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Literaturentochter

Bewertungen

Insgesamt 21 Bewertungen
Bewertung vom 02.03.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


gut

»Die Mutter sieht glücklich aus, also, ehrlich glücklich. Aber der Vater? […] Er [Georg] fragt sich, ob er erste Risse zwischen ihnen übersehen hat« (S. 49).


Durch eine fehlgeleitete SMS mit pikantem Inhalt zählt Georg sofort eins und eins zusammen: sein Vater hat eine Affäre! Die Textnachricht beinhaltet einen Treffpunkt – Georg macht sich prompt auf den Weg. Er tauscht sein King-Size-Bett im Grandhotel gegen eine wilde Fahrt von Rijeka (Kroatien) nach München in einem klapprigen Opel Corsa ein. Was er dabei völlig vergisst, ist sein bester Freund Vedad. Dem hat er nämlich das luxuriöse Hotelbett zu verdanken. Vedad heiratet morgen und, so wie es aussieht, ohne seinen Trauzeugen Georg!


»Keine hundert Meter weiter zerdenkt er [Georg] schon wieder dieselbe Scheiße. Wie glücklich sind die Eltern? Hat er sie, um selbst glücklich sein zu können, als die glücklichen Menschen sehen wollen, die sie nie waren?« (S. 72).


Auf der Fahrt hat Georg viel Zeit, sich Gedanken über die Ehe seiner Eltern zu machen. Er will die Ehe der Eltern retten und gleichzeitig versaut er durch diese Hals-über-Kopf-Aktion womöglich die Hochzeit seines besten Freundes Vedad.


Erzählt wird die Geschichte anhand zwei sich abwechselnden Erzählsträngen. Während der gegenwärtige Strang auf der einen Seite nur ein paar Stunden abbildet, begleiten wir Georg auf der anderen Seite durch verschiedene Station in seiner Kindheit und Adoleszenz. Inhaltlich liegt der Fokus hierbei auf familiären Erinnerungen, die wie Tagträume auf einer langen Autofahrt wirken.
Der Schreibstil ist lyrisch, häufig umschreibend. Die Sprache ist klug und humorvoll. Manchmal wirkt Georg, der sich auch im Erwachsenenalter kindliche Glaubensansätze beibehalten hat, beinahe deplatziert durch die bildungsbürgerliche Wortwahl des Autors.


Durch die Rückblenden lernt die Leser:innenschaft Protagonist Georg und sein Verhältnis zu seinen Eltern zwar besser kennen, aber das Buch wird dadurch auch in die Länge gezogen. Der gegenwärtige Erzählstrang rückt mit jeder Anekdote leider noch mehr in den Hintergrund. Hier verschenkt Stefan Sommer potential, da das emotionale Erleben den Fokus eher auf die Erinnerung legt, anstatt sich auf das Hoffen, Zaudern, Wüten und Bangen in der Gegenwart zu konzentrieren.


Optisch gefällt mir das Buch sehr gut. Das Umschlagmotiv zeigt das Bild »Hey, that’s no way to say goodbye« von Nancy Friedland.
Spannend sind die Bezüge zur Astronomie im Text und in der Bezeichnung der drei Kapitel: »Partielle Phase«, »Totale Finsternis« und »Bailysche Perlen«.

Wie bei einer Sonnenfinsternis verdunkelt sich die Geschichte um Georg und seine Familie immer mehr, seine Gedanken werden zunehmend verworrener, erst ganz am Ende funkelt uns die Wahrheit in Papierform entgegen.

Bewertung vom 20.02.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


ausgezeichnet

Einer meiner Lieblingssätze ist »Wir sitzen alle im gleichen Kino und jeder sieht einen anderen Film«. Diese Aussage passt wohl perfekt zum unterschiedlichen Erleben von Valerie und ihrer Mutter Christina. Durch diese unterschiedliche Wahrnehmung, die bereits in der Kindheit für beide spürbar wird, entfernen sich Mutter und Tochter immer weiter voneinander. Im Erwachsenenalter haben sich die beiden nicht mehr viel zu sagen – bis zur Krebsdiagnose der Mutter. Tochter Valerie soll nun eine Stütze für ihre Mutter darstellen, dies fordert Christina immer wieder deutlich ein. Doch Valerie ist selbst Mutter und hat damit genug zu tun. Ihr Sohn Tobi ist 16 Jahre alt und möchte über die Schule ein Jahr im Ausland verbringen. Während Tobi eifrig plant, löst dieses Vorhaben bei Mutter Valerie Sorge aus. Diese emotionale Doppelbelastung bringt Valeries Welt ins wanken.

In knackig kurzen Kapiteln schreibt Felicitas Prokopetz über Mutterschaft und Tochtersein. Dabei sind ihre Figuren greifbar. So sehr ich mich mit Valerie solidarisieren möchte, so sehr verabscheue ich ihre Mutter und noch mehr die männlich gelesenen Charaktere in diesem Buch. Einzige Ausnahme bildet hier Sohn Tobias, dieser genießt Welpenschutz. Alle Frauen* unterliegen streng der stereotypen Rollenverteilung – das Patriachat läuft zur Höchstform auf. Beim Lesen ist ein unangenehmes piksen zu spüren, zum Beispiel wenn von Valeries Freundin Julijana die Rede ist, die erschöpft aus der Küche winkt, während ihr Mann Stefan am Tisch eine heitere Miene auflegt.

»Mit seinem [Stefans] guten Einkommen kauft er sich von allen häuslichen Pflichten frei; dass auch Kinderbetreuung und Haushaltshilfe koordiniert werden müssen dass jemand Lebensmittel einkaufen, Schulsachen kontrollieren und Geburtstagspartys organisieren muss, bereitet ihm kein Kopfzerbrechen« (S. 43).

Die Autorin hält uns einen Spiegel vor: Welche Anforderungen und gesellschaftlichen Erwartungen werden an Frauen* und Mütter gestellt und wie unterscheiden sich diese im Wandel der Zeit. So hat Valeries Oma, im Vergleich zu ihrer Enkelin mit anderen Hürden und Vorurteilen zu kämpfen, als sie sich entscheidet, ihre Kinder alleine großzuziehen. Auch wenn sich der äußere Rahmen verändert, werden dysfunktionale Erziehungsstrukturen und Muster an die nächste Generation weitergegeben. Valeries Mutter Christina ist in ihrer Art schwierig. Warum dies so ist, wird jedoch in den Kapiteln deutlich, in denen Christina noch ein Kind ist – unter der Erziehung ihrer Eltern leidet und es doch nicht schafft, es selbst besser zu machen, als sie Valerie großzieht.

Dieses Buch hat heftig an meinen Emotionen gerüttelt. Puh, was für ein starkes Debüt. Für mich ein absolutes Highlight, welches ich euch krass ans Herz legen möchte. Lest es!

CN: Gewalt, Abtreibung, patriarchale Strukturen.

Bewertung vom 22.12.2023
Das Ende der Unsichtbarkeit
Nguyen, Hami

Das Ende der Unsichtbarkeit


ausgezeichnet

»Anti-asiatischer Rassismus ist ein wichtiger Teil der Rassismusdebatte und darf kein Nischenthema mehr sein, wenn wir gemeinsam für eine gerechtere Welt kämpfen möchten« (S. 216).

Hami Nguyen schreibt in ihrem Buch »Das Ende der Unsichtbarkeit. Warum wir über anti-asiatischen Rassismus sprechen müssen« unter anderem über unfreiwilligen Aktivismus, der aus einer Alternativlosigkeit entstanden ist, räumt mit Mythen und Vorurteilen auf und spielt geschichtliches Hintergrundwissen ein.

Dabei rückt die Autorin ihre eigene Lebensgeschichte immer wieder in den Fokus – Hami Nguyens Mutter flieht mit ihr, als sie gerade mal zwei Jahre alt ist aus Vietnam nach Deutschland. Ihr Leben ist nicht nur durch unmenschliche Situationen bei Behördengängen geprägt, auch Zuhause erlebt die Autorin prekäre Zustände. Ihr Vater ist drogen- und spielsüchtig, da sein Alltag durch eine fehlende Arbeitsstelle perspektivlos wirkt. Die strukturell bedingte Abwärtsspirale nimmt dadurch für die ganze Familie ihren Lauf.

»In der Grundschule merkte ich schnell, das ich in zwei Welten lebte. Zu Hause wurde Vietnamesisch gesprochen, gegessen und gelebt. Zu Hause war ich ein Kind mit Erwachsenenproblemen auf meinen Schultern In der Schule war ich ein Kind, das irgendwie anders war, aber dort ging es einfach nur um mich und meine Bedürfnisse. […] Ich schämte mich für unser Leben zu Hause. […] Das änderte sich im Laufe meiner Kindheit nie« (S. 61).

In Hami Nguyens Buch wird an vielen Stellen deutlich, dass ihre Erlebnisse stellvertretend für viele vietdeutsche Familien stehen können. Nicht nur in ihrer Familie geht es um den Wunsch anzukommen, anstatt sich von Duldung zu Duldung hangeln zu müssen – also alle drei Monate bei der Ausländerbehörde einbestellt zu werden. Erlebtes wird an vielen Stellen des Buches mit Forschungsergebnissen unterfüttert.

Sprachlich ist dieses Buch vielfältig aufgebaut. Zu Beginn setzt sich die Autorin mit diversen Begrifflichkeiten auseinander und definiert diese. Durch die persönlichen Schilderungen erhält die Lektüre eine emotionale Komponente und die stichhaltigen Analysen verleihen dem Gelesenen einen Sachbuchcharakter.

Hami Nguyen liefert ein starkes Sachbuch, zu einer bisher vernachlässigten und verharmlosten Thematik. Ihr Werk ist ein erster Schritt, sich mit anti-asiatischem Rassismus auseinanderzusetzen und in eine Lebensrealität zu blicken, die in Debatten bisher oft ausgeklammert wird.

CN: Rassismus, Diskriminierung, rassistische Gewalt, Polizeigewalt, Mord, Suchterkrankungen, Drogenkonsum, sexualisierte Gewalt.

Bewertung vom 19.11.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


gut

Auf den ersten Seiten des Buches steigen wir in das gegenwärtige Leben von Agnete (48 y/o) ein. Sie lebt in Oslo, gemeinsam mit ihrer 17-Jährigen Tochter aus erster Ehe und ihrem neuen Ehemann, welcher für mehrere Wochen einen Auslandsaufenthalt antritt.

Die Geschichte verlässt nach dem Erhalt einiger weiterer Hintergrundinfos schnell die Gegenwart und taucht in die Agnetes Vergangenheit ab – die Leserschaft wird in das Leben der 20-Jährigen Hauptfigur katapultiert. Zu dieser Zeit lebt Agnete in London und studiert an der School of Economics. Während des Studiums beginnt Agnete eine folgenschwere Affäre mit dem Vater einer Kommilitonin.

»Jetzt bin ich bereit, jetzt ergreife ich die Gelegenheit, obwohl ich nach wie vor nicht weiß, was der Anfang dieser Erzählung ist, und auch das Ende nicht kenne« (S. 14).

Was nun folgt sind einzelne Sequenzen, geschrieben in kurzen Kapiteln. Inhaltlich reichen diese Sequenzen von belanglosen Erzählungen bis hin zu schockierenden Erlebnissen, die im Leben von Agnete stattgefunden haben.
Die Autorin Hilde Rød-Larsen spart nicht an Inhalten, mit denen die Protagonistin fertig werden muss – Machtmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten, Essstörung, Depressionen und sexuelle Übergriffe.

Nicht nur geistig machen Agnete diese Themen zu schaffen, auch körperliche Probleme wie Haarausfall und Hauterkrankungen werden durch die seelische Belastung bemerkbar.

Der Schreibstil von Hilde Rød-Larsen ist klar und gleichzeitig wird deutlich, wie schwer es Agnete fällt über ihre Vergangenheit nachzudenken. Die einzelnen Kapitel wirken wie Tagebucheinträge. Agnetes Unsicherheit tritt mehrmals in den Vordergrund. Mir drängt sich beim Lesen sofort ein Gefühl von »nicht-wahr-haben-wollen« auf, welches Agnete rückblickend auf die Ereignisse verspürt – trotzdem stellt sich die Protagonistin ihren Wunden der Vergangenheit.

»Aber warum konnte ich das nicht einfach ohne Umschweife in mein Tagebuch schreiben, warum musste ich das, was ich erlebte und fühlte, mit diesem ziemlich halbherzigen Schleier der Fiktion verhüllen?« (S. 33/34).

Die Reflexion der eigenen Geschichte führt zu Selbstermächtigung, dies wird in den Erzählungen deutlich. Wunden können langsam heilen und Agnete beantwortet sich dadurch Stück für Stück die zentrale Frage, die dieses Buch aufwirft: »Wie geht es mir eigentlich?«

CN: Machtmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten, Essstörung, Depressionen und sexuelle Übergriffe, #metoo.

Bewertung vom 21.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


sehr gut

Protagonistin Katha(rina), 14 Jahre alt, lebt zusammen mit ihrer Mutter Andrea Lange und ihrer jüngeren Schwester Nadine in Dortmund. Die Eheleute Lange gibt es nicht mehr, sie leben getrennt voneinander. Während Katha als kleines Kind noch Zeugin lüsterne Blicke ihrer Eltern aufeinander war, ebbte die Lust und Leidenschaft mit der Zeit schnell ab und Schwester Nadine war der Versuch die Ehe zu retten. Das Projekt Familie war für die Eltern gescheitert, doch Katha sträubte sich gegen das Auseinanderleben ihrer Eltern.

»Sorgen machte ich mir erst dann, als diese Blicke weniger wurden. So versuchte ich schon in meiner frühesten Kindheit, Momente des Glücks für meine Eltern künstlich zu erzeugen. Ich tüftelte an ihrer Beziehung herum wie eine kleine therapeutische Handwerkerin. […] Je seltener meine Eltern sich mit dem Glücklichen-Blick ansahen, umso heftiger und verzweifelter wurden meine kleinen Pläne […] Eine Festanstellung im Lebenshandwerk, dem selbstlosesten aller Berufszweige, endete nicht nach einem kleinen Misserfolg« (S. 12/13).

Ganz im Gegenteil. Katha hat sich von klein auf in die Rolle der Lebenshandwerkerin eingefunden und gibt diesen Titel auch so schnell nicht mehr ab. Während sie zu Beginn der Story ihr handwerkliches Geschick nur im familiären Umfeld anwendet und sich hier als dritter Elternteil gegenüber ihrer Schwester versteht, weitet sich mit Beginn der Schulzeit der Kreis aus – auch dort betreibt Katha exzessives People Pleasing.

Die Autorin Sina Scherzant versteht es, ihre Figur Katha hinten anstehen zu lassen. Durch die Handlung wird von Beginn an deutlich, wie sich Kathas Lebensalltag verändert – durch das Kümmern, die aufopfernden Gesten und den Willen, das Unwohlsein von Dritten zu verhindern. Die damit verbundene Unsichtbarkeit wird spürbar und wirkt sich auf mich aus. In Windeseile fliege ich nur so durch die Seiten und verfolge gespannt die Geschichte von Katha, ihrer Familie und ihren Freundinnen. Bereits nach ein paar Szenen bin ich begeistert vom Schreibstil und in meinem Hinterkopf wird bereits gejubelt: »Das hier wird sehr gut – ein Lesehighlight. YAY 🙌«

Nicht nur Katha, sondern auch ihre nach und nach immer präsenter werdende Gesprächspartnerin Angelica (Mutter von Jessi, einer Freundin von Katha) schließe ich sofort ins Herz. Durch einen Schicksalsschlag in Angelicas Leben verändert sich auch Katha stark in ihrem Verhalten.

Das Buch ist in drei Kapitel eingeteilt. Der Schreibstil ist für mich im ersten Kapitel anhaltend brillant. Es wird gleich klar, wohin die Autorin möchte, ohne die Spannung dadurch zu drosseln. Das Tempo der Handlungen ist angenehm. Es liest sich wunderbar weg. Wie ich weiter oben schon angedeutet habe – ich bin sehr begeistert. Nach fast 300 Seiten entlässt Sina Scherzant die Leserschaft in das zweite Kapitel, hier ändert sich der Schreibstil. Es wird für meine Geschmack zu anders. Der Bruch – dieses Experiment – nimmt mir meine Euphorie für das Buch. Das letzte Kapitel knüpft vom Niveau wieder an das erste Kapitel an, schafft es aber nicht mehr, meine Euphorie für »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« komplett zurück zu holen.

Ich bleibe zurück mit einem Beinahe-Highlight, bin persönlich ein bisschen traurig darüber, aber freue mich, Bekanntschaft mit so einem tollen Debüt gemacht zu haben. Authentische Figuren, ergreifende Geschichte, mit je einer Prise Humor und Dramatik.

Bewertung vom 16.09.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


gut

»»Wann kommst du endlich nach Iran?«, hatte mein Vater immer am Telefon gefragt. »Ich weiß es nicht, wenn ich mit meinen Prüfungen fertig bin, irgendwann.« Ich hatte immer gerade Prüfungen. Eigentlich hatte ich es nie wirklich vor. Mein Leben lang hatte mich meine Mutter davor gewarnt, in »so ein Land« zu reisen« (S. 10).

Und dann wird aus diesem irgendwann ein jetzt – Ich-Erzählerin Nilufar reist 2016 in den Iran. Ein für sie unbekanntes Land, mit ihr unbekannten Familienmitgliedern. Sie kommt mit vielen offenen Fragen ins Land und erhofft sich Antworten, doch diese fallen fast schon erdrückend oberflächlich aus.
Alle Versuche ein Gespräch zu vertiefen gelingen nicht. Die Kommunikation gestaltet sich als kompliziert, Geheimnisse bleiben und durch die herrschenden Regeln im Iran, mit denen sich die Autorin nicht identifizieren kann, findet ihr Wunsch nach Zugehörigkeit und Identitätsfindung keine Erfüllung.

Der Roman beginnt mit einem zeitlichen Rückblick, in der die Leserschaft Koshrow (Nilufars Vater) im Jahre 1989 in Deutschland begleitet. Innerhalb der Lektüre kommt es immer wieder zu Szenen aus der Vergangenheit, in der Koshrow eine Rolle spielt. Dadurch wird der Wunsch nach einer Intensivierung einer Tochter-Vater-Beziehung deutlich. Nilufars Mutter findet sich im Roman kaum wieder und bleibt somit eine Unbekannte.

Nach der Rückkehr aus dem Iran hätte ich mir mehr Reflexion über die Erlebnisse und Eindrücke gewünscht. Das Buch endet mir hier zu abrupt.
Vor der Reise und teils auch während des Aufenthalts im Iran lässt uns Protagonistin Nilufar an ihren inneren Dialogen teilhaben, auch durch die Kommunikation zu ihrer Partnerin Alex wird ihr emotionales Erleben deutlich. Die Gespräche zwischen ihr und Alex werden jedoch immer seltener. Woran das liegt, bleibt im Verborgenen.

Im Mittelpunkt der Handlung landet dadurch immer wieder Koshrow, der aber selbst in Bezug auf die Gegenwart verschlossen wirkt und lieber Geschichten aus der Vergangenheit preis gibt – über sein berufliches Scheitern in Deutschland und die Rückkehr in den Iran.

Je mehr ich in diesem Buch gelesen habe, desto mehr wird die Zerrissenheit von Nilufar deutlich. In Deutschland erfährt sie Alltagsrassismus, nicht nur von Fremden, sondern auch unterschwellig durch die eigene Partnerin. Im Iran ist die Protagonistin unsicher, weiß nicht, wie sie sich im öffentlichen Raum geben soll. Gleichzeitig kann sie sich nicht vollkommen ihrer gastfreundlichen Verwandtschaft öffnen, ihre romantische Beziehung zu einer Frau bleibt ein Tabuthema.

Die Sprache in diesem Roman ist oftmals lyrisch angehaucht, das Erleben wird greifbar und gleichzeitig bleibe ich am Ende mit offenen Fragen zurück.

CN: Rassismus, Unterdrückung.

Bewertung vom 22.08.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


ausgezeichnet

Eine Silvesternacht in New York: Die britische Kunststudentin Cleo trifft auf Frank, Inhaber einer erfolgreichen Werbeagentur. Die beiden kommen sofort ins Gespräch und lernen sich bei weiteren Treffen noch besser kennen.
Während sich Autorin Coco Mellors im ersten Kapitel ihres Buches »Cleopatra und Frankenstein« auf das Kennenlernen der beiden Protagonisten konzentriert, läuten im zweiten Kapitel – ein halbes Jahr später – die Hochzeitsglocken für die 24-Jährige Cleo und Frank, Mitte vierzig.

»Der Gedanke an ihre Hochzeitsreise macht ihn [Frank] furchtbar traurig. Das war, […] bevor sie sich gegenseitig unwiderruflich wehtun konnten« (S. 357).

Coco Mellors schreibt in ihrem Debütroman nicht nur über die schönen Seiten von Liebe, Familie und (vermeintlicher) Freundschaft, sondern zeigt auch deren Schattenseiten auf. Durch bildkräftige innere Dialoge werden die Gefühle und ebenso die Vulnerabilität der einzelnen Figuren spürbar.

Coco Mellors ist eine Meisterin darin, ihren beiden Protagonisten nach und nach immer weniger Glitzer am Boden der Tatsachen zu gönnen. Unverarbeitete dysfunktionale Familienstrukturen aus der Vergangenheit stören beispielsweise den Umgang des Ehepaars in der Gegenwart. Die Abwärtsspirale nimmt mehr und mehr ihren Lauf.

Während des Lesens verspüre ich eine drückende Stimmung, diese wird nicht nur durch die Handlungen des Protagonistenpärchens erzeugt, sondern auch durch deren Interaktionen mit Nebencharakteren. Auch wenn Cleo und Frank klassisch stereotype Charaktere darstellen, nehmen die beiden unabhängig voneinander für mich immer wieder einen Antihelden-Status ein – Coco Mellors hält nämlich in ihrem Buch einige Wendungen für die Leserschaft bereit.

Ein auf 512 Seiten anhaltend starkes Debüt – atmosphärisch, mit stimmungsvollen Passagen, die zum Mitfühlen einladen. Bin definitiv bereit für die Verfilmung dieses Buchs! Wer Bock auf eine literarische RomCom mit Tiefgang hat, ist hiermit wirklich sehr gut bedient!

CN: Homo- und Transfeindlichkeit, Gewalt, Medikamenten-/Alkohol- und Drogenabusus, suizidale Gedanken, selbstverletzendes Verhalten.

Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn.

Bewertung vom 21.08.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


gut

DIESE REZENSION KANN SPUREN VON SPOILER ENTHALTEN.

„Eine Stunde später, ohne Ergebnis, wurde ich unruhig, fühlte den Stress aufgeschobener Arbeit. Also schaute ich auf den kleinen Cursor und wartete ungeduldig wie ein Kind auf seiner Geburtstagsparty auf die eingeladenen und nicht erscheinenden Worte“ (S. 35).

Leila Amari, ihres Zeichens Drehbuchautorin, hat ihren ersten Deal an Land gezogen und einen Vertrag bei einer großen Produktionsfirma unterschrieben. Durch den Vertrag stehen nun einige inhaltliche Änderungen eines bereits vorhandenen Drehbuchs an, außerdem fehlt das Ende ihres Werks. Normal wäre an dieser Stelle der Zeitpunkt, hochmotiviert den Tag mit Schreiben zu verbringen. Doch Leila steckt fest, das Schreiben will nicht gelingen – komplette Schreibblockade und so beginnt Leila ihre Tage und Nächte mit anderen Inhalten fernab ihres Laptops zu füllen…

„Kurz brüllte ich vor Wut, dann beschloss ich, dass dieser Tag ohnehin versaut war, verschob die heutigen Tasks in meiner Organisations-App auf morgen und ging meine Kontakte durch. Wer würde an einem Mittwoch um 16:00 Uhr Zeit haben. […] „Ich sollte gerade zu Hause sein und ein Ende schreiben, aber ich bin hier und saufe, und eigentlich saufe ich jeden Abend, und nie schreibe ich““ (S. 71-78).

Zu Beginn an verwirrt mich das Buch. Die Zeit verläuft nicht linear, sondern die Kapitel sind abwechselnd in zwei Zeitstränge, von Oktober – Dezember und Januar – Oktober, unterteilt. Am Ende klappe ich das Buch auch irgendwie unzufrieden zu, ABER so richtig angebracht finde ich dieses Gefühl jetzt nicht. Mal mag ich Leila, habe Mitgefühl und Verständnis für sie und ihre Situation, mal nervt sie mich und meine Unzufriedenheit ihr und ihren Handlungen gegenüber wächst wieder. Die Erzählerin wird in einer Phase ihres Lebens begleitet, in der sie versucht, sich zu entwickeln, es aber nicht wirklich schafft.

Nora Haddadas Schreibstil ist intensiv, vor allem nimmt die Autorin die Leserschaft tief in die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin Leila mit. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Art des Schreibens – Nora Haddada fesselt mich mit eindrücklichen und bewegenden inneren Dialogen der Protagonistin, die sich losgelöst von der Haupthandlung auf brillante Art beweisen können.

Ein paar Tage später, ich hab eine Weile gebraucht, mir über das Buch Gedanken zu machen, ist meine Unzufriedenheit vergessen und es bleibt der Eindruck eines Buchs mit einem ausgezeichneten Schreibstil, das inhaltlich ein angenehm zackiges Tempo für die Leserschaft bereit hält und bis zum Ende spannend bleibt.

CN: Alkoholabusus.

Bewertung vom 26.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

»Ich [Émile] glaube am schlimmsten finde ich den Moment, wenn du lachst und dich dann plötzlich erinnerst, was passiert ist. Und dass es dir genauso schlecht geht wie kurz vor diesem Moment. Oder wenn du morgens aufwachst und für eine Sekunde nur diese Beklemmung in der Brust spürst und dich fragst, was los ist, aber dann fällt es dir plötzlich ein, und du fragst dich, wie du den Tag schaffen sollst, wenn er so anfängt« (S. 207).

Léa will eine Auszeit von ihrem Leben in Deutschland nehmen und flüchtet deshalb nach Südfrankreich in das alte Familienanwesen an die Côte d’Azur. Am ersten Abend schleicht sich eine junge Frau ebenfalls auf das Anwesen. Überrascht von Léas Anwesenheit lernen sich die Fremde und Lèa kennen. Am nächsten Tag klingelt es an der Tür des Anwesens. Es ist Émile, ein für Léa ebenfalls Unbekannter. Er berichtet über den Tod seiner Schwester Alice – der fremden Frau des gestrigen Abends. Léa war die letzte Person, die Alice lebend gesehen hat. Gemeinsam versuchen Léa und Èmile offene Fragen zum Tod seiner Schwester zu ergründen.

Die Autorin Anika Landsteiner geht in ihrem Roman nicht nur dem Thema der Trauerbewältigung nach, sondern wirft durch die Interaktion der Protagonisten auch Fragen zur Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewichtung von romantischen Beziehungen und das gegenseitige Begehren innerhalb des eigenen Lebens auf. Dabei vertritt Protagonistin Léa eine feministische Einstellung. Ein weiterer Grund, wieso ich von diesem Buch absolut angetan bin. Neben Léa kommen noch weitere starke Frauenrollen im Buch vor, an dieser Stelle möchte ich jedoch nicht zu viel verraten.

Das Buch teilt sich in zwei Erzählperspektiven auf. Überwiegend kommt eine allwissende Erzählstimme, welche in der Gegenwart spielt, zu Wort. Diese wird jedoch immer wieder von einer Ich-Erzählerin unterbrochen, die die Vergangenheit aufgreift. Wer die Ich-Erzählerin ist, bleibt zu Beginn offen.

»Nachts erzähle ich dir alles« ist ein maximal gefühlvolles Buch, aber trennt sich trotz der Flut an Gefühlen vom Kitsch ab. Zwei weitere Dinge die mir positiv aufgefallen sind: Zu Beginn des Buchs gibt es eine Playlist (Okay, vielleicht doch ein bisschen kitschig!) und das letzte Kapitel (»Les femmes«) des Buchs widmet sich nur den Frauen innerhalb des Buchs. Wenn das kein Highlight ist, dann weiß ich auch nicht!


CN: Machtmissbrauch, Schwangerschaftsabbruch, Tod.

Bewertung vom 28.06.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


sehr gut

Gust verlässt Frieda kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Harriet. Das Sorgerecht teilen sich die beiden und dennoch verläuft das Leben der beiden Elternteile in komplett unterschiedliche Richtungen. Während Gust sich mit seiner neuen Freundin Susanna ein neues Leben aufbaut, läuft es bei Frieda eher schlecht als Recht. Vor allem der berufliche Wiedereinstieg verläuft holprig und Frieda schafft es nicht immer von ihrem Chef gesetzte Fristen einzuhalten. Zusätzlich baut die Erziehung von Harriet (18 Monate alt) Druck auf. Die Gesamtkonstellation lastet schwer auf Friedas Schultern, die Mutter sehnt sich nach einer Auszeit und etwas Ruhe. Eine falsche Entscheidung verändert alles. Frieda lässt Harriet alleine in der Wohnung, um eine Erledigung für die Arbeit zu tätigen. Ihre Überforderung lässt ihr keinen Raum mehr um einen klaren Gedanken zu fassen.

„Frieda erinnert sich an den Frust und die Angst, die sich an diesem Morgen angestaut hatten, an das Bedürfnis nach einem kurzen Augenblick Ruhe. An den meisten Tagen gelingt es ihr, sich aus dieser Stimmung zu befreien“ (S. 23).

An dem Tag an dem Frieda es nicht schafft, sich aus dieser Stimmung zu befreien, schlägt das totalitäre Regime zu, entzieht ihr das Sorgerecht für Tochter Harriet und steckt Frieda in ein Erziehungslager, welches sich als „Institut für gute Mütter“ betitelt.

Jessamine Chan entführt uns im „Institut für gute Mütter“ in eine dystopische Welt, in der Menschlichkeit sehr sehr klein geschrieben wird. Dabei begleiten wir Frieda, die für mich als Figur schwer zu fassen ist. Schnell wird klar, durch die Lebensumstände muss die Protagonistin ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen. Insgesamt läuft gefühlt auch alles schief. Das Buch ist erdrückend und gleichzeitig hat es auch eine witzig-skurrile Art an sich. Diese Mischung hält die Autorin durch das ganze Buch aufrecht, dadurch wird die Lektüre zu einem rasanten Pageturner.

Mich konnte „Institut für gute Mütter“ vor allem überzeugen, da die Verzweiflung deutlich spürbar war und sich mit jeder Seite weiter zuspitzt.

CN: Homophobie, Misogynie, Kindeswohlgefährdung, Gewalt an Minderjährigen, emotionale Unterdrückung, emotionale Gewalt, Gaslighting, Suizid, Rassismus.