stehen wollte bis hin zu seinem nicht minderen tiefen Fall. Längst sind nicht alle Verstrickungen und Malversationen bekannt, denn derjenige, der das undurchsichtige Firmenkonglomerat erschaffen hat, hüllt sich in Schweigen und leidet an einem selektiven Gedächtnisverlust, der ausgerechnet diese Details betrifft. Die Rede ist von René Benko und seiner Signa-Gruppe, deren Insolvenz nicht nur in Österreich sondern weltweit Baufirmen und Geldgeber zittern. Der stets verwendete Satz „Für ihn gilt die Unschuldsvermutung“ mag angesichts des Schadens, den Benko angerichtet hat, zynisch klingen.

Das in 22 Kapitel aufgeteilte Buch, beleuchtet zu Beginn den kometenhaften Aufstieg des Selfmade-Mannes aus Tirol. Dazu werden (ehemalige) Freunde und Weggefährten befragt.

Es ist erstaunlich, wie viele gewiefte Geschäftsleute, wie Bauunternehmer Hans-Peter Haselsteiner, Unternehmer Klaus-Michael Kühne oder Torsten Toeller auf diesen Scharlatan hereinfallen konnten. War es die Gier nach noch mehr Rendite? Und welche Rolle spiel(t)en die Wirtschaftsprüfer? So unabhängig wie man glaubt sind die ja doch nicht, denn sie werden von der zu prüfenden Firma beauftragt....

Vieles ist noch ungeklärt, vor allem wo das Geld geblieben ist, was mit den Immobilien und Baustellen passiert und wie es sein kann, dass eine derartige Firmenkonstruktion, in der lauter Kleinfirmen, die keine Bilanzen legen müssen, unter dem Radar der Finanz laufen konnte. Vieles wird vor Gericht geklärt werden müssen. Der einzige, der hier Licht ins Dunkel bringen könnte, ist René Benko. Doch der schweigt eisern.

Eines ist jedenfalls klar: zahlreiche Unternehmer und Kommunen haben sehr viel Geld verloren und emotionalen Niederlagen erlitten. Vielleicht werden sie in Zukunft ein weniger vorsichtig agieren, wenn es darum geht, ihr Vermögen zu investieren.


Meine Meinung:

Das Autoren-Duo versteht es ausgezeichnet, die komplexen wirtschaftlichen und rechtlichen Aspekte der Signa-Insolvenz so aufzubereiten, dass sie auch für Laien verständlich und spannend sind.

An manchen Stellen scheint das Buch sehr detailliert auf die juristischen und finanziellen Aspekte der Insolvenz einzugehen. Das könnte auf den einen oder anderen Leser etwas trocken wirken. Andererseits sind diese diese Details für das Gesamtverständnis des Insolvenz der Signa-Holding notwendig.

Die Autoren schaffen es, die komplexen Sachverhalte rund um die Insolvenz der Signa-Gruppe so darzustellen, dass sie auch für Leser ohne wirtschaftlichen Hintergrund gut nachvollziehbar sind. Gleichzeitig gelingt es ihnen, die dramatischen Entwicklungen mitreißend zu schildern, sodass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte. Noch ist nicht abzuschätzen, welche Langzeitfolgen diese Pleite haben wird.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem Buch, das den steilen Aufstieg und tiefen Fall des Selfmademan René Benko beleuchtet, 5 Sterne.

Bewertung vom 01.09.2024
Hinterm Horizont geht's weiter
Haider, Lars

Hinterm Horizont geht's weiter


ausgezeichnet

Als die Zeitung Hamburg News einen neuen Chefredakteur bekommt, brechen für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen neue und harte Zeiten an. Ein Großteil von ihnen wird per email gekündigt, auch wenn sie schon 20 oder mehr Jahre in dem Unternehmen gearbeitet haben. Einige fallen daher in ein tiefes Loch, zumal von der Eigentümerseite keinerlei Unterstützung zu erwarten ist. Dort hat man nur die Dividende im Kopf. Auch die Ressorts werden neu zugeteilt und die Zeitung driftet vom Qualitätsjournalismus in die Richtung eines Krawallblattes.

Lukas Hammerstein, der zahlreiche Prominente der Hamburger High Society kennt, soll eine Reihe von Homestories schreiben. Freude kommt hier keine auf. Dabei geht es ihm noch besser als seiner Kollegin, der Polizeireporterin Kaja, die ab sofort nur mehr über Hauben-Köche und solche die es werden wollen berichten soll.

Sowohl Lukas als auch Kaja gehen ziemlich unwillig an ihre neuen Aufgaben heran, bis, ja bis sie erfahren, dass der eine oder andere von Lukas‘ Gastgebern einem schnöden Haushaltsunfall zum Opfer gefallen ist. Ein Millionär der selbst Glühbirnen tauscht? Oder einer, der in seiner Küche einen Topf mit siedend heißem Wasser fällt? Klingt ein wenig unwahrscheinlich. Daher beginnen Lukas und Kaja heimlich zu ermitteln.

Als der Chefredakteur vom Ableben der reichen Männer erfährt, konstruiert er daraus einen Serienmörder. Zusätzlich erhält Lukas von ihm eine Liste von Personen, die er interviewen soll. Sind das nun potentielle Opfer?

Es dauert eine geraume Weile bis Lukas und Kaja herausfinden, was die Toten, die nun auch die Hamburger Polizei in Atem halten, verbindet.

Meine Meinung:

Dieser Krimi ist der dritte aus Lars Haiders Feder, wobei mir der zweite irgendwie durch die Lappen gegangen ist.
Geschickt führt uns der Autor in die Welt des Finanzadels der Hanseaten ein.

Wie schon in den anderen Teilen dieser Reihe spielen Dackelin Finchen und Udo Lindenberg eine tragende Rolle.

Die Reihe punktet durch die Auftritte von Udo Lindenberg, diesmal ein wenig seriöser, sowie durch die Kulisse der Hansestadt. Ich bin ja ein Fan von beiden, daher vielleicht ein wenig befangen, was mein Urteil angeht.
Der Krimi liest sich leicht und locker, hat aber mit seinem Einblick in die Welt der Zeitungen einen ernsten Hintergrund. Man hört immer wieder von Zeitungen, die ihre Chefredakteure austauschen, die dann eine radikale Umstrukturierung vornehmen. Welche Dramen sich dahinter verbergen wird oft nicht bekannt.

Auch der Titel dieses nun mehr dritten Krimis stammt aus einem Song von Udo Lindenberg, diesmal „Horizont“.

Fazit:

Ein lockerer Krimi, der uns hinter die Kulissen von Hamburgs Reichen und Mächtigen blicken lässt. Gerne gebe ich hier 5 Sterne.

Bewertung vom 01.09.2024
111 Orte, die von deutscher Geschichte erzählen
Nestmeyer, Ralf

111 Orte, die von deutscher Geschichte erzählen


ausgezeichnet

Ralf Nestmeyer, den meisten von uns als Autor von Reiseberichten und Krimis bekannt, stellt uns in Rahmen der 111er-Reihe aus dem Verlag Emons 111 Orte vor, die deutsche Geschichte schrieben. Ein Überblick, der natürlich nicht vollständig sein kann und will.

Es ist nicht leicht, aus der langen Geschichte Deutschlands „nur“ 111 Meilensteine auszusuchen. Die Auswahl ist natürlich subjektiv. Ich hätte ein paar andere gewählt, da ich als Österreicherin naturgemäß einen anderen Blick auf Deutschland habe.

Ralf Nestmeyer ordnet seine ausgewählten Orte chronologisch, soweit dies möglich ist.

Den Anfang macht die Schlacht im Teutoburger Wald (9 nach Christus), in der die Germanen unter Arminius den römischen Feldherrn Varus vernichtend geschlagen haben. Sein letzter, „Das Berghain“ in Berlin, der Mythos der Berliner Kultszene. Dazwischen liegen 2.000 Jahre Krieg und Frieden sowie Kultur und Subkultur. Dass Berlin mit 14 Nennungen ein Schwergewicht ist, liegt an der wechselvollen und interessanten Geschichte der ehemals geteilten Stadt

Es gibt auch fünf Orte an denen deutsche Geschichte geschrieben worden ist, die nicht in Deutschland liegen: Verdun (F/49), Auschwitz (PL/62), Bern (CH/71), Warschau (PL/91) und Prag (CZ/104).

Die meisten der vorgestellten Orte habe ich auf meinen literarischen Reisen bereits besucht. Gorleben (97) und Hoyerswerda (109) sowie Marktl (108) noch nicht. Ich denke, daran wird sich auch in Zukunft wenig ändern.

Zahlreiche andere unter diesen 111 habe ich schon persönlich besucht, da ich mich als Deutschland-Reisende oute. Augsburg, Berlin, Bremen und Bremerhaven (erst vor kurzem), Hamburg (immer wieder), Lübeck, Dresden, Nürnberg, Erfurt, Weimar, Köln und Dortmund.

Sehr beeindruckt hat mich die Führung in der alten Synagoge in Erfurt (5) oder die Stadt Weimar mit ihren Sehenswürdigkeiten wie das Goethe-Haus (20).

Jedenfalls bleiben noch zahlreiche andere Orte in Deutschland übrig, die ich demnächst besuchen werde.

Meine Meinung:

Ralf Nestmeyers Schreibstil macht Lust. die Koffer zu packen und an einen der angeführten Orte zu reisen. Wer abseits der ausgetretenen Touristenpfade wandeln möchte, dem seien die zahlreichen anderen Reiseziele der 111er-Reihe empfohlen.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem Buch, das einen Überblick über ausgewählte 111 Orte, in denen deutsche Geschichte geschrieben worden ist, 5 Sterne.

Bewertung vom 01.09.2024
Über Leben und Tod
Klenk, Florian

Über Leben und Tod


ausgezeichnet

Journalist Florian Klenk und Gerichtsmediziner Dr. Christian Reiter kennen einander schon sehr lange. Gemeinsam betreiben sie seit längerer Zeit einen Podcast, den ich persönlich noch (?) nicht kenne. Das Buch macht Lust, den Podcast zu hören.

Worum geht’s?

Um nicht mehr oder weniger, als um die Arbeit eines Gerichtsmediziners, der nicht nur nach der Todesursache forscht sondern auch Gerichtsgutachten abgibt, wenn es darum geht, Gewaltopfern vor Gericht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, was oft ander mangelnden Dokumentation durch nur unzureichend geschultes Personal in Polizeidienststellen und Notaufnahmen sehr schwierig ist. Hier beklagt Dr. Reiter, dass aus Einsparungsgründen nur mehr wenige Autopsien vorgenommen werden, was zur Folge hat, dass der eine oder andere nicht natürliche Todesfall unentdeckt bleibt. So wie es beinahe bei einem seiner spektakulären Fällen gewesen wäre: Elfriede Blauensteiner, die ihre betagten Opfer mittels Medikamenten sediert und dann Kälte ausgesetzt hat, so dass der Eindruck eines Todes an Lungenentzündung entstanden ist.

Daneben erfahren wir einiges über historische Kriminalfälle, gestohlene Köpfe und besuchen Dr. Reiter sowohl in öffentlichen als auch in seinem privaten Museen.

Natürlich darf auch der Werdegang des Doyen der Gerichtsmedizin Österreichs nicht fehlen. Wie er selbst launig erzählt, wollte seine Mutter nicht, dass er Veterinärmedizin studiert, denn „die Landtierärzte saufen alle“. So gesehen ein Glück für die Gerichtsmedizin.

Ein traumatisches Erlebnis ist für ihn die Arbeit in Bangkok, wo Reiter bei der Identifizierung jener Menschen, die beim Absturz der LaudaAir Maschine ums Leben gekommen sind, hilft. Die Selektion in nichtasiatische und asiatische Opfer (schwarzhaarig oder nicht) führt dazu, dass zahlreiche Tote nicht identifiziert werden und ein einem Massengrab bestattet werden. Auch das Abnehmen von Zahnabdrücken bleibt nur nichtasiatischen Opfern vorbehalten.

Dr. Reiter macht hier ganz profan auf die Schwierigkeiten der Hinterbliebenen aufmerksam, die nicht sicher sein können, dass ein Angehöriger wirklich tot und identifiziert ist.

Meine Meinung:

Das Buch ist sehr gut gegliedert, wenn auch nicht unbedingt chronologisch. An manchen Stellen wirkt es wie eine zwanglose Plauderei aus dem Nähkästchen, was wohl dem Format Podcast geschuldet ist. Das hat mir gut gefallen, denn so kann der Laie die Arbeit eines Gerichtsmediziners leichter verstehen und auch annehmen. Viele Angehörige wollen ja, warum auch immer, nicht, dass ihre toten Lieben aufgeschnitten und untersucht werden. Florian Klenk versteht es, die Informationen gut verständlich und ohne Voyeurismus, der manchen seiner Journalistenkollegen zu eigen ist, darzulegen.

Zahlreiche eingestreute Anekdoten über bekannte historische Todesfälle ergänzen das Buch. So bringt Reiter den Nachweis, dass einzelne Haare, die man Beethoven zuschreibt, doch nicht dessen Kopf geziert haben.

Sehr gut hat mir der Ausflug in die Medizingeschichte gefallen. Schmunzeln musste ich über das Kapitel „Herr der Fliegen“.

Ich hätte mir ein wenig mehr über die Arbeit und technische Details zur Ursachenforschung gewünscht. Aber das ist Meckern auf höchstem Niveau.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem Buch, das eine gute Mischung aus Medizingeschichte, Biografie sowie der Arbeit eines Gerichtsmediziners ist, 5 Sterne.

Bewertung vom 31.08.2024
Kalt fließt die Mosel
Reategui, Petra

Kalt fließt die Mosel


ausgezeichnet

Eine junge hochschwangere, zunächst unbekannte Frau wird sterbend am Fuße eines Abhang gefunden. Während das Kind, ein Mädchen, gerettet werden kann, stirbt die junge Mutter in den Armen der Hebamme Eleonore „Ello“ Wiesrath. Ello kümmert sich um das Neugeborene, das die Verstorbene im Tagebuch „Hummelchen“ nennt, und entdeckt an seinem Popo, blaue Flecken, die sie der Sturzgeburt zuordnet.

Wenig später wird bekannt, dass ein Mann im nahen Steinbruch erschossen worden ist. Zufall?

Der französische Besatzungssoldat Jean-Paul Gourriérec und der ehemalige Wasserbauer Max Buchheim, der nun als Hilfsgendarm Dienst tut, beginnen mit den Ermittlungen sowohl was die tote Frau als auch die Leiche vom Steinbruch betrifft.

Im nahegelegenen Kloster erfährt Ello den Namen der toten Frau, Ida Rempin, und erhält ihre Habseligkeiten, ein Tagebuch und Babysachen. Das heißt, Selbstmord kann ausgeschlossen werden. Als sich dann noch Zeugen finden, die Ida mit einem Mann streiten haben sehen, liegt nahe, dass hier jemand nachgeholfen hat. Nur wer? Der Ehemann? Ein Geliebter? Der vermeintliche Kindesvater?

Dann gibt es noch eine Nebenhandlung, die im französischen Kriegsgefangenenlager spielt. Hier soll Sanan, ein kalmückischer Kriegsgefangener, an die UdSSR ausgeliefert werden, weil er in der deutschen Wehrmacht gekämpft hat.
Der französische Lagerarzt, der mit der Geschichte der Kalmücken vertraut ist, händigt Sanan falsche Papiere aus und lässt ihn nach Koblenz überstellen, wo er als Simon auf ein paar andere Kalmücken trifft.

Wenig später treffen Max, Jean Paul und Ello dort ein, da der Tote aus dem Steinbruch vermutlich ein russischer Zwangsarbeiter war. Nun ist Simon/Sanan als Dolmetscher gefragt. Während die Männer sich besprechen, sieht Ello ein Kleinkind, das nur mit einem Hemdchen bekleidet ist und auf dessen Po blaue Flecken zu sehen sind und erinnert sich an einen Vortrag in der Hebammenschule: Blaue Flecken am Steiß sind sogenannte Mongolenflecke, eine Pigmentveränderung, die vornehmlich Asiaten besitzen.

Meine Meinung:

Ich habe diesen historischen Krimi mit großem Interesse gelesen. Zunächst bedeutet ja das Ende der NS-Herrschaft für viele ein Aufatmen. Doch im Sommer 1945 benützen einige die Tage des Machtvakuums, um ihre persönlichen Rechnungen zu begleichen. Das Zusammenspiel zwischen den französischen Militärbehörden und den neu eingesetzten deutschen Hilfskräften wird hier ziemlich harmonisch dargestellt. Ob das wirklich überall so war?

Sehr gut ist die Geschichte der Kalmücken in den Krimi eingearbeitet. Ich habe dazu auch noch ein bisschen recherchiert. Die Kalmücken (eigentlich Oiraten) sind ein ursprünglich mongolisches und buddhistisches Nomadenvolk. In der Stalin-Ära wurden ihre Priester verfolgt, getötet und die Tempel zerstört. Während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wurden die Kalmücken so wie andere Nomadenvölker gewaltsam in Städten und Dörfern zur Sesshaftigkeit gezwungen. Im Zweiten Weltkriegs erobert die deutsche Wehrmacht das kalmückische Gebiet. Einige tausend Männer kämpften anschließend an der Seite von NS-Deutschland gegen die Sowjetunion. Da sie Nachfahren von Dschingis Khan sind und daher, nach der Diktion der NS-Rassenlehre, keine russischen oder slawischen Untermenschen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezichtigte Stalin das gesamte Volk der Kollaboration und ließ die Menschen nach Sibirien deportieren.

Über den Mongolenfleck auf Hummelchens Popo musste ich sehr schmunzeln. Ich habe nämlich auch einen, der sogar in den medizinischen Geburtsbericht Eingang gefunden hat. Inzwischen ist er schon ziemlich verblasst. wenn man weiß, wo man suchen muss, kann man ihn erahnen. Gerüchten in meiner Familie zu Folge gibt es in der väterlichen, in Kärnten lebenden Zweig eine mongolische Urururgroßmutter.

Der Krimi ist komplex und in meinem Kopf ist ein mehrdimensionales Gebilde entstanden. Die Charaktere sind ausgefeilt und wirken glaubhaft in ihren Aktionen.

Gut gefällt mir, dass die Dorfbewohner so reden dürfen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Eine Übersetzung der Dialektpassagen findet sich im Anhang. Ebenso sind hier die jenen wenigen Dokumente und Quellen über die Kalmücken, die Petra Reategui ausfindig machen hat können, aufgelistet.

Ob es eine Fortsetzung gebe wird? Ich bin überzeugt, dass mehrere LeserInnen wissen wollen, wie es mit Ello, Hummelchen, Max und Sanan weitergeht.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem vielschichtigen Krimi aus der Nachkriegszeit 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 31.08.2024
Diagnose: Frau
Pingel, Christina

Diagnose: Frau


ausgezeichnet

„Ist Gesundheit eine Frage des Geschlechts?“

Christina Pingel stellt diese provokante Frage und erzählt ihre Geschichte.

Sie ist ist neun Jahre alt, als ihre Mutter durch ein nicht vollständig behandeltes Herzleiden klinisch tot aufgefunden wird. Die Reanimation ist erfolgreich, doch auf Grund des Herzstillstands ist sie schwerbehindert. Da der Ehemann mit der Pflege daheim überfordert ist, überstellt man sie in ein Pflegeheim, in dem sie einige Jahre später stirbt.

Wie sich wenig später zeigen wird, ist die Geschichte von Christinas Mutter auch Christinas Geschichte, selbst wenn die Ärzte das Gegenteil behaupten.

Denn als Christina bei sich ähnliche Symptome feststellt, wird sie als hysterisch hingestellt. Sie sei zu jung, für eine Herzerkrankung. Die Vorgeschichte ihrer Mutter wird nicht ernst genommen. Nach rund zehn Jahren, zahlreichen Panikattacken und einem inkompetenten jungen Mediziner in der Notaufnahme, lässt sie sich freiwillig für zwölf Wochen in die Psychiatrie einweisen. Bei einem Therapiegesprächsrunde, bei dem zahlreiche Ärzte hospitieren, ist jener Mann dabei. Sie erzählt von dem Vorfall in der Notaufnahme, was unter der Kollegen für Empörung sorgt. Diesmal wird eine PTBS festgestellt.

Um es kurz zu machen, nach einer schier endlosen Odyssee durch zahlreiche Ordinationen, gerät sie endlich an eine Kardiologin, die sie und ihre Beschwerden erstens ernst nimmt, und zweitens die richtige Diagnose stellt: Eine undichte Herzklappe, was zugegeben für Frauen Mitte dreißig eher selten ist.

Warum hat man den Herzklappenfehler, der vermutlich bereits seit ihrer Geburt besteht, nicht früher erkannt?

Wie wenig man sich mit dem jungen weiblichen Körper beschäftigt, merkt man auch, dass niemand fragt, in welchen Stadium ihres Monatszyklus‘ Christina sich am Vorabend der Operation befindet. Prompt wird sie wieder nach Hause geschickt. Erst im dritten Anlauf kann die Operation stattfinden, weil zuvor noch eines der wichtige Geräte defekt ist.

Auf ihrer langen Odyssee beschäftigt sich Christina Pingel vermehrt mit Gender Medizin, bzw. viel mehr mit dem Fehlen derselben. Medikament wurden und werden fast ausschließlich an Männern getestet.

Die eingangs gestellte Frage, ob Gesundheit eine Frage des Geschlechts ist, muss leider mit JA beantwortet werden.

Gender Medizin hat nichts mit Binnen-I oder Gender*Sternchen zu tun, sondern konzentriert sich auf die geschlechtsspezifische Erforschung und Behandlung von Krankheiten. Durch zahlreiche Studien ist inzwischen belegt, dass koronare Erkrankungen bei (jungen) Frauen nicht oder zu spät erkannt werden, wie es eben bei Christina Pingel und ihrer Mutter geschehen ist. Bei Männern hingegen werden psychische Erkrankungen zu wenig in Betracht gezogen.

Wie viel Arbeit hier noch zu tun ist, dass erst seit 2003 in der Berliner Charité Gender Medizin gelehrt wird. In Österreich gibt es seit 2010 einen Lehrstuhl für Gender Medizin in an der MedUni Wien und seit 2014 einen an der MedUni Innsbruck.

Fazit:

Diesem Buch, mit Christina Pingel aufrüttelt und Betroffenen klar macht, dass entsprechende medizinische Hilfe für alle da sein muss, gebe ich gerne 5 Sterne.

Bewertung vom 31.08.2024
Wenn die Welt nach Sommer riecht (eBook, ePUB)
Dutzler, Herbert

Wenn die Welt nach Sommer riecht (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

In diesem Roman begegnen wir Siegfried „Sigi“ und seiner Familie nach „Die Welt war eine Murmel“ und „Die Welt war voller Fragen“ ein drittes Mal. Er schließt nahtlos an die Vorgänger an. Doch lassen sich alle drei Bücher auch völlig unabhängig voneinander lesen, ohne dass man zuvor einen früheren Band gelesen haben muss. Allerdings brächte man sich um einige köstliche Lesestunden, vor allem dann, wenn man selbst ein Kind der Sechziger-Jahre ist.

Zwar lassen sich nicht alle Erinnerungen des 13-jährigen Sigi, der auf dem Land aufwächst, auf Stadtkinder wie mich übertragen, doch teile ich zahlreiche Rückblicke, wie das ständige Rauchen der Erwachsenen. Meine Eltern haben jeweils zwei Packerl Zigaretten geraucht und ich musste meinen Lehrerinnen (reines Mädchengymnasium) immer erklären, dass ich selbst nicht rauche.

Sigi beginnt sich langsam für mehr als nur für die Apollo-Mission und Karl May zu interessieren. Mädchen rücken in seinen Fokus. Er erlebt die erste Zigarette und die erste vom Alkohol verursachte Übelkeit. Die Rivalität zwischen seiner Schwester und ihm wird stärker.

In der Schule, nunmehr vierte Klasse Gymnasium, stellt er nach wie vor neugierige Fragen, die ihm als ungebührliche Kritik ausgelegt werden. Die Erkenntnis, dass nach wie vor zahlreiche alte Nazis in den Schulen unterrichten, führt auch in seiner Schule zu Schülerprotesten, die es, in unterschiedlichen Ausprägungen, überall gegeben hat.

Auch die damaligen gesellschaftlichen Einstellungen innerhalb der Familie, ob Mütter und Ehefrauen „Nur-Hausfrauen“ zu sein haben, oder auch einer Berufstätigkeit nachgehen dürfen, wird an Hand von Sigis Familie sehr gut dargestellt. Sigis Mutter arbeitet Teilzeit in der dörflichen Apotheke, was ihr Mann äußerst argwöhnisch beobachtet. Denn er sieht seine Rolle als „Herr im Haus“ gefährdet, zumal der Apotheker ein allein stehender Mann ist. Sigis Vater greift immer häufiger zur Flasche und fürchtet um seine eigene Bequemlichkeit, wenn er sich das Bier oder die Jause selbst aus der Küche holen muss. Ja, das kenne ich auch aus meiner eigenen Familie sehr gut!

Schmunzeln musste ich an die Versuche, Zimmer zu vermieten. Hier kann Sigi erstmals seine Englisch-Kenntnisse und Kochkünste an englisch sprechenden Feriengästen ausprobieren, als die ein englisches Frühstück wollen.

Auch die Bezeichnung „Gammler“ für jene Studenten, die keinen militärisch kurzen Haarschnitt getragen haben, habe ich noch im Ohr. Darüber haben sich vor allem meine Großeltern ziemlich aufgeregt.

Fazit:

Gerne bin ich mit Sigi in die 1970er-Jahre eingetaucht, auch, wenn die eine oder andere Erinnerung für mich persönlich nicht so angenehm gewesen ist. Aber, das ist eine andere Geschichte. Für die von Sigi gibt es jedenfalls 5 Sterne.

Bewertung vom 30.08.2024
Die Gewalt des Sturms
Johannsen, Anna;Bergsma, Elke

Die Gewalt des Sturms


ausgezeichnet

Dem Ziel ihres geheimen Auftrags, den Maulwurf in der Auricher Dienststelle ausfindung zu machen und ihm das Handwerk zu legen, ist KHK Lina Lübbers noch nicht wirklich näher gekommen. Sie hat zwar die Dossiers über alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erhalten, trotzdem fällt es ihr schwer, einen konkreten Verdacht zu finden. Noch kann sie niemanden ausschließen. Mitten in ihre Überlegungen platz der gewaltsame Tod des örtlichen Notars, der in seiner Kanzlei an einen Stuhl gefesselt gefunden worden ist. Der Tresor ist aufgebrochen und das Büro durchsucht worden.

Nahezu gleichzeitig wird der Inhaber einer kleinen Spedition beim Joggen auf einem Feldweg von einem Auto angefahren und tödlich verletzt liegen gelassen. Um die Aufklärung dieses Tötungsdelikts kümmert sich die interimistische Leiterin des Kommissariats Kea Siefken.

Bei ihren Recherchen stoßen sie auf eine Verbindung zwischen den beiden Toten. Diese Spur führt sie zu jenem niederländischen Clan, der seit längerem versucht, seine Drogengeschäfte in Ostfriesland zu etablieren.

Meine Meinung:

Diese Fortsetzung, der als Trilogie angelegten Mini-Serie hat mir gut gefallen. Ich habe das Buch in einer Nacht gelesen.

Die interessante Schreibweise hat das Autorinnen-Duo beibehalten: Die Handlung wird abwechselnd aus Keas und Linas Perspektive, jeweils in der Ich-Form, geschildert. Eine geschickte, wenn auch zu Beginn irritierende Idee! Nicht immer ist ganz eindeutig, in wessen Haut wir Leser nun stecken. Da ist aufmerksames Lesen notwendig, zumal es noch unausgesprochene Gedanken gibt, die in kursiver Schrift eingeschoben sind. Da ist das eine oder andere Blitzlicht über die oder den Kollegen auch amüsant, weil mitunter fehlinterpretiert.

Die Charaktere sind ausgefeilt und wirken recht authentisch. Die beiden Kommissarinnen sind „g’standene Frauen“, d.h. sie arbeiten doppelt soviel wie ihre männlichen Kollegen und sind sich in manchen Dingen ähnlicher als ihnen lieb ist, bzw. sie ahnen. Allerdings haben beide ihre persönlichen Schicksalspäckchen zu tragen. Die eine, alleinerziehend mit einer pubertierenden Tochter und einem etwas jüngeren Sohn, die sich auf den Ex- Mann und Kindesvater nicht immer verlassen kann und die andere, die ihre jüngere Schwester den Drogentod sterben hat sehen.

Ob die beiden Frauen dem De-Jong-Clan das Handwerk legen können, erfahren wir hoffentlich recht bald. Bis Jahresende soll ja Band drei („Die Kraft der Ebbe“) erscheinen, auf die ich mich sehr freue.

Fazit:

Eine gelungene Fortsetzung dieser Krimi-Reihe, der ich gerne 5 Sterne gebe.

Bewertung vom 29.08.2024
Eine Corsa in Triest
Klinger, Christian

Eine Corsa in Triest


ausgezeichnet

Als Gaetano Lamprecht 1919 in seine Heimatstadt Triest zurückkehrt, ist nichts mehr wie es war. Triest gehört nun zu Italien und alle altösterreichischen Familien werden schikaniert. Sie werden entlassen und sollen aus Triest verschwinden, wie auch die slowenische Bevölkerung. Faschisten und Nationalisten bekämpfen sich gegenseitig, um das Machvakuum zu füllen.

Auch Gaetano darf erst dann wieder als Polizist arbeiten, wenn er Italiener geworden ist. Das führt zu Konflikten mit seiner Familie. Kaum wieder als Polizist im niedrigsten aller Ränge tätig, wird er suspendiert, da man ihn des Mordes bezichtigt.

Wie es zu dem interessanten Titel kommt und welche Rolle ein Elektroauto spielt, müsst ihr selbst lesen.